Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2013Was beim Blick in die Hölle geschieht
Adam Johnson hat das rätselhafteste Land der Welt zum Thema seines Romans "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" gemacht: Nordkorea. Doch was macht dieses Thema mit dem Buch?
Dieser Roman hat vor zwei Wochen den Pulitzerpreis gewonnen. Nicht, dass das literarisch allzu viel bedeuten müsste - die Jury der wichtigsten amerikanischen Publizistikauszeichnung legt mehr Wert auf vollsaftige umfangreiche Handlungen als auf feinziselierte Prosa. Aber das eine schließt das andere auch nicht aus, wie die Preise für Michael Chabons "Unglaubliche Abenteuer von Kavalier & Clay" (2001), Jeffrey Eugenides' "Middlesex" (2003) oder Cormac McCarthys "Die Straße" (2007) in jüngerer Zeit bewiesen haben. Und als im vergangenen Jahr in der Buchkategorie "Fiction" gar nichts für preiswürdig gehalten wurde, zeigte die Pulitzer-Jury seltene Konsequenz.
Umso mehr Interesse findet der diesjährige Siegertitel, Adam Johnsons "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do", den Suhrkamp schon lange vor der Entscheidung eingekauft hatte, so dass der Roman pünktlich zum Preis in der flüssigen Übersetzung von Anke Caroline Burger auf Deutsch erhältlich ist. Er spielt in Nordkorea, und allein das hätte ihm schon Neugier gesichert, denn noch immer ist das kommunistische Regime der Kim-Dynastie der bestabgeschottete Staat auf Erden.
Jeder Einblick in diese Welt, und sei er auch fiktiv, darf Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, zumal in einem Moment, wo sich die mehr als sechzig Jahre währende Krise zwischen Nord- und Südkorea wieder einmal zuspitzt. Das wird Adam Johnson für das Missgeschick entschädigt haben, dass der Diktator Kim Jong-il, zu dessen Regierungszeit die Handlung spielt, kurz vor Abschluss der sechsjährigen Arbeit am Buch starb. Natürlich wäre es noch spektakulärer gewesen, wenn das zeitlich nur vage bestimmbare Geschehen auf die unmittelbare Gegenwart hätte bezogen werden können.
Der Originaltitel lautet "The Orphan Master's Son" (Der Sohn des Waisenhausaufsehers), was einen anderen Akzent setzt, der für das, was im Buch passiert, nicht unbedeutend ist. Der vom deutschen Titel benannte Jun Do nämlich tritt strenggenommen nur im ersten Teil des Buches auf, der mit einer lapidaren Feststellung endet, die das bisher Erzählte auf den Kopf stellt: "Und dann trat er in seinen neuen Stiefeln durch die Tür, hinaus in einen bedeutungslosen Ort, und an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do."
Das ist wahr und falsch zugleich und ein souveräner Kunstgriff von Johnson, denn im zweiten, längeren Teil des Romans kehrt sein Held unter anderem Namen zurück. Nun ist er Kommandant Ga, eine der wichtigsten, zugleich aber intern auch umstrittensten Stützen des Regimes. Es soll hier nicht der Platz sein zu verraten, wie dieser Persönlichkeitstausch ins Werk gesetzt wird. Nur so viel: Das Buch entleiht sich bei der nordkoreanischen Realität deren Aberwitz im Zurechtbiegen von Fakten. Was wie ein Märchen anmutet, kann man in repressiven Systemen allemal als Wirklichkeit verkaufen (in der Literatur auch), und aus der resultierenden Ambivalenz bei Wissenden und Getäuschten zieht "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" das Grundmovens seiner Handlung.
Jun Do, so viel ist nachvollziehbar an der deutschen Übersetzung des Titels, ist der Sohn des Waisenhausaufsehers, aber wie schon dieses Faktum verrät, ist er kein Waise. Das ist einer der Clous der Erzählung, denn der Vater zieht seinen Sohn in dem seiner Kontrolle unterstellten Waisenhaus auf, nachdem die Mutter unter dubiosen Umständen die Familie verlassen hat. Oder sagen wir eher: verlassen musste, denn es handelte sich um eine schöne Sängerin in der nordkoreanischen Provinz, und attraktive Frauen vom Lande pflegen dort in die Hauptstadt abgeordert zu werden, um verdienten Männern der politischen Führung zur Verfügung zu stehen.
