"The Pale King" remained unfinished at the time of Wallace's death, but it is a deeply compelling and satisfying novel, hilarious and fearless and as original as anything Wallace ever undertook, grappling with questions about the value of work.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2011Jedes Partikel eine Quelle der Inspiration
In seinem nachgelassenen Romanfragment "The Pale King" entwirft David Foster Wallace eine Jahrhundertfigur: einen Mann, der sich nicht langweilen kann.
Von Clemens J. Setz
In David Foster Wallaces Romanfragment "The Pale King", das im April im amerikanischen Verlag Little, Brown erschien, gibt es eine Figur, die sich, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, als neue archetypische Figur in die Weltliteratur einfügen müsste. Allerdings ist sie nur eine Nebenfigur, sie lebt gerade einmal 65 Seiten lang, für die Dauer des magischen Kapitels "§46" gegen Ende des Buches. Ihr Name: Shane Drinion. Eine Gestalt aus einem Denkuniversum, das erst in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren entstehen konnte, ein Konzentrationsgespenst, abstrakt und unmenschlich und dabei gleichzeitig intim und vertraut wie die eigenen fünf Sinne.
Aber diese Figur wird wahrscheinlich übersehen werden, Shane Drinion wird sich zu den anderen Bewohnern des Romans gesellen. Denn er fügt sich mühelos unter seinen Gefährten ein, die ja alle in gewisser Hinsicht dasselbe Problem haben: Langeweile. Über diese Tatsache wurde bereits beim Erscheinen des Buches ausführlich berichtet (F.A.Z. vom 6. April). Die einzelnen, miteinander nur lose zusammenhängenden Kapitel des Buches konzentrieren sich auf verschiedene Spielarten menschlicher Reaktionen auf Langeweile, auf Strategien, mit ihr umzugehen, Auswege, Träumereien. Sogar eine Figur namens David Wallace begegnet ihr, in einigen selbstironisch auf hohen Fußnotenwellen daherschwimmenden Kapiteln, er sieht Menschen in Räumen, die unbeweglich auf ein Blatt Papier starren, ein Blick in den innersten Kreis der Hölle. Wir lernen ihn und andere Angestellte der Steuerbehörde in Peoria, Illinois (IRS), als Kinder, Jugendliche und Studenten kennen, wir erleben Besuche von Gespenstern, die selbst noch im Jenseits über das Konzept der Langeweile nachgrübeln, wir erleben unkontrolliert schwitzende und sich manisch selbst beobachtende Menschen in Orientierungs- und Einführungsgesprächen, stille Zusammenbrüche in Nebenzimmern, nur flüchtig beobachtet von Mitarbeitern, schreckliche Kindheitstraumata aus einer trostlosen Trailer-Park-Existenz, widerhallend in stillen Büroräumen.
All das ist eine gute Vorbereitung des Lesers auf das Kapitel "§46". Es spielt in einem Lokal namens "Meibeyer's", in das viele IRS-Angestellte nach der Arbeit gehen, und es besteht fast ausschließlich aus dem Gespräch zwischen Drinion und einer gewissen Meredith Rand. Nachdem ich es fünfmal, einmal davon sogar laut, gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass es - wenn, wie gesagt, alles mit rechten Dingen zugeht - als eines der Glanzstücke amerikanischer Prosa in die Literaturgeschichte eingehen wird. In seiner enigmatischen Pracht ist es auf einer Stufe mit Benjys Kapitel in William Faulkners "The Sound and the Fury", der Liebesszene in Harold Brodkeys "Innocence" und der kleinen Geschichte von der unsterblichen Glühbirne "Byron" in Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow".
