Link Williams ist ein gutaussehender und brillanter Dartmouth-Absolvent, der mangels besserer Möglichkeiten für einen afroamerikanischen Mann in den USA der 1950er-Jahre in einer Bar jobbt. Durch den Zufall zusammengebracht, entsteht zwischen Link und »Camilo«, einer wohlhabenden, weißen, verheirateten Frau, eine Beziehung, die gegen die starren und kompromisslosen sozialen Codes ihrer Stadt und ihrer Zeit verstößt.
Petry wirft ein hartes, wahrheitsgetreues Licht auf den Schaden, den »Rasse« und Klasse anrichten. Sie zeigt, wie prägend die Zuordnungen hinsichtlich Geschlechterrollen und »Rasse« sind, sie zeigt die zerstörerische Natur des Boulevardjournalismus und sozialer Stereotype, die bis zum heutigen Tag bestehen. »The Narrows« ist außerdem ein prägnantes Porträt einer Gegend, der Menschen in diesem Viertel: Ann Petry zeichnet unvergessliche, äußerst wichtige Nebenfiguren.
Petry wirft ein hartes, wahrheitsgetreues Licht auf den Schaden, den »Rasse« und Klasse anrichten. Sie zeigt, wie prägend die Zuordnungen hinsichtlich Geschlechterrollen und »Rasse« sind, sie zeigt die zerstörerische Natur des Boulevardjournalismus und sozialer Stereotype, die bis zum heutigen Tag bestehen. »The Narrows« ist außerdem ein prägnantes Porträt einer Gegend, der Menschen in diesem Viertel: Ann Petry zeichnet unvergessliche, äußerst wichtige Nebenfiguren.
Rezensentin Sylvia Staude liest Ann Petrys Roman von 1953 mit Beklemmung. Die in der Geschichte um ein ungleiches Liebes- und Schicksalspaar in Little Harlem behandelten Themen Rassismus und Sexismus sind so aktuell wie eh und je, seufzt Staude. Die Autorin begegnet dem Thema auch ohne Beschönigung, warnt sie. Sinnlich sind die Milieuschilderungen, detailgenau und charakteristisch selbst die Nebenfiguren, so die Rezensentin. Keine sanfte "Frauenliteratur", aber ein wichtiges Buch der ersten wirklich erfolgreichen afroamerikanischen Schriftstellerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude liest Ann Petrys Roman von 1953 mit Beklemmung. Die in der Geschichte um ein ungleiches Liebes- und Schicksalspaar in Little Harlem behandelten Themen Rassismus und Sexismus sind so aktuell wie eh und je, seufzt Staude. Die Autorin begegnet dem Thema auch ohne Beschönigung, warnt sie. Sinnlich sind die Milieuschilderungen, detailgenau und charakteristisch selbst die Nebenfiguren, so die Rezensentin. Keine sanfte "Frauenliteratur", aber ein wichtiges Buch der ersten wirklich erfolgreichen afroamerikanischen Schriftstellerin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2022Ein großes Oratorgium
Ann Petry war die erste afroamerikanische Autorin, die ein Millionenpublikum erreichte. Ihre Wiederentdeckung findet mit dem neu übersetzten Milieu-Roman "The Narrows", der in einer Kleinstadt Neuenglands spielt, den Höhepunkt.
Hauptfiguren sind bei ihr immer die Orte. Mehr als nur ein Schauplatz, sind die Orte keine Bühne, sondern selbst so etwas wie die Handlungsträger der Geschichten, die sie uns erzählt. Deshalb geben sie den Büchern auch die Titel. Drei große Romane hat Ann Petry (1908 bis 1997) geschrieben, Panoramen der neuenglischen Gesellschaft in der entbehrungsreichen Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Folgejahre. Alle drei riskieren Randgänge, die uns auf vielerlei verschlungenen Erzählwegen in abseitige und zumeist verborgene Wirklichkeitswinkel geleiten, die bis dahin literarisch nie erkundet worden sind, und alle drei führen ihren Handlungsort im Titel: "The Street" (1946) spielt in Harlem, wo die Autorin seit Ende der Dreißigerjahre gelebt und als Journalistin gearbeitet hatte; "Country Place" (1947) und "The Narrows" (1953) sind beide in einer Kleinstadt in Connecticut angesiedelt, die an Old Saybrook erinnert, woher die Autorin stammt und wohin sie sich nach dem Sensationserfolg ihres Debütromans wieder zurückzog.