Der Sohn nun durchläuft im Waisenhaus den ersten Kreis der Hölle Nordkoreas. Waisen sind Spiel- oder zynischer gesprochen: Dämmmaterial für den Staat, das überall eingesetzt wird, wo es brennt. Und da Jun Dos Vater geheimhalten will, dass es sein Sohn ist, den er da auf Staatskosten versorgen lässt, schikaniert er ihn besonders und setzt ihn den staatlichen Begehrlichkeiten aus. Jun Do wird zum Waisen gemacht, und ist damit faktisch vogelfrei.
So wird er in ein Sondereinsatzkommando gepresst (zweiter Kreis der Hölle), das durch ein grenzüberschreitendes Tunnelsystem die Eroberung des Südens vorbereitet, und die dabei schmerzhaft erworbene Befähigung zum Kämpfen im Dunkeln wird ihn noch mehrfach retten. Er nimmt an Entführungsaktionen in Japan teil (dritter Kreis) und lernt dabei das Entsetzen der Verschleppten kennen. Er dient als Abhörspezialist auf einem Fischerboot (vierter Kreis) und verfällt den Funksprüchen zweier amerikanischer Frauen, die im Ruderboot die Welt umrunden wollen. Er wird Teil einer Delegation, die einen texanischen Senator besucht. Mit Amerika betritt er keinen weiteren Kreis der Hölle, sondern eine Welt, in der er nichts versteht. Und als er zurückkehrt in die Hölle, versteht er die nicht mehr, und das ist richtig höllisch.
All dies passiert im ersten Teil, und man sieht schon, dass dabei alles andere entsteht als ein Binnenporträt von Nordkorea. Johnson war zwar zur Recherche dort, ist aber vorsichtig genug, nicht allzu viel Szenisches zu bieten. Keine Rede ist in diesem Buch vom üblichen Nordkorea-Klischee der Großchoreographien auf den Arirang-Festivals, und die Hauptstadt Pjöngjang, die im ersten Teil wie das zentrale Böse ständig nur umkreist wird, ist zwar Hauptschauplatz im zweiten Teil, aber im Mittelpunkt des Buchs stehen individuelle Schicksale, nie die vom Regime forcierten Massenbewegungen.
So gesehen ist Johnsons Buch ein widerständiges, eines, das Nordkorea einen Zerrspiegel vorhält. Aber natürlich ist das Buch für Amerikaner geschrieben, und deshalb sind die beiden Ruderinnen, deren eine sich später in Nordkorea wiederfinden wird, und die Entourage des texanischen Senators von ebenso großer Wichtigkeit wie alle Nordkoreaner - mit Ausnahme eben Jun Dos beziehungsweise des Kommandanten Ga. Und mit Ausnahme von dessen Frau Sun Moon, der persönlichen Lieblingsschauspielerin von Kim Jong-il. Sie und Ga werden im zweiten Teil zum Liebespaar, das in seiner weitgehend asexuellen Faszination füreinander eine wirkliche Neuerung in der Literatur darstellt. Für diese Liebe lohnt die Lektüre.
Ansonsten lohnt sie nicht nur nicht, sie schockiert, denn es ist auch ein widerwärtiges Buch. Dass er mit Jun Do einen nordkoreanischen Simplizissimus geschaffen hat, dürfte Johnson nicht gewusst haben. Hätte er es gewusst, müsste er an Grimmelshausen gelernt haben, wie man höchste Grausamkeit in burleske Episoden einbaut, ohne dabei geschmacklos zu sein. Aber in Johnsons Roman wird gefoltert, gemetzelt, verstümmelt, dass es einem beim Lesen graust, doch dieses Grauen wird noch größer durch den Eindruck, dass der Autor diese unfassbaren Quälereien mit einer Beiläufigkeit einbaut, die nicht aus dem Bemühen um Distanz entsteht, sondern aus Pflichterfüllung. Er tritt als literarischer Folterknecht auf, der die Konsequenzen seines Tuns wohl mit dem Verweis auf die eigene Zwangslage abtun würde - moderne Romane testen eben die Grenzen aus. Dass Johnson dafür belohnt wird, ist unbegreiflich. Das Buch selbst ist nicht schrecklich, aber das Leseerlebnis ist es.