Shane Drinion gilt als "a very solid Fats and S corp examiner but a total lump in terms of personality, possibly the dullest human being currently alive". Das Auftreten dieses womöglich fadesten lebenden Menschen wirkt unbeteiligt, aber immer konzentriert. Er hört jedem, der spricht, mit gleicher Aufmerksamkeit zu. Ihm gegenüber sitzt Meredith Rand, eine Angestellte der "Problem Resolution"-Abteilung. Sie ist eine umwerfend hübsche Frau, die genau weiß, dass alle Männer im Raum gequälte Blicke auf sie werfen. Sie beginnt ein Gespräch mit Drinion. Small Talk, nichts Besonderes. Sie spielt vielleicht ein bisschen mit ihm, erzählt ihm, dass sie ihn interessant findet. Gerade ihn, der nie von irgendjemandem interessant gefunden wird. Er registriert es als Kompliment - und analysiert auf eine respektvolle, freundliche Art die Beweggründe, die sie haben könnte, ihm so etwas zu sagen.
Schnell nimmt das Gespräch eine merkwürdig übergenaue Dimension an, jedes Detail der Unterhaltung selbst, ihre sich ständig ändernden Parameter, der Inhalt der Bemerkungen, Fragen, Andeutungen von Meredith Rand werden von Drinion mit behutsamer, intensiver Aufmerksamkeit verfolgt. Er kann diese Aufmerksamkeit auf praktisch alles richten. Er fragt nach. Wenn irgendein Detail ihm Verständnisschwierigkeiten bereitet oder sich Merediths traumatische Lebensgeschichte, die sie relativ bald vor ihm ausbreitet, im Kreis zu drehen beginnt, weiß er, wie er damit umgehen muss, um weiter im Netz der Zusammenhänge schwimmen zu können wie ein Fisch im Wasser: ",Is this boring?' - Drinion responds: ,The major part of it isn't, no.' - ,What part of it is boring?' - ,Boring isn't a very good term. Certain parts you tend to repeat or say over again only in a slightly different way. These parts add no new information, so these parts require more work to pay attention to.'"
Während des Gesprächs beginnt Drinion leicht zu schweben. Das passiert ihm immer, wenn er vollkommen "immersed", also versunken ist, es ist ihm gar nicht bewusst. Manchmal schwebt er kopfüber über einer Steuererklärung, die er zu prüfen hat. Vielleicht verrenkt sich an dieser Stelle der Leser ein wenig und wittert eine Art moderner Heiligenerzählung. Möglicherweise ist das auch David Foster Wallaces Intention gewesen.
Sein Shane Drinion ist eine Art Anti-Bartleby. Melvilles Jahrhundertfigur verhält sich zur Welt vor allem durch ihre berühmt gewordene Zauberformel "I would prefer not to". Mit seinem "Ich möchte lieber nicht" schält der Kanzleischreiber Bartleby sich langsam aus der Welt heraus, bis er in planetarer Abgeschiedenheit und Nacktheit irgendwo in einem völlig unwichtigen Eck des Universums seine letzten Tage verbringt. Shane Drinions Zauberformel dagegen könnte lauten: "Is there some extra information I need to understand this?", also: "Benötige ich noch irgendeine zusätzliche Information, um das hier zu verstehen?"
Shane Drinions Gespräch mit Meredith Rand, so majestätisch, präzise und überraschend in seiner stillen Skurrilität es auch ist, erscheint als eine Art Testlauf für die verstörende, in ihren unkonzentriertesten Augenblicken durchaus an Selbsthilfesentenzen erinnernde These des Romans, nämlich dass ein menschliches Wesen, das durch nichts mehr gelangweilt werden kann, das "unboreable" ist, als einziges einen wirklichen Unterschied in der Welt bewirken kann. Drinion ist die Verkörperung dieser Erkenntnis (wenn es denn tatsächlich eine ist), der Crashtest-Dummy für das Programm des Romans: das Studium menschlicher Aufmerksamkeit und Konzentration im Angesicht totaler Sinnlosigkeit.
