"One of the world's preeminent cultural anthropologists leaves a last work that fundamentally reconfigures how we study most other cultures. From the perspective of Western modernity, humanity inhabits a disenchanted cosmos. Gods, spirits, and ancestors have left us for a transcendent beyond, no longer living in our midst and being involved in all matters of everyday life from the trivial to the dire. Yet the vast majority of cultures throughout human history treat spirits as very real persons, members of a cosmic society who interact with humans and control their fate. In most cultures, even today, people are but a small part of an enchanted universe misconstrued by the transcendent categories of "religion" and the "supernatural." The New Science of the Enchanted Universe shows how anthropologists and other social scientists must rethink these cultures of immanence and study them by their own lights.In this, his last, revelatory book, Marshall Sahlins announces a new method and sets an exciting agenda for the field. He takes readers around the world, from Inuit of the Arctic Circle to pastoral Dinka of East Africa, from Arawetâe swidden gardeners of Amazonia to Trobriand Island horticulturalists. In the process, Sahlins sheds new light on classical and contemporary ethnographies that describe these cultures of immanence and reveals how even the apparently mundane, all-too-human spheres of "economics" and "politics" emerge as people negotiate with, and ultimately usurp, the powers of the gods.The New Science of the Enchanted Universe offers a road map for a new practice of anthropology that takes seriously the enchanted universe and its transformations from ancient Mesopotamia to contemporary America"--
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2022Den Geistern zu ihrem Recht verhelfen
Ethnologische Abbitte: Marshall Sahlins bricht in seinem letzten Buch eine Lanze für die nicht westlichen Kosmologien
Geister haben in der Ethnologie für eine bewegte, nicht abgeschlossene Geschichte gesorgt. "Bewegt" deshalb, weil in zahlreichen afrikanischen Sprachen (und im Alten Testament) Geister als Wind, Hauch oder Atem bezeichnet werden, als unsichtbare Kraft oder Macht, die bewegen kann. Als seltsame Zwischenwesen, Quasiobjekte, Unpersonen und als Anwesende ohne Anwesenheit sorgen Geister für die Präsenz radikaler Alterität; sie brechen ins alltägliche Leben ein, bringen Tote zurück und lassen Fremde aus fernen Ländern erscheinen; sie sind mächtig, heilen, schaden und töten, lassen aber meist mit sich reden, wenn sie in einem Kult verehrt und anständig versorgt werden. Sie verwandeln sich, "Ofenröhre wird Katze" (W. Benjamin), und spotten sowohl der Semantik als auch der Ontologie. Tatsächlich haben Geister Ethnologen immer wieder herausgefordert und gezwungen, ihre Kategorien und Theorien zu überdenken.
Von Geistern und Gottheiten handelt auch das letzte Buch von Marshall Sahlins, der voriges Jahr kurz vor seiner Fertigstellung starb (F.A.Z. vom 7. April 2021). Sein Sohn Peter, ein bekannter Historiker, machte es für den Druck fertig.
Sahlins, der in Chicago lehrte und sicherlich zu den besten und streitbarsten Vertretern der nordamerikanischen Ethnologie gehört, stellte als unorthodoxer Marxist und Strukturalist vermeintliche ethnologische Gewissheiten immer wieder infrage und richtete den ethnographischen Blick nicht nur auf fremde Kulturen, sondern ebenso auf die eigene Gesellschaft.
In seinem letzten Buch versucht er nach eigenem Anspruch nichts weniger als eine "Revolutionierung der Anthropologie", die die Rettung indigener Kosmologien vorantreiben und mit einer Kritik an der Wissenschaft verbinden will. Er gliedert die Welt in zwei Teile: zum einen in einen kleineren Teil, der entzaubert wurde und den die Geister im Lauf der Geschichte verlassen haben. Als transzendente Wesen bewohnen sie nun eine andere Welt - das Jenseits. Mit diesem Rückzug überließen sie die Erde allein den Menschen, die zunehmend ruinös mit dem Teil der Schöpfung umgingen, den wir Natur nennen.
Im anderen, größeren Teil der Welt dagegen werden Geister weiterhin als immanente Mächte anerkannt und bestimmen dort das Leben der Menschen. Sahlins baut also eine Opposition zwischen "transzendentalistischen Gesellschaften" und "immanentalistischen Gesellschaften" auf, und in bester ethnologischer Tradition verteidigt er die Letzteren und konvertiert sogar zum "Immanentalisten". Dabei dient ihm Giambattista Vico als Vorbild, der in seiner "Neuen Wissenschaft" von 1744 sein eigenes transzendentalistisches Milieu verlassen und die Ontologien immanentalistischer Kulturen (an-)erkannt habe. Sahlins' Ziel: Geister nach ihren eigenen immanenten Voraussetzungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sie gemäß ihren eigenen Ontologien darzustellen.
