In seinem 1985 erschienenen Werk vertritt Keith M. Wilson in mehreren Essays die Ansicht, das die britische Führung Anfang des 20. Jahrhunderts die Entente-Politik mit Frankreich und Russland nicht zur „Eindämmung“ des Deutschen Reiches oder um des Mächtegleichgewichts willen, sondern vor allem
deswegen betrieben hat, weil die britische Seeherrschaft und das weitläufige britische Weltreich,…mehrIn seinem 1985 erschienenen Werk vertritt Keith M. Wilson in mehreren Essays die Ansicht, das die britische Führung Anfang des 20. Jahrhunderts die Entente-Politik mit Frankreich und Russland nicht zur „Eindämmung“ des Deutschen Reiches oder um des Mächtegleichgewichts willen, sondern vor allem deswegen betrieben hat, weil die britische Seeherrschaft und das weitläufige britische Weltreich, insbesondere Indien, ohne ein Einvernehmen mit Russland nicht mehr zu sichern gewesen wäre.
Dabei war auch die von der britischen Regierung angeblich verfolgte Politik der freien Hand nach Wilson nur eine Fiktion, da man sich durch die eigenen imperialen Interessen, die daraus resultierenden Ententen und die darauf beruhenden Absprachen zwischen den Generalstäben der beteiligten Länder gegenüber Frankreich und Russland schon so weit gebunden hatte, dass eine Neutralität Großbritanniens in einem europäischen Krieg praktisch nicht mehr in Frage kam.
Um diese Politik zu rechtfertigen, kam es nach Wilson dann auch zur „Invention of Germany“, der Erfindung des Deutschen Reiches als des großen Unruhestifters und Friedensstörers in Europa, die vor allem psychologischen Bedürfnissen der britischen Führung diente, die sich vor dem Hintergrund der angeblichen deutschen Bedrohung als Verteidiger der „balance of power“ und der Freiheit Europas gegen eine deutschen Hegemonie imaginieren konnte.
Die Entscheidung zum britischen Kriegseintritt 1914 habe dann auch weniger mit der belgischen Neutralität zu tun gehabt, sondern eher mit der innenpolitischen Erwägung, dass dem liberalen Kabinett bei einer Ablehnung des Kriegseintritts der Rücktritt der „liberalen Imperialisten“, insbesondere von Außenminister Grey und Premierminister Asquith drohte. Dem Sturz der liberalen Regierung wäre sodann eine konservative oder eine Koalitionsregierung aus Konservativen und liberalen Imperialisten gefolgt, die dann in jedem Fall den Kriegseintritt beschlossen hätte. Aus diesem Grund beschlossen die Liberalen, den ohnehin unvermeidlichen Kriegseintritt lieber selbst herbeizuführen und mit der Verletzung der belgischen Neutralität zu rechtfertigen.
Einiges an Wilsons seinerzeit aufsehenerregenden und das britische Selbstbild angreifenden Erwägungen wird von der neueren Forschung bestätigt und weitergeführt (vgl. etwa Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent: Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011). Allerdings ist auch festzustellen, dass den nicht gerade „sine ira et studio“ geschriebenen Essays eine bisweilen etwas einseitige Interpretation der Quellen zugrundeliegt, was allerdings jedem solchen Frontalangriff auf die herrschende Meinung inhärent sein dürfte.
Wilsons Essays bilden jedenfalls für jeden an der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs Interessierten eine höchst anregende Lektüre. Um seine bisweilen über die Quellen hinausschießenden Thesen angemessen relativieren und einordnen zu können, empfiehlt es sich allerdings, eine gewisse Kenntnis der sonstigen einschlägigen Literatur zum Thema mitzubringen.