"To be immersed", völlig versunken sein, nennt Wallace diesen Zustand. Es ist das exakte Gegenteil jener Grunderfahrung, die das Werk von David Foster Wallace (vor allem den Roman "Unendlicher Spaß" und einige seiner großen Essays) prägte: jener bekannte Augenblick, der vielleicht irgendwann in den siebziger Jahren, vielleicht aber auch schon früher, zum ersten Mal beobachtet wurde: das epileptische Protestgebrüll, gefolgt von inständigem Flehen und Betteln, in das Kinder verfallen, deren Fernsehgerät von den Eltern plötzlich, ohne Vorwarnung, sozusagen aus dem Hinterhalt, abgeschaltet wird. Der plötzliche kalte Entzug des Bewusstseins von hypnotischen, überwältigend interessanten Dingen. Wallace erkennt diesen Entzug überall, in "Unendlicher Spaß" wird er ins Fraktal-Unendliche aufgesplittert, durchzieht die Lebensgeschichten von Süchtigen und jungen Hochleistungssportlern. Auch die Männer und Frauen der Steuerbehörde von Peoria, Illinois, kennen ihn. Aber sie werden von ihrem Erfinder durch ihn hindurchgeschickt, auf die andere Seite.
Wir dürfen uns Drinion als glücklichen Menschen vorstellen, der entdeckt, dass jenseits der Langeweile pure Lebensfreude liegt, "constant bliss in every atom". So steht es in den von Wallaces Lektor Michael Pietsch zusammengestellten "Notes and Asides" am Ende des Buches. Eine Gebrauchsanleitung also für besseres Leben, für Freude? Wäre dies alles, würde man den Autor des Kapitels "§46" vielleicht als eine Art Hermann Hesse der Postmoderne abtun können, der seinen Lesern Weisheit zu spenden vermag. Auch die als "This is Water" postum als Buch veröffentlichte Rede kommt einem in den Sinn, die David Foster Wallace im Jahr am Kenyon College vor der Abschlussklasse des Jahres 2005 gehalten hat und in der er ein Überlebenspaket formuliert, das genau mit dem Drinionschen Zustand zu tun hat: die bewusst gesteuerte Aufmerksamkeit. Das Ablegen von Standardreflexen. Okay, das ist es also, könnte man sagen. Das Kapitel "§46" spielt dieses Konzept eben noch einmal durch, die totale Immersion von Drinion wird untersucht, wir unternehmen eine Bergwerksfahrt mit Taschenlampen und Grubenhelmen in diesen Zustand.
Aber das ist Gott sei Dank nicht alles. Meredith Rands Beichte über ihr verkorkstes Leben ist eine jener Geschichten, wie man sie oft von schrankenlosen Menschen erzählt bekommt - und für Shane Drinion ist sie wahrscheinlich eine unvergessliche Epiphanie, so wie es die Überprüfung einer Steuererklärung sein kann. Und hier wird es - wie gesagt: Gott sei Dank - sehr seltsam. Denn trotz all der Rezepte für "constant bliss in every atom" stellt die körperliche Existenz von Shane Drinion dem Leser unentwegt die Frage: Gut, das mit der bewusst gesteuerten Aufmerksamkeit mag ja stimmen, aber was, wenn man diesen Bewusstseinszustand - unboreable, unlangweilbar - tatsächlich erreichen würde? Die John Cageschen Zweierpotenzen, in denen man eine unerträglich uninteressante Tätigkeit wiederholt hat, haben funktioniert, man ist in-der-Welt, jedes Partikelchen ist interessant, eine Quelle von Inspiration und Erkenntnis. Wäre das womöglich die absolute Hölle?
Ein wenig von dieser Möglichkeit, ein Schatten, der in diese Richtung zu weisen schient, liegt über dem Kapitel. Und gerade das macht es zu dem ungewöhnlichen Kunstwerk, das es ist. Denn sie wartet also auf beiden Seiten: auf der Seite der entertainment junkies, für die jede langweilige, monotone Situation schon einen dramatischen Entzug bedeutet, ebenso wie auf der Seite der totalen Immersion, der mönchischen Versenkung in die Kunst der bewusst gesteuerten Aufmerksamkeit. Am Ende des Immersions-Regenbogens wartet die einsame Sinnlosigkeit dieses Glücks. Das totale Glück, die Freude über jedes langweilige Atom, bedeutet einen Zustand, der im Grunde vom Tod nurmehr durch Haarspalterei unterschieden werden kann. Das zeigt David Foster Wallace, möglicherweise weniger absichtlich und thesengesteuert, als man ihm unterstellen möchte, in der Figur von Shane Drinion. Erst ab der dritten oder vierten Lektüre des Kapitels habe ich vor ihm Angst bekommen, dafür allerdings eine unendliche, alles andere aus dem Weg räumende Angst. Er ist in diesem Zustand gefangen, er wird nie wieder auf die Erde zurückkommen, er ist fertig, bald wird er vielleicht vollkommen leer sein, erleuchtet, was auch immer. Die Welt kann ihm nichts mehr anhaben. Es ist ihm alles, absolut alles zuzutrauen.