Zweifellos trifft er hier den wunden Punkt der modernen Ethnologie, die sich seit Bronislaw Malinowski verpflichtet hat, "the native's point of view" zum Ausdruck zu bringen, aber wenn Geister ins Spiel kamen, diese als Fiktionen abtat und sie entmächtigte. Tatsächlich trieben gerade Geister immer wieder Risse in das ethnographische Unternehmen. Sie markierten eine Grenze, jenseits derer die Effekte der Mächte gefühlt und erlitten wurden, aber im wissenschaftlichen Diskurs nicht Anerkennung fanden, sodass das ethnologische Unternehmen selbst als eine Art Zauber gegen die Effekte und Affekte erschien, die Geister erzeugen können.
Um das "verzauberte Universum" mit seinen zahlreichen Kosmologien vorzustellen, breitet Sahlins ein beeindruckend umfassendes ethnographisches Wissen aus. Dabei folgt er dem Vorbild von Sir James Frazers "Der Goldene Zweig" und springt in wilder Folge auf der ganzen Welt hin und her, nach Südamerika, Afrika, die Südsee und Asien, wo immer Geister und Menschen interagieren, sich in Träumen und Ritualen begegnen, manchmal sogar heiraten und gemeinsame Kinder haben. Sahlins zeigt, wie im verzauberten Universum nicht nur Geister, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge als Subjekte und Personen anerkannt werden. Die Gegensätze Materie/Geist, natürlich/übernatürlich, profan/sakral und Natur/Kultur existieren dort nicht.
In Umkehrung der darwinschen Entwicklungsfolge stehen in immanenten Kosmologien meist die Menschen am Anfang, die sich dann in einem langen Prozess in Tiere, Pflanzen und Dinge ausdifferenzieren. Wenn jedoch alles aus Menschen hervorgeht, löst sich die westliche Trennung von Natur und Kultur auf; alles ist Kultur und irgendwie menschlich, ist Person, und noch dazu verwandelbar. Es gibt eine Einheit des Seins und gleichzeitig eine Vielfalt von Wesen, deren Physis aber nicht stabil ist.
Sahlins wirbt für eine neue Form des Animismus, der alle Kreaturen, manchmal sogar Steine, als handlungsmächtig und gleichberechtigt annimmt und ihnen den Respekt zollt, der ihnen im Westen als Teil der Natur versagt blieb. Er privilegiert eine nicht anthropozentrische Welt und optiert für die Indigenisierung von westlichen Epistemologien, die als eine unter mehreren gleichberechtigten Weisen der Weltwahrnehmung angesehen werden.
Diese Indigenisierung beginnt freilich nicht mit Sahlins. Man kann sie bei Marcel Mauss anfangen und über Bruno Latour, Donna Haraway, Marilyn Strathern, Alfred Gell, Philippe Descola und Eduardo Viveiros de Castro bei Sahlins (vorläufig) enden lassen - nicht als linearen Prozess, sondern eher als Kaleidoskop unterschiedlicher ethnologischer Positionen.
Es hat jedoch nicht nur eine Indigenisierung westlicher Epistemologien stattgefunden; auch die indigenen Gesellschaften haben sich vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen in ihren Kosmologien zunehmend an die umweltbewegte westliche Rhetorik angepasst, wie de Castro und Déborah Danowski anmerkten (F.A.Z. vom 4. Mai 2019). Viele der indigenen Lebenswelten sind schon lange Teil einer rekursiven, globalisierten und kommerzialisierten Welt, in der ihre Kosmologien - mit ethnischen Labels versehen - sich als radikale Alterität im Rahmen von (Öko-)Tourismus, neuer Spiritualität und indigener Kunst verkaufen.