Daher ist es stimmig, dass der Verlag Nagel & Kimche seit zwei Jahren darauf setzt, bei der verdienstvollen Wiederentdeckung dieser bedeutenden Erzählerin - sie war die erste afroamerikanische Autorin, die mit ihrem Werk ein Millionenpublikum erreichte - die englischsprachigen Ortsangaben in den Titeln beizubehalten. "The Narrows", mit dem diese Serie jetzt ihren Höhepunkt findet, ist schon einmal 1955 auf Deutsch erschienen, damals unter dem Titel "Link und Camilo", was seine Geschichte unzulässig auf zwei Figuren verkürzt. Dabei ist deren Schicksal dicht in ein Geflecht vieler weiterer Lebensfäden verwoben, denen der Roman über mehr als 500 Seiten folgt und die sich alle an dem Ort verknäulen, auf dessen Enge schon sein Name weist. Eigentlich bezeichnet "The Narrows" einen Stadtteil, wo sich Generationen von Migranten darum mühten, ihrem Leben einen neuen, weiteren Horizont zu geben und im gelobten Land heimisch zu werden. Doch viele sind dort schon gescheitert und haben andere Bezeichnungen für ihn gesucht: "Das Viertel hatte jetzt verschiedene neue Namen: Die Narrows, Nadelöhr, Ganzunten, Little Harlem, Finstereck, Niggertown, weil Negroes den Platz der früheren Einwanderer - Iren, Italiener und Polen - eingenommen hatten."
Wie in einem mächtigen Kaleidoskop zeigt uns die Erzählerin ständig wechselnde, wenngleich überwiegend düstere Ansichten dieses Orts und lässt uns Einblick nehmen in das Leben seiner Einwohner, zugleich Anteil an den Sehnsüchten, den Aufbruchshoffnungen sowie geheimen Ängsten, die sie sämtlich umtreiben. Da ist Abbie Crunch, eine schwarze Witwe und gestrenge Zimmerwirtin, die niemals Wassermelonen kaufen würde, da sie der Meinung ist, anderenfalls Gefahr zu laufen, einem schwarzen Klischee zu entsprechen; da ist ihr Mieter Malcolm Powther, der bei reichen weißen Herrschaften als vorbildlicher Butler dient und immer alles richtig machen will, bis er dafür sogar tödlichen Verrat übt; da ist Link Williams, Abbies Adoptivsohn, der es aufs Dartmouth College und zur Marineaufklärung geschafft hat und jetzt doch nur in einer zweifelhaften Bar jobbt; da sind Bill Hod, der Barbesitzer und Ersatzvater für Link, Weak Knees, sein Koch und Links treu sorgender Freund, Bullock, der skrupellose Zeitungs- sowie Meinungsmacher, Jubine, der gleichermaßen skrupellose Fotograf, und viele, viele mehr.
Und da ist die junge Frau, die eines Abends in dem Viertel auftaucht und sich Camilo nennt. Erst als Link ihr einen Drink ausgibt, bemerkt er an den Blicken aller anderen in der Bar, dass es etwas Entscheidendes gibt, das beide trennt: die Hautfarbe. Sofort scheint klar, worauf ihre Begegnung hinausläuft. Doch alles, was uns der Roman von diesen beiden jungen Menschen und ihrer Beziehung weiterhin erzählt, fragt fast schon inständig danach, ob es für sie einen Ausweg aus dem Unweigerlichen geben kann.
Dazu werden die Ereignisse zunehmend hitziger und atemloser und steigern sich zum Schluss zu einem veritablen Thriller. Doch so harsch das mörderische Ende wirkt, ist es doch nur die letzte Schlinge, die sich endlich zuzieht und die im Erzählgeflecht, wenn man es aufmerksam zurückverfolgt, schon längst gelegt war. An solchen Einzelheiten spürt man, dass diese Autorin durch die Schule des amerikanischen Naturalismus gegangen ist. Dabei bietet Petry kaum Beschreibungen und kaum erzählerische Schilderungen des Milieus. Das Meisterhafte ihrer Erzählkunst liegt vielmehr darin, alles Atmosphärische ins Bewusstsein der Figuren aufzulösen: Wie bei Faulkner erfahren wir auch hier die Welt stets so, wie die Figuren sie erleben, dialogisch und im Austausch miteinander, in ständig wechselnden Konstellationen und Tonlagen. In einigen der stärksten Szenen wirkt der Erzähltext daher wie ein grandioses Oratorium, mit vielstimmigen Chorpassagen und Rezitativen.