Denn das ist das beste case scenario im Leben, tatsächlich alles, was wir tun können, scheint seine Existenz zu sagen: glücklich sein über jedes Atom, sich für alles interessieren. Mehr geht nicht. Man könnte schreien. Dabei ist es nicht einmal ein banales Glück, bei dem man das dumme Grinsen immer auf dem eigenen Gesicht vermuten kann und im stillen, faustischen Teil des Bewusstseins dagegen revoltiert und zurück in den Konflikt, in die Langeweile, die tödliche Monotonie drängt. Nein, es ist tatsächlich der Zustand eines voll ausgelasteten Bewusstseins, Aufmerksamkeit und Sinn. Mehr geht tatsächlich nicht? Schrecklich: zu sehen, wozu man auf Erden als menschliches Ding verdammt ist. Dafür also sind die Quastenflosser einst aus ihren Urzeittümpeln gekrochen und haben gelernt, Luft zu atmen. Wer weiß, wozu Shane Drinion noch fähig gewesen wäre im weiteren Verlauf dieses Romans, der leider unsichtbar geblieben ist?
Der Schriftsteller Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, wurde bekannt mit dem Roman "Die Frequenzen" (2009). Für seinen Erzählungsband "Die Liebe in Zeiten des Mahlstädter Kindes" erhielt er im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse.
David Foster Wallace: "The Pale King".
Little, Brown and Company, New York 2011. 560 S., geb., 27,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem nachgelassenen Romanfragment "The Pale King" entwirft David Foster Wallace eine Jahrhundertfigur: einen Mann, der sich nicht langweilen kann.
Von Clemens J. Setz
In David Foster Wallaces Romanfragment "The Pale King", das im April im amerikanischen Verlag Little, Brown erschien, gibt es eine Figur, die sich, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, als neue archetypische Figur in die Weltliteratur einfügen müsste. Allerdings ist sie nur eine Nebenfigur, sie lebt gerade einmal 65 Seiten lang, für die Dauer des magischen Kapitels "§46" gegen Ende des Buches. Ihr Name: Shane Drinion. Eine Gestalt aus einem Denkuniversum, das erst in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren entstehen konnte, ein Konzentrationsgespenst, abstrakt und unmenschlich und dabei gleichzeitig intim und vertraut wie die eigenen fünf Sinne.
Aber diese Figur wird wahrscheinlich übersehen werden, Shane Drinion wird sich zu den anderen Bewohnern des Romans gesellen. Denn er fügt sich mühelos unter seinen Gefährten ein, die ja alle in gewisser Hinsicht dasselbe Problem haben: Langeweile. Über diese Tatsache wurde bereits beim Erscheinen des Buches ausführlich berichtet (F.A.Z. vom 6. April). Die einzelnen, miteinander nur lose zusammenhängenden Kapitel des Buches konzentrieren sich auf verschiedene Spielarten menschlicher Reaktionen auf Langeweile, auf Strategien, mit ihr umzugehen, Auswege, Träumereien. Sogar eine Figur namens David Wallace begegnet ihr, in einigen selbstironisch auf hohen Fußnotenwellen daherschwimmenden Kapiteln, er sieht Menschen in Räumen, die unbeweglich auf ein Blatt Papier starren, ein Blick in den innersten Kreis der Hölle. Wir lernen ihn und andere Angestellte der Steuerbehörde in Peoria, Illinois (IRS), als Kinder, Jugendliche und Studenten kennen, wir erleben Besuche von Gespenstern, die selbst noch im Jenseits über das Konzept der Langeweile nachgrübeln, wir erleben unkontrolliert schwitzende und sich manisch selbst beobachtende Menschen in Orientierungs- und Einführungsgesprächen, stille Zusammenbrüche in Nebenzimmern, nur flüchtig beobachtet von Mitarbeitern, schreckliche Kindheitstraumata aus einer trostlosen Trailer-Park-Existenz, widerhallend in stillen Büroräumen.