ANDREAS PLATTHAUS
Adam Johnson: "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 687 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Adam Johnson hat das rätselhafteste Land der Welt zum Thema seines Romans "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" gemacht: Nordkorea. Doch was macht dieses Thema mit dem Buch?
Dieser Roman hat vor zwei Wochen den Pulitzerpreis gewonnen. Nicht, dass das literarisch allzu viel bedeuten müsste - die Jury der wichtigsten amerikanischen Publizistikauszeichnung legt mehr Wert auf vollsaftige umfangreiche Handlungen als auf feinziselierte Prosa. Aber das eine schließt das andere auch nicht aus, wie die Preise für Michael Chabons "Unglaubliche Abenteuer von Kavalier & Clay" (2001), Jeffrey Eugenides' "Middlesex" (2003) oder Cormac McCarthys "Die Straße" (2007) in jüngerer Zeit bewiesen haben. Und als im vergangenen Jahr in der Buchkategorie "Fiction" gar nichts für preiswürdig gehalten wurde, zeigte die Pulitzer-Jury seltene Konsequenz.
Umso mehr Interesse findet der diesjährige Siegertitel, Adam Johnsons "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do", den Suhrkamp schon lange vor der Entscheidung eingekauft hatte, so dass der Roman pünktlich zum Preis in der flüssigen Übersetzung von Anke Caroline Burger auf Deutsch erhältlich ist. Er spielt in Nordkorea, und allein das hätte ihm schon Neugier gesichert, denn noch immer ist das kommunistische Regime der Kim-Dynastie der bestabgeschottete Staat auf Erden.
Jeder Einblick in diese Welt, und sei er auch fiktiv, darf Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, zumal in einem Moment, wo sich die mehr als sechzig Jahre währende Krise zwischen Nord- und Südkorea wieder einmal zuspitzt. Das wird Adam Johnson für das Missgeschick entschädigt haben, dass der Diktator Kim Jong-il, zu dessen Regierungszeit die Handlung spielt, kurz vor Abschluss der sechsjährigen Arbeit am Buch starb. Natürlich wäre es noch spektakulärer gewesen, wenn das zeitlich nur vage bestimmbare Geschehen auf die unmittelbare Gegenwart hätte bezogen werden können.
Der Originaltitel lautet "The Orphan Master's Son" (Der Sohn des Waisenhausaufsehers), was einen anderen Akzent setzt, der für das, was im Buch passiert, nicht unbedeutend ist. Der vom deutschen Titel benannte Jun Do nämlich tritt strenggenommen nur im ersten Teil des Buches auf, der mit einer lapidaren Feststellung endet, die das bisher Erzählte auf den Kopf stellt: "Und dann trat er in seinen neuen Stiefeln durch die Tür, hinaus in einen bedeutungslosen Ort, und an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do."
Das ist wahr und falsch zugleich und ein souveräner Kunstgriff von Johnson, denn im zweiten, längeren Teil des Romans kehrt sein Held unter anderem Namen zurück. Nun ist er Kommandant Ga, eine der wichtigsten, zugleich aber intern auch umstrittensten Stützen des Regimes. Es soll hier nicht der Platz sein zu verraten, wie dieser Persönlichkeitstausch ins Werk gesetzt wird. Nur so viel: Das Buch entleiht sich bei der nordkoreanischen Realität deren Aberwitz im Zurechtbiegen von Fakten. Was wie ein Märchen anmutet, kann man in repressiven Systemen allemal als Wirklichkeit verkaufen (in der Literatur auch), und aus der resultierenden Ambivalenz bei Wissenden und Getäuschten zieht "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" das Grundmovens seiner Handlung.
Jun Do, so viel ist nachvollziehbar an der deutschen Übersetzung des Titels, ist der Sohn des Waisenhausaufsehers, aber wie schon dieses Faktum verrät, ist er kein Waise. Das ist einer der Clous der Erzählung, denn der Vater zieht seinen Sohn in dem seiner Kontrolle unterstellten Waisenhaus auf, nachdem die Mutter unter dubiosen Umständen die Familie verlassen hat. Oder sagen wir eher: verlassen musste, denn es handelte sich um eine schöne Sängerin in der nordkoreanischen Provinz, und attraktive Frauen vom Lande pflegen dort in die Hauptstadt abgeordert zu werden, um verdienten Männern der politischen Führung zur Verfügung zu stehen.