Welcher Geist hat Sahlins angetrieben? Vor dem Hintergrund von Umwelt- und Klimakrise, der Anthropozändebatte, der Zerstörung indigener Kulturen und zahlreicher Dystopien über das Ende der Welt ist seine neue Wissenschaft vom verzauberten Universum vor allem ein Versuch der akademischen Wiedergutmachung: Im Nachwort erkennt er Götter und Geister (nochmals) explizit als real an. Die Menschen hätten Götter und Geister nicht einfach imaginiert, sondern die empirisch erfahrbaren Mächte, die ihr Leben bestimmen, objektiviert und personalisiert, um mit ihnen verhandeln zu können. Gegen die Austreibung des Pathos aus der westlichen Philosophie folgt er Godfrey Lienhardts Geister-Theorie der "Passiones", in "Divinity and Experience" (1961), und setzt auf das Erleiden, den inversen Aspekt des Handelns, dem Geister Anerkennung und Ausdruck verleihen. HEIKE BEHREND
Marshall Sahlins: "The New Science of the Enchanted Universe". An Anthropology of Most of Humanity.
Princeton University Press, Princeton 2022. 208 S., geb., 29,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ethnologische Abbitte: Marshall Sahlins bricht in seinem letzten Buch eine Lanze für die nicht westlichen Kosmologien
Geister haben in der Ethnologie für eine bewegte, nicht abgeschlossene Geschichte gesorgt. "Bewegt" deshalb, weil in zahlreichen afrikanischen Sprachen (und im Alten Testament) Geister als Wind, Hauch oder Atem bezeichnet werden, als unsichtbare Kraft oder Macht, die bewegen kann. Als seltsame Zwischenwesen, Quasiobjekte, Unpersonen und als Anwesende ohne Anwesenheit sorgen Geister für die Präsenz radikaler Alterität; sie brechen ins alltägliche Leben ein, bringen Tote zurück und lassen Fremde aus fernen Ländern erscheinen; sie sind mächtig, heilen, schaden und töten, lassen aber meist mit sich reden, wenn sie in einem Kult verehrt und anständig versorgt werden. Sie verwandeln sich, "Ofenröhre wird Katze" (W. Benjamin), und spotten sowohl der Semantik als auch der Ontologie. Tatsächlich haben Geister Ethnologen immer wieder herausgefordert und gezwungen, ihre Kategorien und Theorien zu überdenken.
Von Geistern und Gottheiten handelt auch das letzte Buch von Marshall Sahlins, der voriges Jahr kurz vor seiner Fertigstellung starb (F.A.Z. vom 7. April 2021). Sein Sohn Peter, ein bekannter Historiker, machte es für den Druck fertig.
Sahlins, der in Chicago lehrte und sicherlich zu den besten und streitbarsten Vertretern der nordamerikanischen Ethnologie gehört, stellte als unorthodoxer Marxist und Strukturalist vermeintliche ethnologische Gewissheiten immer wieder infrage und richtete den ethnographischen Blick nicht nur auf fremde Kulturen, sondern ebenso auf die eigene Gesellschaft.
In seinem letzten Buch versucht er nach eigenem Anspruch nichts weniger als eine "Revolutionierung der Anthropologie", die die Rettung indigener Kosmologien vorantreiben und mit einer Kritik an der Wissenschaft verbinden will. Er gliedert die Welt in zwei Teile: zum einen in einen kleineren Teil, der entzaubert wurde und den die Geister im Lauf der Geschichte verlassen haben. Als transzendente Wesen bewohnen sie nun eine andere Welt - das Jenseits. Mit diesem Rückzug überließen sie die Erde allein den Menschen, die zunehmend ruinös mit dem Teil der Schöpfung umgingen, den wir Natur nennen.
Im anderen, größeren Teil der Welt dagegen werden Geister weiterhin als immanente Mächte anerkannt und bestimmen dort das Leben der Menschen. Sahlins baut also eine Opposition zwischen "transzendentalistischen Gesellschaften" und "immanentalistischen Gesellschaften" auf, und in bester ethnologischer Tradition verteidigt er die Letzteren und konvertiert sogar zum "Immanentalisten". Dabei dient ihm Giambattista Vico als Vorbild, der in seiner "Neuen Wissenschaft" von 1744 sein eigenes transzendentalistisches Milieu verlassen und die Ontologien immanentalistischer Kulturen (an-)erkannt habe. Sahlins' Ziel: Geister nach ihren eigenen immanenten Voraussetzungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sie gemäß ihren eigenen Ontologien darzustellen.
Zweifellos trifft er hier den wunden Punkt der modernen Ethnologie, die sich seit Bronislaw Malinowski verpflichtet hat, "the native's point of view" zum Ausdruck zu bringen, aber wenn Geister ins Spiel kamen, diese als Fiktionen abtat und sie entmächtigte. Tatsächlich trieben gerade Geister immer wieder Risse in das ethnographische Unternehmen. Sie markierten eine Grenze, jenseits derer die Effekte der Mächte gefühlt und erlitten wurden, aber im wissenschaftlichen Diskurs nicht Anerkennung fanden, sodass das ethnologische Unternehmen selbst als eine Art Zauber gegen die Effekte und Affekte erschien, die Geister erzeugen können.