All das ist eine gute Vorbereitung des Lesers auf das Kapitel "§46". Es spielt in einem Lokal namens "Meibeyer's", in das viele IRS-Angestellte nach der Arbeit gehen, und es besteht fast ausschließlich aus dem Gespräch zwischen Drinion und einer gewissen Meredith Rand. Nachdem ich es fünfmal, einmal davon sogar laut, gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass es - wenn, wie gesagt, alles mit rechten Dingen zugeht - als eines der Glanzstücke amerikanischer Prosa in die Literaturgeschichte eingehen wird. In seiner enigmatischen Pracht ist es auf einer Stufe mit Benjys Kapitel in William Faulkners "The Sound and the Fury", der Liebesszene in Harold Brodkeys "Innocence" und der kleinen Geschichte von der unsterblichen Glühbirne "Byron" in Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow".
Shane Drinion gilt als "a very solid Fats and S corp examiner but a total lump in terms of personality, possibly the dullest human being currently alive". Das Auftreten dieses womöglich fadesten lebenden Menschen wirkt unbeteiligt, aber immer konzentriert. Er hört jedem, der spricht, mit gleicher Aufmerksamkeit zu. Ihm gegenüber sitzt Meredith Rand, eine Angestellte der "Problem Resolution"-Abteilung. Sie ist eine umwerfend hübsche Frau, die genau weiß, dass alle Männer im Raum gequälte Blicke auf sie werfen. Sie beginnt ein Gespräch mit Drinion. Small Talk, nichts Besonderes. Sie spielt vielleicht ein bisschen mit ihm, erzählt ihm, dass sie ihn interessant findet. Gerade ihn, der nie von irgendjemandem interessant gefunden wird. Er registriert es als Kompliment - und analysiert auf eine respektvolle, freundliche Art die Beweggründe, die sie haben könnte, ihm so etwas zu sagen.
Schnell nimmt das Gespräch eine merkwürdig übergenaue Dimension an, jedes Detail der Unterhaltung selbst, ihre sich ständig ändernden Parameter, der Inhalt der Bemerkungen, Fragen, Andeutungen von Meredith Rand werden von Drinion mit behutsamer, intensiver Aufmerksamkeit verfolgt. Er kann diese Aufmerksamkeit auf praktisch alles richten. Er fragt nach. Wenn irgendein Detail ihm Verständnisschwierigkeiten bereitet oder sich Merediths traumatische Lebensgeschichte, die sie relativ bald vor ihm ausbreitet, im Kreis zu drehen beginnt, weiß er, wie er damit umgehen muss, um weiter im Netz der Zusammenhänge schwimmen zu können wie ein Fisch im Wasser: ",Is this boring?' - Drinion responds: ,The major part of it isn't, no.' - ,What part of it is boring?' - ,Boring isn't a very good term. Certain parts you tend to repeat or say over again only in a slightly different way. These parts add no new information, so these parts require more work to pay attention to.'"
Während des Gesprächs beginnt Drinion leicht zu schweben. Das passiert ihm immer, wenn er vollkommen "immersed", also versunken ist, es ist ihm gar nicht bewusst. Manchmal schwebt er kopfüber über einer Steuererklärung, die er zu prüfen hat. Vielleicht verrenkt sich an dieser Stelle der Leser ein wenig und wittert eine Art moderner Heiligenerzählung. Möglicherweise ist das auch David Foster Wallaces Intention gewesen.