Dass dessen Wucht sich in der deutschen Fassung derart polyphon mitteilt, ist der Übersetzerin zu danken. Pieke Biermann, die auch schon "Country Place", vor einem Jahr erschienen, übersetzt hat, findet für "The Narrows" abermals ebenso starke wie streitbare Lösungen, um den Registerreichtum des African-American Vernacular English ins Deutsche zu bringen. Dabei scheut sie, wie im Nachwort ausdrücklich erklärt, weder vor drastischen Schmähworten zurück, wenn der Kontext sie erfordert, noch vor der Übernahme englischer Vokabeln. Gerade weil das bewusst sperrig klingt - "er hatte das Gefühl, die ganze Zeit die Race mit sich herumzuschleppen", oder "sie mussten ihm ja irgendwie erklären, was es für ihn hieß, ein Negro zu sein" -, hält es das Bewusstsein dafür wach, dass wir einen übersetzten Text lesen, dessen Welt sich den Gegebenheiten unserer heimischen Verhältnisse nicht bruchlos fügt.
Aus dieser Spannung jedoch gewinnt Petrys Roman neue Zugkraft. Wer sich heute auf ihn einlässt, siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, merkt mit wachsender Beklemmung, dass "The Narrows" einen Ort bezeichnet, der noch immer eine Hauptfigur abgibt. TOBIAS DÖRING
Ann Petry:
"The Narrows".
Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Verlag Nagel & Kimche, München 2022. 544 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ann Petry war die erste afroamerikanische Autorin, die ein Millionenpublikum erreichte. Ihre Wiederentdeckung findet mit dem neu übersetzten Milieu-Roman "The Narrows", der in einer Kleinstadt Neuenglands spielt, den Höhepunkt.
Hauptfiguren sind bei ihr immer die Orte. Mehr als nur ein Schauplatz, sind die Orte keine Bühne, sondern selbst so etwas wie die Handlungsträger der Geschichten, die sie uns erzählt. Deshalb geben sie den Büchern auch die Titel. Drei große Romane hat Ann Petry (1908 bis 1997) geschrieben, Panoramen der neuenglischen Gesellschaft in der entbehrungsreichen Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Folgejahre. Alle drei riskieren Randgänge, die uns auf vielerlei verschlungenen Erzählwegen in abseitige und zumeist verborgene Wirklichkeitswinkel geleiten, die bis dahin literarisch nie erkundet worden sind, und alle drei führen ihren Handlungsort im Titel: "The Street" (1946) spielt in Harlem, wo die Autorin seit Ende der Dreißigerjahre gelebt und als Journalistin gearbeitet hatte; "Country Place" (1947) und "The Narrows" (1953) sind beide in einer Kleinstadt in Connecticut angesiedelt, die an Old Saybrook erinnert, woher die Autorin stammt und wohin sie sich nach dem Sensationserfolg ihres Debütromans wieder zurückzog.
Daher ist es stimmig, dass der Verlag Nagel & Kimche seit zwei Jahren darauf setzt, bei der verdienstvollen Wiederentdeckung dieser bedeutenden Erzählerin - sie war die erste afroamerikanische Autorin, die mit ihrem Werk ein Millionenpublikum erreichte - die englischsprachigen Ortsangaben in den Titeln beizubehalten. "The Narrows", mit dem diese Serie jetzt ihren Höhepunkt findet, ist schon einmal 1955 auf Deutsch erschienen, damals unter dem Titel "Link und Camilo", was seine Geschichte unzulässig auf zwei Figuren verkürzt. Dabei ist deren Schicksal dicht in ein Geflecht vieler weiterer Lebensfäden verwoben, denen der Roman über mehr als 500 Seiten folgt und die sich alle an dem Ort verknäulen, auf dessen Enge schon sein Name weist. Eigentlich bezeichnet "The Narrows" einen Stadtteil, wo sich Generationen von Migranten darum mühten, ihrem Leben einen neuen, weiteren Horizont zu geben und im gelobten Land heimisch zu werden. Doch viele sind dort schon gescheitert und haben andere Bezeichnungen für ihn gesucht: "Das Viertel hatte jetzt verschiedene neue Namen: Die Narrows, Nadelöhr, Ganzunten, Little Harlem, Finstereck, Niggertown, weil Negroes den Platz der früheren Einwanderer - Iren, Italiener und Polen - eingenommen hatten."
