Despite a terrible two-stage 'European civil war' and the traumatic rise and fall of communism, wealth has increased dramatically alongside a four-fold leap in population, and women's lives have been transformed. This title offers an overview of a turbulent century that explores both dramatic events and the trends.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2000Faule Wurzeln
Das 20. Jahrhundert in komprimierter Form
J. M. Roberts: Twentieth Century. The History of the World 1901 to the Present. The Penguin Press, London 1999, 906 Seiten, 20,- Pfund.
Der Autor beschreibt in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts auf 900 Seiten Entstehung, Verlauf und Ende zweier Weltkriege, zahlreiche andere Konflikte, den Zusammenbruch europäischer Reiche, das Ende der Kolonien, die Entstehung neuer Staaten, schließlich das Ende der von Europa dominierten Welt und die Anfänge einer neuen Weltzivilisation. Wenn Roberts schließlich das Fazit zieht, daß Geschichte niemals fixiert werden dürfe, so mag das recht bescheiden erscheinen. Er warnt vor pauschalen Urteilen über den Verlauf der Geschichte, insbesondere vor dem Gerede über das "Ende der Geschichte". Allerdings liefert auch sein Buch eine Moral: Geschichte "kann Illusionen zerstreuen und neue Perspektiven öffnen, Hindernisse aufzeigen, die unseren Wünschen und Erwartungen entgegenstehen und die gefährlich werden können, wenn sie im dunkeln bleiben". Geschichte soll weder abgefeiert noch abgeurteilt werden. Die heute so geläufigen flotten und naiven Sprüche von der Globalisierung konfrontiert Roberts mit der Wirklichkeit.
"Wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, daß alle Vergangenheit einmal Gegenwart und alle späteren Ergebnisse einmal Zukunft waren." Von diesem Ansatz aus trägt Roberts das 20. Jahrhundert gleichsam Schicht für Schicht historisch ab. Ein New Yorker, Londoner, Berliner oder Pariser habe sich im Jahre 1901 in einer Umwelt bewegt, die mehr nach Pferden als nach Autos roch. Um diese Zeit lebten die Zivilisationen der Welt noch nebeneinander und wußten wenig voneinander. Die Europäer hatten ihren früheren Respekt vor anderen Zivilisationen weitgehend verloren. Die Vorstellung einer globalen Einheit menschlicher Werte war ihnen fremd. Lediglich die Geographie der Erde war inzwischen weitgehend erschlossen und Dampfschiff, Bahn, Telegraf und Telefon begannen den internationalen Verkehr zu revolutionieren. Die Welt der Imperien und des Imperialismus vor 1914, die Roberts in dem Kapitel "The White Man's World" beschreibt, wird von ihm milder beurteilt, als dies heute allgemein üblich ist.
Der Reiz des Buches besteht darin, daß Roberts neben den bekannten politischen Vorgängen und Veränderungen die strukturellen wirtschaftlichen, sozialen, demographischen, kulturellen und technisch-naturwissenschaftlichen Verhältnisse beschreibt, gelegentlich sogar alltägliche Lebensverhältnisse. Dagegen wird die ästhetische Moderne, werden Kunst, Literatur und Musik und die Stile des Bauens und Wohnens kaum wahrgenommen. Eingehend befaßt er sich mit dem weltweiten Wandel von Mentalitäten. Souverän gleitet der Blick über die Kontinente hinweg. Dabei sind Denkmuster und Blickwinkel unverkennbar angelsächsisch. Die Vereinigten Staaten spielen in dieser Weltgeschichte eine zentrale Rolle.
Beiläufig werden sowohl der Erste wie der Zweite Weltkrieg jeweils als "German War" betitelt. Bei den Kriegsursachen hält sich Roberts mit Schuldzuweisungen zurück, wenngleich der deutschen Politik der entscheidende Anteil zukomme. Der Holocaust wird als ein Problem der modernen Zivilisation dargestellt, als ein Menetekel des Fortschritts, zu dem Deutschland selbst so viel beigetragen habe: "Irgend etwas mußte an den Wurzeln faul sein." Vor dieser breiteren Perspektive, wie sie Roberts entwickelt, erscheinen manche erregte innerdeutsche Diskussionen der letzten Jahrzehnte wie die Fischer-Kontroverse, die Debatte um den deutschen "Sonderweg", der Historikerstreit, die Diskussionen über das Buch von Daniel Goldhagen und die Wehrmachtsausstellung als verzerrt und selbstbezogen.
Die großen Umbrüche seit 1945, der Kalte Krieg und dessen Ende, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Bedeutung Asiens und die neue Rolle Chinas, Japans und Indiens, die Veränderungen in den Kulturen und Religionen (wie beispielsweise die demographische Verlagerung des Schwerpunkts der Christenheit von Europa in die nichteuropäischen Kontinente), werden in Beziehung gesetzt und zugleich relativiert. Diese Relativierung über größere Zeiten und Räume hinweg ist die eigentliche Leistung des Buchs.
Ein Problem, dessen Ursprung in Europa liegt, hat die Welt durch das ganze Jahrhundert hindurchgeschleppt: das des Nationalismus. Exemplarisch steht dafür Jugoslawien, dessen Konflikte die Welt zu Beginn wie am Ende des 20. Jahrhunderts in den Bann schlugen. Das Beispiel Jugoslawien verdeutlicht, daß die Probleme der heutigen Welt sich kaum lösen lassen, wenn man nicht mit ihrer Entstehungsgeschichte vertraut ist. Roberts ist offensichtlich davon überzeugt, daß seine Art Geschichtsschreibung einen soliden Beitrag leistet, um die Zukunft zu bewältigen.