Sein Shane Drinion ist eine Art Anti-Bartleby. Melvilles Jahrhundertfigur verhält sich zur Welt vor allem durch ihre berühmt gewordene Zauberformel "I would prefer not to". Mit seinem "Ich möchte lieber nicht" schält der Kanzleischreiber Bartleby sich langsam aus der Welt heraus, bis er in planetarer Abgeschiedenheit und Nacktheit irgendwo in einem völlig unwichtigen Eck des Universums seine letzten Tage verbringt. Shane Drinions Zauberformel dagegen könnte lauten: "Is there some extra information I need to understand this?", also: "Benötige ich noch irgendeine zusätzliche Information, um das hier zu verstehen?"
Shane Drinions Gespräch mit Meredith Rand, so majestätisch, präzise und überraschend in seiner stillen Skurrilität es auch ist, erscheint als eine Art Testlauf für die verstörende, in ihren unkonzentriertesten Augenblicken durchaus an Selbsthilfesentenzen erinnernde These des Romans, nämlich dass ein menschliches Wesen, das durch nichts mehr gelangweilt werden kann, das "unboreable" ist, als einziges einen wirklichen Unterschied in der Welt bewirken kann. Drinion ist die Verkörperung dieser Erkenntnis (wenn es denn tatsächlich eine ist), der Crashtest-Dummy für das Programm des Romans: das Studium menschlicher Aufmerksamkeit und Konzentration im Angesicht totaler Sinnlosigkeit.
"To be immersed", völlig versunken sein, nennt Wallace diesen Zustand. Es ist das exakte Gegenteil jener Grunderfahrung, die das Werk von David Foster Wallace (vor allem den Roman "Unendlicher Spaß" und einige seiner großen Essays) prägte: jener bekannte Augenblick, der vielleicht irgendwann in den siebziger Jahren, vielleicht aber auch schon früher, zum ersten Mal beobachtet wurde: das epileptische Protestgebrüll, gefolgt von inständigem Flehen und Betteln, in das Kinder verfallen, deren Fernsehgerät von den Eltern plötzlich, ohne Vorwarnung, sozusagen aus dem Hinterhalt, abgeschaltet wird. Der plötzliche kalte Entzug des Bewusstseins von hypnotischen, überwältigend interessanten Dingen. Wallace erkennt diesen Entzug überall, in "Unendlicher Spaß" wird er ins Fraktal-Unendliche aufgesplittert, durchzieht die Lebensgeschichten von Süchtigen und jungen Hochleistungssportlern. Auch die Männer und Frauen der Steuerbehörde von Peoria, Illinois, kennen ihn. Aber sie werden von ihrem Erfinder durch ihn hindurchgeschickt, auf die andere Seite.
Wir dürfen uns Drinion als glücklichen Menschen vorstellen, der entdeckt, dass jenseits der Langeweile pure Lebensfreude liegt, "constant bliss in every atom". So steht es in den von Wallaces Lektor Michael Pietsch zusammengestellten "Notes and Asides" am Ende des Buches. Eine Gebrauchsanleitung also für besseres Leben, für Freude? Wäre dies alles, würde man den Autor des Kapitels "§46" vielleicht als eine Art Hermann Hesse der Postmoderne abtun können, der seinen Lesern Weisheit zu spenden vermag. Auch die als "This is Water" postum als Buch veröffentlichte Rede kommt einem in den Sinn, die David Foster Wallace im Jahr am Kenyon College vor der Abschlussklasse des Jahres 2005 gehalten hat und in der er ein Überlebenspaket formuliert, das genau mit dem Drinionschen Zustand zu tun hat: die bewusst gesteuerte Aufmerksamkeit. Das Ablegen von Standardreflexen. Okay, das ist es also, könnte man sagen. Das Kapitel "§46" spielt dieses Konzept eben noch einmal durch, die totale Immersion von Drinion wird untersucht, wir unternehmen eine Bergwerksfahrt mit Taschenlampen und Grubenhelmen in diesen Zustand.