Wie in einem mächtigen Kaleidoskop zeigt uns die Erzählerin ständig wechselnde, wenngleich überwiegend düstere Ansichten dieses Orts und lässt uns Einblick nehmen in das Leben seiner Einwohner, zugleich Anteil an den Sehnsüchten, den Aufbruchshoffnungen sowie geheimen Ängsten, die sie sämtlich umtreiben. Da ist Abbie Crunch, eine schwarze Witwe und gestrenge Zimmerwirtin, die niemals Wassermelonen kaufen würde, da sie der Meinung ist, anderenfalls Gefahr zu laufen, einem schwarzen Klischee zu entsprechen; da ist ihr Mieter Malcolm Powther, der bei reichen weißen Herrschaften als vorbildlicher Butler dient und immer alles richtig machen will, bis er dafür sogar tödlichen Verrat übt; da ist Link Williams, Abbies Adoptivsohn, der es aufs Dartmouth College und zur Marineaufklärung geschafft hat und jetzt doch nur in einer zweifelhaften Bar jobbt; da sind Bill Hod, der Barbesitzer und Ersatzvater für Link, Weak Knees, sein Koch und Links treu sorgender Freund, Bullock, der skrupellose Zeitungs- sowie Meinungsmacher, Jubine, der gleichermaßen skrupellose Fotograf, und viele, viele mehr.
Und da ist die junge Frau, die eines Abends in dem Viertel auftaucht und sich Camilo nennt. Erst als Link ihr einen Drink ausgibt, bemerkt er an den Blicken aller anderen in der Bar, dass es etwas Entscheidendes gibt, das beide trennt: die Hautfarbe. Sofort scheint klar, worauf ihre Begegnung hinausläuft. Doch alles, was uns der Roman von diesen beiden jungen Menschen und ihrer Beziehung weiterhin erzählt, fragt fast schon inständig danach, ob es für sie einen Ausweg aus dem Unweigerlichen geben kann.
Dazu werden die Ereignisse zunehmend hitziger und atemloser und steigern sich zum Schluss zu einem veritablen Thriller. Doch so harsch das mörderische Ende wirkt, ist es doch nur die letzte Schlinge, die sich endlich zuzieht und die im Erzählgeflecht, wenn man es aufmerksam zurückverfolgt, schon längst gelegt war. An solchen Einzelheiten spürt man, dass diese Autorin durch die Schule des amerikanischen Naturalismus gegangen ist. Dabei bietet Petry kaum Beschreibungen und kaum erzählerische Schilderungen des Milieus. Das Meisterhafte ihrer Erzählkunst liegt vielmehr darin, alles Atmosphärische ins Bewusstsein der Figuren aufzulösen: Wie bei Faulkner erfahren wir auch hier die Welt stets so, wie die Figuren sie erleben, dialogisch und im Austausch miteinander, in ständig wechselnden Konstellationen und Tonlagen. In einigen der stärksten Szenen wirkt der Erzähltext daher wie ein grandioses Oratorium, mit vielstimmigen Chorpassagen und Rezitativen.
Dass dessen Wucht sich in der deutschen Fassung derart polyphon mitteilt, ist der Übersetzerin zu danken. Pieke Biermann, die auch schon "Country Place", vor einem Jahr erschienen, übersetzt hat, findet für "The Narrows" abermals ebenso starke wie streitbare Lösungen, um den Registerreichtum des African-American Vernacular English ins Deutsche zu bringen. Dabei scheut sie, wie im Nachwort ausdrücklich erklärt, weder vor drastischen Schmähworten zurück, wenn der Kontext sie erfordert, noch vor der Übernahme englischer Vokabeln. Gerade weil das bewusst sperrig klingt - "er hatte das Gefühl, die ganze Zeit die Race mit sich herumzuschleppen", oder "sie mussten ihm ja irgendwie erklären, was es für ihn hieß, ein Negro zu sein" -, hält es das Bewusstsein dafür wach, dass wir einen übersetzten Text lesen, dessen Welt sich den Gegebenheiten unserer heimischen Verhältnisse nicht bruchlos fügt.
Aus dieser Spannung jedoch gewinnt Petrys Roman neue Zugkraft. Wer sich heute auf ihn einlässt, siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, merkt mit wachsender Beklemmung, dass "The Narrows" einen Ort bezeichnet, der noch immer eine Hauptfigur abgibt. TOBIAS DÖRING
Ann Petry:
"The Narrows".
Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Verlag Nagel & Kimche, München 2022. 544 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main