Um das "verzauberte Universum" mit seinen zahlreichen Kosmologien vorzustellen, breitet Sahlins ein beeindruckend umfassendes ethnographisches Wissen aus. Dabei folgt er dem Vorbild von Sir James Frazers "Der Goldene Zweig" und springt in wilder Folge auf der ganzen Welt hin und her, nach Südamerika, Afrika, die Südsee und Asien, wo immer Geister und Menschen interagieren, sich in Träumen und Ritualen begegnen, manchmal sogar heiraten und gemeinsame Kinder haben. Sahlins zeigt, wie im verzauberten Universum nicht nur Geister, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge als Subjekte und Personen anerkannt werden. Die Gegensätze Materie/Geist, natürlich/übernatürlich, profan/sakral und Natur/Kultur existieren dort nicht.
In Umkehrung der darwinschen Entwicklungsfolge stehen in immanenten Kosmologien meist die Menschen am Anfang, die sich dann in einem langen Prozess in Tiere, Pflanzen und Dinge ausdifferenzieren. Wenn jedoch alles aus Menschen hervorgeht, löst sich die westliche Trennung von Natur und Kultur auf; alles ist Kultur und irgendwie menschlich, ist Person, und noch dazu verwandelbar. Es gibt eine Einheit des Seins und gleichzeitig eine Vielfalt von Wesen, deren Physis aber nicht stabil ist.
Sahlins wirbt für eine neue Form des Animismus, der alle Kreaturen, manchmal sogar Steine, als handlungsmächtig und gleichberechtigt annimmt und ihnen den Respekt zollt, der ihnen im Westen als Teil der Natur versagt blieb. Er privilegiert eine nicht anthropozentrische Welt und optiert für die Indigenisierung von westlichen Epistemologien, die als eine unter mehreren gleichberechtigten Weisen der Weltwahrnehmung angesehen werden.
Diese Indigenisierung beginnt freilich nicht mit Sahlins. Man kann sie bei Marcel Mauss anfangen und über Bruno Latour, Donna Haraway, Marilyn Strathern, Alfred Gell, Philippe Descola und Eduardo Viveiros de Castro bei Sahlins (vorläufig) enden lassen - nicht als linearen Prozess, sondern eher als Kaleidoskop unterschiedlicher ethnologischer Positionen.
Es hat jedoch nicht nur eine Indigenisierung westlicher Epistemologien stattgefunden; auch die indigenen Gesellschaften haben sich vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen in ihren Kosmologien zunehmend an die umweltbewegte westliche Rhetorik angepasst, wie de Castro und Déborah Danowski anmerkten (F.A.Z. vom 4. Mai 2019). Viele der indigenen Lebenswelten sind schon lange Teil einer rekursiven, globalisierten und kommerzialisierten Welt, in der ihre Kosmologien - mit ethnischen Labels versehen - sich als radikale Alterität im Rahmen von (Öko-)Tourismus, neuer Spiritualität und indigener Kunst verkaufen.
Welcher Geist hat Sahlins angetrieben? Vor dem Hintergrund von Umwelt- und Klimakrise, der Anthropozändebatte, der Zerstörung indigener Kulturen und zahlreicher Dystopien über das Ende der Welt ist seine neue Wissenschaft vom verzauberten Universum vor allem ein Versuch der akademischen Wiedergutmachung: Im Nachwort erkennt er Götter und Geister (nochmals) explizit als real an. Die Menschen hätten Götter und Geister nicht einfach imaginiert, sondern die empirisch erfahrbaren Mächte, die ihr Leben bestimmen, objektiviert und personalisiert, um mit ihnen verhandeln zu können. Gegen die Austreibung des Pathos aus der westlichen Philosophie folgt er Godfrey Lienhardts Geister-Theorie der "Passiones", in "Divinity and Experience" (1961), und setzt auf das Erleiden, den inversen Aspekt des Handelns, dem Geister Anerkennung und Ausdruck verleihen. HEIKE BEHREND
Marshall Sahlins: "The New Science of the Enchanted Universe". An Anthropology of Most of Humanity.
Princeton University Press, Princeton 2022. 208 S., geb., 29,- Euro.
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