Aber das ist Gott sei Dank nicht alles. Meredith Rands Beichte über ihr verkorkstes Leben ist eine jener Geschichten, wie man sie oft von schrankenlosen Menschen erzählt bekommt - und für Shane Drinion ist sie wahrscheinlich eine unvergessliche Epiphanie, so wie es die Überprüfung einer Steuererklärung sein kann. Und hier wird es - wie gesagt: Gott sei Dank - sehr seltsam. Denn trotz all der Rezepte für "constant bliss in every atom" stellt die körperliche Existenz von Shane Drinion dem Leser unentwegt die Frage: Gut, das mit der bewusst gesteuerten Aufmerksamkeit mag ja stimmen, aber was, wenn man diesen Bewusstseinszustand - unboreable, unlangweilbar - tatsächlich erreichen würde? Die John Cageschen Zweierpotenzen, in denen man eine unerträglich uninteressante Tätigkeit wiederholt hat, haben funktioniert, man ist in-der-Welt, jedes Partikelchen ist interessant, eine Quelle von Inspiration und Erkenntnis. Wäre das womöglich die absolute Hölle?
Ein wenig von dieser Möglichkeit, ein Schatten, der in diese Richtung zu weisen schient, liegt über dem Kapitel. Und gerade das macht es zu dem ungewöhnlichen Kunstwerk, das es ist. Denn sie wartet also auf beiden Seiten: auf der Seite der entertainment junkies, für die jede langweilige, monotone Situation schon einen dramatischen Entzug bedeutet, ebenso wie auf der Seite der totalen Immersion, der mönchischen Versenkung in die Kunst der bewusst gesteuerten Aufmerksamkeit. Am Ende des Immersions-Regenbogens wartet die einsame Sinnlosigkeit dieses Glücks. Das totale Glück, die Freude über jedes langweilige Atom, bedeutet einen Zustand, der im Grunde vom Tod nurmehr durch Haarspalterei unterschieden werden kann. Das zeigt David Foster Wallace, möglicherweise weniger absichtlich und thesengesteuert, als man ihm unterstellen möchte, in der Figur von Shane Drinion. Erst ab der dritten oder vierten Lektüre des Kapitels habe ich vor ihm Angst bekommen, dafür allerdings eine unendliche, alles andere aus dem Weg räumende Angst. Er ist in diesem Zustand gefangen, er wird nie wieder auf die Erde zurückkommen, er ist fertig, bald wird er vielleicht vollkommen leer sein, erleuchtet, was auch immer. Die Welt kann ihm nichts mehr anhaben. Es ist ihm alles, absolut alles zuzutrauen.
Denn das ist das beste case scenario im Leben, tatsächlich alles, was wir tun können, scheint seine Existenz zu sagen: glücklich sein über jedes Atom, sich für alles interessieren. Mehr geht nicht. Man könnte schreien. Dabei ist es nicht einmal ein banales Glück, bei dem man das dumme Grinsen immer auf dem eigenen Gesicht vermuten kann und im stillen, faustischen Teil des Bewusstseins dagegen revoltiert und zurück in den Konflikt, in die Langeweile, die tödliche Monotonie drängt. Nein, es ist tatsächlich der Zustand eines voll ausgelasteten Bewusstseins, Aufmerksamkeit und Sinn. Mehr geht tatsächlich nicht? Schrecklich: zu sehen, wozu man auf Erden als menschliches Ding verdammt ist. Dafür also sind die Quastenflosser einst aus ihren Urzeittümpeln gekrochen und haben gelernt, Luft zu atmen. Wer weiß, wozu Shane Drinion noch fähig gewesen wäre im weiteren Verlauf dieses Romans, der leider unsichtbar geblieben ist?
Der Schriftsteller Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, wurde bekannt mit dem Roman "Die Frequenzen" (2009). Für seinen Erzählungsband "Die Liebe in Zeiten des Mahlstädter Kindes" erhielt er im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse.
David Foster Wallace: "The Pale King".
Little, Brown and Company, New York 2011. 560 S., geb., 27,99 [Euro].
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One of the strangest, saddest, most haunting things I've ever read Guardian