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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2018

Ein Buch, das über die Jahre besser wurde
Gespenstisch aktuell: New York liest einen Verschwörungsroman von Philip Roth

NEW YORK, 29. Oktober

Am Ende der Woche des Terrors, die mit zahlreichen Briefbomben an Gegner und Kritiker von Präsident Trump begonnen hatte, der die antisemitischen Morde von Pittsburgh folgten, stand eine Lesung. Keine spontane Lesung, aber eine auf unheimliche Weise passende. Das Buch: "The Plot Against America" (auf deutsch "Verschwörung gegen Amerika") von Philip Roth. Die Vorleser waren Schauspieler und Autoren, berühmt aus Film und Fernsehen: Ayad Akhtar, Jennifer Ehle, Jon Hamm, André Holland, Elizabeth Marvel und einige andere wie John Turturro und Michael Stuhlbarg. Der Ort: das jüdische Kulturzentrum an der New Yorker Upper East Side, 92nd Street Y. Die Stimmung: konzentriert.

Gab es nach den elf Morden von Pittsburgh besondere Sicherheitsvorkehrungen? Nein. Es waren auch keine Bewaffneten in Sicht, nur wie üblich wurden kurze Blicke in Taschen und Rucksäcke geworfen, nichts weiter. Dabei war es rappelvoll. Der Shakespeare-Forscher James Shapiro, der den Rothschen Roman auf handliche sechs Stunden in acht Kapiteln gekürzt hatte, widmete den Nachmittag den Opfern des Synagogenanschlags. Das war alles. Keine erhöhte Alarmstufe.

"The Plot Against America" ist jenes Buch, in dem Roth die alternative Geschichtsphantasie entwirft, statt Franklin D. Roosevelt habe Amerika 1940 den Nazisympathisanten und Antisemiten Charles Lindbergh in einem Erdrutschsieg zum Präsidenten gewählt und Lindbergh hätte das Land durch Appeasement-Abkommen mit Hitler-Deutschland und Japan aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten und mit der Zwangsumsiedlung amerikanischer Juden begonnen. Das FBI bespitzelt, Pogrome liegen in der Luft und finden statt, 122 jüdische Opfer von Lynchmorden sind verzeichnet.

Als das Buch 2004 herauskam, ist bemerkt worden, die skandalösen Diskriminierungen, die sich Roth für die Juden unter einer Regierung Lindbergh ausgedacht hatte, seien durchaus real - allerdings seien ihre Opfer eher die Afroamerikaner und später auch die Muslime gewesen, die ihrer Rechte beraubt würden oder dies befürchten müssten. Aber die Wirklichkeit hat sich auch für die Juden in Amerika der Fantasy genähert.

Nach dem Vielfachmord von Pittsburgh erklärte ein Vertreter der Antidefamation League, antisemitische Beschimpfungen und Drohungen hätten in letzter Zeit einen historischen Höchststand erreicht. Umso erstaunlicher, wie gelassen das Publikum am Sonntag war und wie gespannt es vor allem jenen Passagen folgte, in denen die fiktive Geschichte ins Schicksal der Familie Roth eingreift. Das ist auch literarisch der bestechendste Strang des Buchs - wer auf welche Seite gezogen wird, wer Widerstand leistet, wer die Kosten trägt und wie ein Junge mit alldem aufwächst.

Weil die Geschichts-Fantasy so phantastisch war, lachte Roth bei Erscheinen des Romans all jene aus, die darin eine überspitzte Spiegelung des Landes nach dem 11. September 2001 sahen und in Lindbergh eine Karikatur von George W. Bush, den Roth nicht für fähig hielt, "einen Baumarkt zu leiten", geschweige denn ein so komplexes Land wie die Vereinigten Staaten zu führen. Dennoch lag für viele die Frage auf der Hand, wo in den Kulissen dieser historischen Konstruktion codierte Botschaften über die Gegenwart versteckt seien.

Inzwischen liegen die Parallelen fast lächerlich offen zutage, und das Buch bekommt den Charakter einer warnenden Vorausschau durch sein historisches Delirium. Das sah auch Philip Roth so, der in den Monaten vor seinem Tod im Mai dieses Jahres mit Vertretern des 92Y Underberg Poetry Center über eine Zusammenarbeit, eine Lesung nachdachte. Jetzt fand sie statt - die Vorleser marschierten einer nach dem anderen auf und spielten leidenschaftlich hinter dem Rednerpult nur mit Stimme, Kopf und Armen, was sie lasen. Die Verzweiflung. Die Lächerlichkeit. Die Demagogie. Den "Terror des Unvorhersehbaren" in einer Familie, einer Gemeinschaft, einem Land. Den "verrückten Stoizismus" des Vaters. Die Kränkungen unter den Kindern. Den Ekel vor einem Beinstumpf. Und das Erkennen der Mutter, die zusammenhält, was irgend geht.

"Vote for Lindbergh or vote for war!" Der erste Satz des Nachmittags, mit der Stimme eines Wahlkämpfers in den Raum geschleudert von Michael Stuhlbarg (dem "Serious Man" der Brüder Coen). Und dann, leiser, mit der Stimme des Erzählers, der Philip Roth heißt und im Zeitraum der Handlung sieben bis neun Jahre alt ist: "Furcht herrscht über diese Erinnerung, eine beständige Furcht."

Alle Vorleser lasen in rasendem Tempo, und alle verzögerten jene Sätze, aus denen sich gespenstisch aktuelle Anspielungen heraushören ließen. Stuhlbarg machte eine Pause, als zum ersten Mal vom "America First Committee" die Rede war, Lindberghs (aber auch Sinclair Lewis') Organisation, und alle lachten. Wie auch bei der Erwähnung von Lindberghs Parteitagsrede, mit deren 41 Wörtern er sich seine Kandidatur sicherte. Oder später, als André Holland las, im Tonfall afroamerikanischen Sprechens, und von einem Staatsempfang für Ribbentrop in Washington erzählte und bemerkte, Lindberghs Kritiker - da machte er eine Pause - "will pay with their political lives in the November elections!" Großes Gelächter löst auch die folgende Episode über Lindbergs Krisenmanagement aus, das aus rastlosem Reisen quer durchs Land besteht, mit Auftritten hier und dort vor johlenden Freunden. Ein Stöhnen allerdings geht durch den Raum, als es heißt, Ziel sei ein friedliches Amerika, in dem niemand in Gefahr ist - "niemand außer uns".

Wie wurde ein Teil der Amerikaner plötzlich zu "you people"? Der Traum der einen der Albtraum der anderen? In der Fassung des Romans von Roth, die am Sonntag gelesen wurde, steht diese Frage neben der Familiengeschichte im Mittelpunkt. Wessen Land ist dies? Niemand erwartete eine Antwort. Was alle wollten und bekamen, war die brillante Lesung eines Buchs, das über die Jahre besser geworden ist. Vielleicht hat das mit dem Lauf der Geschichte zu tun. Vielleicht auch mit den Kürzungen. Am Ende bekamen wir alle einen Ansteckknopf. Darauf stand "Vote".

VERENA LUEKEN

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