Sonderling.
Alles beginnt an einem Tag im Frühling, als Rose neun wird und ihre Mutter ihr einen Zitronenkuchen backt. Die Kostprobe mutiert zum Schock-Erlebnis, denn der Kuchen schmeckt nicht nur nach Butter, Zitronen, Schokolade und anderen realen Zutaten, sondern auch nach etwas Unbegreiflichem, Metaphysischem - nämlich nach der inneren Leere, der geistigen Abwesenheit der Mutter. Was zunächst wie eine Einbildung scheint und bisweilen sogar als Essstörung verdächtigt wird, entpuppt sich als Gabe: Rose kann im Essen die emotionale Verfasstheit jener schmecken, die die jeweiligen Lebensmittel hergestellt oder verarbeitet haben. Fortan werden die Mahlzeiten für Rose zu einer gustatorischen Achterbahnfahrt, die mit einer ständigen unfreiwilligen Reizüberflutung einhergeht: der geballte Zorn, der zwischen den Hälften eines Sandwiches steckt, die Zerstreutheit eines Restes Karamellpudding, die Schuldgefühle, die ein Roastbeef verderben. Die Nahrungsaufnahme mutiert zur unkalkulierbaren Expedition in fremde Gefühlswelten und Rose zur Emotionsspionin wider Willen. Nur in wenigen Momenten erfährt sie Trost - etwa in einem Marmeladentoast voller Zuneigung, den der Freund gemacht hat, für den sie heimlich schwärmt.
Der Leser begleitet die Protagonistin bis ins junge Erwachsenenalter und erlebt, wie Rose im Laufe der Jahre an Souveränität gewinnt. Anstatt ihre zunächst kaum mitteilbare und bisweilen furchteinflößende Gabe zu leugnen, lernt sie, damit zu leben und Nutzen daraus zu ziehen. Als junge Frau stellt Rose schließlich fest, dass sie nicht die Einzige in ihrer Familie mit einem besonderen Talent ist. Auch ihr wortkarger Vater und der quasi autistische Bruder verbergen geheimnisvolle Extravaganzen. Im Gegensatz zu Rose schaffen sie es aber nicht, Begabung und Alltag gelingend zu vereinen. Nur Rose erreicht auf ihre Weise die Synthese durch Synästhesie.
Aimee Bender, Jahrgang 1969, die an der University of Southern California Creative Writing lehrt, wurde mit magisch-surrealistischen Romanen und Kurzgeschichten ("Das Mädchen, das Feuer fing") bekannt. In "Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen" beschreibt sie die Ambivalenz einer Gabe zwischen Geschenk und Last. Indem diese unbewusste Empfindungen aus den Speisen hochsteigen lässt, entlarvt ihre Protagonistin eine verborgene emotionale Welt der Lügen und des Selbstbetrugs.
Aimee Bender gelingt es, eine große Nähe zu ihrer Hauptfigur herzustellen, unabhängig von deren jeweiligem Alter und Lebenssituation: Die naive Verwirrung der Neunjährigen wird ebenso genau porträtiert wie die lakonisch-ironische Selbst- und Weltdistanz der erwachsenen Rose. Dennoch sei gewarnt, wer in diesem Werk viel Realität sucht: Die Geschichte, die an Benders Geburtsort Los Angeles spielt, bewahrt das Märchenhafte bis zum Ende.
Der Roman endet im Ungewissen, mit einem plötzlichen Abbruch. Wofür Rose ihre Gabe alles einsetzen könnte, das wird nicht ausgeführt: eine angenehme Enttäuschung für alle, die zu Zeiten von Castingshows und C-Prominenz schon den gesellschaftlichen Durchbruch Roses als eine Art The Next Uri Geller befürchtet hatten. "Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen" hat in den Vereinigten Staaten mehrere Preise gewonnen - zu Recht. Denn wäre dieser Roman ein Kuchen, dann wäre er wohl eine Schokoladentorte: vielschichtig, die Füllung bedeutungsstark und streckenweise fast zu üppig, der Biskuit von erzählerischer Leichtigkeit, die Dekoration humorvoll-verspielt. Nach der letzten verschlungenen Seite steht der Wunsch nach mehr. Vorausgesetzt, man ist kein Blechkuchen-Typ.
ULRIKE SEIBOLD
Aimee Bender: "Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen". Roman.
Aus dem Englischen von Christiane Buchner und Martina Tichy. Bloomsbury Verlag, Berlin 2011. 300 S., geb., 19,90 [Euro].
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