Der Sohn nun durchläuft im Waisenhaus den ersten Kreis der Hölle Nordkoreas. Waisen sind Spiel- oder zynischer gesprochen: Dämmmaterial für den Staat, das überall eingesetzt wird, wo es brennt. Und da Jun Dos Vater geheimhalten will, dass es sein Sohn ist, den er da auf Staatskosten versorgen lässt, schikaniert er ihn besonders und setzt ihn den staatlichen Begehrlichkeiten aus. Jun Do wird zum Waisen gemacht, und ist damit faktisch vogelfrei.
So wird er in ein Sondereinsatzkommando gepresst (zweiter Kreis der Hölle), das durch ein grenzüberschreitendes Tunnelsystem die Eroberung des Südens vorbereitet, und die dabei schmerzhaft erworbene Befähigung zum Kämpfen im Dunkeln wird ihn noch mehrfach retten. Er nimmt an Entführungsaktionen in Japan teil (dritter Kreis) und lernt dabei das Entsetzen der Verschleppten kennen. Er dient als Abhörspezialist auf einem Fischerboot (vierter Kreis) und verfällt den Funksprüchen zweier amerikanischer Frauen, die im Ruderboot die Welt umrunden wollen. Er wird Teil einer Delegation, die einen texanischen Senator besucht. Mit Amerika betritt er keinen weiteren Kreis der Hölle, sondern eine Welt, in der er nichts versteht. Und als er zurückkehrt in die Hölle, versteht er die nicht mehr, und das ist richtig höllisch.
All dies passiert im ersten Teil, und man sieht schon, dass dabei alles andere entsteht als ein Binnenporträt von Nordkorea. Johnson war zwar zur Recherche dort, ist aber vorsichtig genug, nicht allzu viel Szenisches zu bieten. Keine Rede ist in diesem Buch vom üblichen Nordkorea-Klischee der Großchoreographien auf den Arirang-Festivals, und die Hauptstadt Pjöngjang, die im ersten Teil wie das zentrale Böse ständig nur umkreist wird, ist zwar Hauptschauplatz im zweiten Teil, aber im Mittelpunkt des Buchs stehen individuelle Schicksale, nie die vom Regime forcierten Massenbewegungen.
So gesehen ist Johnsons Buch ein widerständiges, eines, das Nordkorea einen Zerrspiegel vorhält. Aber natürlich ist das Buch für Amerikaner geschrieben, und deshalb sind die beiden Ruderinnen, deren eine sich später in Nordkorea wiederfinden wird, und die Entourage des texanischen Senators von ebenso großer Wichtigkeit wie alle Nordkoreaner - mit Ausnahme eben Jun Dos beziehungsweise des Kommandanten Ga. Und mit Ausnahme von dessen Frau Sun Moon, der persönlichen Lieblingsschauspielerin von Kim Jong-il. Sie und Ga werden im zweiten Teil zum Liebespaar, das in seiner weitgehend asexuellen Faszination füreinander eine wirkliche Neuerung in der Literatur darstellt. Für diese Liebe lohnt die Lektüre.
Ansonsten lohnt sie nicht nur nicht, sie schockiert, denn es ist auch ein widerwärtiges Buch. Dass er mit Jun Do einen nordkoreanischen Simplizissimus geschaffen hat, dürfte Johnson nicht gewusst haben. Hätte er es gewusst, müsste er an Grimmelshausen gelernt haben, wie man höchste Grausamkeit in burleske Episoden einbaut, ohne dabei geschmacklos zu sein. Aber in Johnsons Roman wird gefoltert, gemetzelt, verstümmelt, dass es einem beim Lesen graust, doch dieses Grauen wird noch größer durch den Eindruck, dass der Autor diese unfassbaren Quälereien mit einer Beiläufigkeit einbaut, die nicht aus dem Bemühen um Distanz entsteht, sondern aus Pflichterfüllung. Er tritt als literarischer Folterknecht auf, der die Konsequenzen seines Tuns wohl mit dem Verweis auf die eigene Zwangslage abtun würde - moderne Romane testen eben die Grenzen aus. Dass Johnson dafür belohnt wird, ist unbegreiflich. Das Buch selbst ist nicht schrecklich, aber das Leseerlebnis ist es.
ANDREAS PLATTHAUS
Adam Johnson: "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 687 S., geb., 22,95 [Euro].
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Excavates the very meaning of love and sacrifice New York Times