WILHELM RIBHEGGE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das 20. Jahrhundert in komprimierter Form
J. M. Roberts: Twentieth Century. The History of the World 1901 to the Present. The Penguin Press, London 1999, 906 Seiten, 20,- Pfund.
Der Autor beschreibt in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts auf 900 Seiten Entstehung, Verlauf und Ende zweier Weltkriege, zahlreiche andere Konflikte, den Zusammenbruch europäischer Reiche, das Ende der Kolonien, die Entstehung neuer Staaten, schließlich das Ende der von Europa dominierten Welt und die Anfänge einer neuen Weltzivilisation. Wenn Roberts schließlich das Fazit zieht, daß Geschichte niemals fixiert werden dürfe, so mag das recht bescheiden erscheinen. Er warnt vor pauschalen Urteilen über den Verlauf der Geschichte, insbesondere vor dem Gerede über das "Ende der Geschichte". Allerdings liefert auch sein Buch eine Moral: Geschichte "kann Illusionen zerstreuen und neue Perspektiven öffnen, Hindernisse aufzeigen, die unseren Wünschen und Erwartungen entgegenstehen und die gefährlich werden können, wenn sie im dunkeln bleiben". Geschichte soll weder abgefeiert noch abgeurteilt werden. Die heute so geläufigen flotten und naiven Sprüche von der Globalisierung konfrontiert Roberts mit der Wirklichkeit.
"Wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, daß alle Vergangenheit einmal Gegenwart und alle späteren Ergebnisse einmal Zukunft waren." Von diesem Ansatz aus trägt Roberts das 20. Jahrhundert gleichsam Schicht für Schicht historisch ab. Ein New Yorker, Londoner, Berliner oder Pariser habe sich im Jahre 1901 in einer Umwelt bewegt, die mehr nach Pferden als nach Autos roch. Um diese Zeit lebten die Zivilisationen der Welt noch nebeneinander und wußten wenig voneinander. Die Europäer hatten ihren früheren Respekt vor anderen Zivilisationen weitgehend verloren. Die Vorstellung einer globalen Einheit menschlicher Werte war ihnen fremd. Lediglich die Geographie der Erde war inzwischen weitgehend erschlossen und Dampfschiff, Bahn, Telegraf und Telefon begannen den internationalen Verkehr zu revolutionieren. Die Welt der Imperien und des Imperialismus vor 1914, die Roberts in dem Kapitel "The White Man's World" beschreibt, wird von ihm milder beurteilt, als dies heute allgemein üblich ist.
Der Reiz des Buches besteht darin, daß Roberts neben den bekannten politischen Vorgängen und Veränderungen die strukturellen wirtschaftlichen, sozialen, demographischen, kulturellen und technisch-naturwissenschaftlichen Verhältnisse beschreibt, gelegentlich sogar alltägliche Lebensverhältnisse. Dagegen wird die ästhetische Moderne, werden Kunst, Literatur und Musik und die Stile des Bauens und Wohnens kaum wahrgenommen. Eingehend befaßt er sich mit dem weltweiten Wandel von Mentalitäten. Souverän gleitet der Blick über die Kontinente hinweg. Dabei sind Denkmuster und Blickwinkel unverkennbar angelsächsisch. Die Vereinigten Staaten spielen in dieser Weltgeschichte eine zentrale Rolle.
Beiläufig werden sowohl der Erste wie der Zweite Weltkrieg jeweils als "German War" betitelt. Bei den Kriegsursachen hält sich Roberts mit Schuldzuweisungen zurück, wenngleich der deutschen Politik der entscheidende Anteil zukomme. Der Holocaust wird als ein Problem der modernen Zivilisation dargestellt, als ein Menetekel des Fortschritts, zu dem Deutschland selbst so viel beigetragen habe: "Irgend etwas mußte an den Wurzeln faul sein." Vor dieser breiteren Perspektive, wie sie Roberts entwickelt, erscheinen manche erregte innerdeutsche Diskussionen der letzten Jahrzehnte wie die Fischer-Kontroverse, die Debatte um den deutschen "Sonderweg", der Historikerstreit, die Diskussionen über das Buch von Daniel Goldhagen und die Wehrmachtsausstellung als verzerrt und selbstbezogen.
Die großen Umbrüche seit 1945, der Kalte Krieg und dessen Ende, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Bedeutung Asiens und die neue Rolle Chinas, Japans und Indiens, die Veränderungen in den Kulturen und Religionen (wie beispielsweise die demographische Verlagerung des Schwerpunkts der Christenheit von Europa in die nichteuropäischen Kontinente), werden in Beziehung gesetzt und zugleich relativiert. Diese Relativierung über größere Zeiten und Räume hinweg ist die eigentliche Leistung des Buchs.
Ein Problem, dessen Ursprung in Europa liegt, hat die Welt durch das ganze Jahrhundert hindurchgeschleppt: das des Nationalismus. Exemplarisch steht dafür Jugoslawien, dessen Konflikte die Welt zu Beginn wie am Ende des 20. Jahrhunderts in den Bann schlugen. Das Beispiel Jugoslawien verdeutlicht, daß die Probleme der heutigen Welt sich kaum lösen lassen, wenn man nicht mit ihrer Entstehungsgeschichte vertraut ist. Roberts ist offensichtlich davon überzeugt, daß seine Art Geschichtsschreibung einen soliden Beitrag leistet, um die Zukunft zu bewältigen.
WILHELM RIBHEGGE
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