This monumental book - the last to be completed by the author - is a study of a recurring phenomenon in the history of changing taste in the visual arts: the feeling that older and less sophisticated (i.e. 'primitive') works are somehow morally and aesthetically superior to later works that are perceived as comparatively soft and decadent.
In his first narrative work for over two decades, Professor Gombrich traces this fundamental idea back to Classical Antiquity, where he links it both with Cicero's observation that over-indulgence of the senses leads to a feeling of disgust, and with the profoundly influential metaphor comparing the development of art to that of a living organism. Like an organism, art grows to maturity then decays and dies: successive generations of artists and critics have preferred the strength, nobility and sincerity of earlier styles to the more refined later styles with their corrupting and meretricious appeal to the senses.
After reviewing the Classical authors whose writings largely set the terms of the debate, Gombrich then charts its progress since its revival in the eighteenth century, documenting the often subtle shifts of taste and judgement that frequently focus on the pivotal role of Raphael. In the final chapters, he turns to the truly revolutionary primitivism of the twentieth century, analysing the momentous shifts of taste before which he was himself an eyewitness. Assimilating more than 40 years of study and reflection on this theme, the book presents a vividly argued narrative, supported by extensive quotations that document with acute precision the role of authors, critics and artists in shaping and changing opinion. Principal and pioneering both as a personal testament and as a documentary anthology, this long-anticipated book provides a deep and revealing insight into the history and psychology of taste.
In his first narrative work for over two decades, Professor Gombrich traces this fundamental idea back to Classical Antiquity, where he links it both with Cicero's observation that over-indulgence of the senses leads to a feeling of disgust, and with the profoundly influential metaphor comparing the development of art to that of a living organism. Like an organism, art grows to maturity then decays and dies: successive generations of artists and critics have preferred the strength, nobility and sincerity of earlier styles to the more refined later styles with their corrupting and meretricious appeal to the senses.
After reviewing the Classical authors whose writings largely set the terms of the debate, Gombrich then charts its progress since its revival in the eighteenth century, documenting the often subtle shifts of taste and judgement that frequently focus on the pivotal role of Raphael. In the final chapters, he turns to the truly revolutionary primitivism of the twentieth century, analysing the momentous shifts of taste before which he was himself an eyewitness. Assimilating more than 40 years of study and reflection on this theme, the book presents a vividly argued narrative, supported by extensive quotations that document with acute precision the role of authors, critics and artists in shaping and changing opinion. Principal and pioneering both as a personal testament and as a documentary anthology, this long-anticipated book provides a deep and revealing insight into the history and psychology of taste.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Da kann man nur hoffen, daß die Träume Humor haben
Ernst H. Gombrich kämpft im unentschiedenen Zweifrontenkrieg zwischen Fortschritt und Primitivismus / Von Werner Hofmann
Wir gehen in eine Straße hinein und wenden uns um: Sie ist eine andere. Der Blick in den Spiegel verkehrt die Seiten: Was links war, ist jetzt rechts. Seitenverkehrte Wahrnehmungen gehören zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Sie stellen, ohne daß wir es merken, zwei gegensinnige Bezugsrahmen zur Wahl. Doch wer hat schon einmal zu einem Buch ein zweites, seitenverkehrtes geschrieben? Mit seinem letzten Werk, das er noch für den Druck fertigstellen konnte, hat sich Ernst Gombrich - der Wahrnehmungspsychologe unter den Kunsthistorikern - diese Laune erfüllt. Schrieb er einen Altersspaß, eine Alterssünde à la Rossini oder seine Abschiedssymphonie?
Der Ansatz ist im Grunde nicht neu, denn seit Vasari wissen wir, daß die Ereignisse des Kunstgeschehens sich sowohl im Hinblick auf Künftiges als im Rückblick auf Vergangenes lesen lassen. Jede Richtungswahl schließt Gegenrichtungen als Möglichkeiten ein. Als Gombrich für das Taschenbuch "Kunst und Fortschritt" (Köln 1978) vier griechische Statuen vom sechsten Jahrhundert bis zu Lysipp aneinanderreihte, um den Fortschritt in der Naturnachahmung zu veranschaulichen, hatte er bereits Leser mit Gegenerwartungen im Auge: "Gewiß sind heutzutage viele versucht, diese Auffassung vom Fortschritt anzufechten und die Serie lieber umgekehrt zu lesen, denn sie ziehen die archaische Figur dem naturalistischen Stil des späten vierten Jahrhunderts vor."
An diesen Leserkreis wendet sich "The Preference for the Primitive": Die vier Statuen tauchen darin wieder auf, ebenso ein Dutzend anderer Werke aus dem "Fortschritt"-Büchlein. Der Autor bedient abwechselnd zwei Ideenbereiche - Fortschritt und Primitivismus - und behandelt sie wie Rivalen in einem Wettbewerb. Seiner Zweifrontenargumentation haftet etwas Unentschiedenes an. Die wechselnde Einstellung führt dazu, daß das halbleere Glas des einen Buches im anderen zu einem halbvollen wird. Wir erkennen darin die Absicht, die Gombrich am Ende seiner Gedanken über den Fortschritt aussprach. Der Leser soll jeweils "nach der Legitimation des Fortschrittsbegriffs fragen", zugleich sich der "gedankenlosen Nachahmung jeder Neuerung" enthalten. Betrifft diese Warnung - sie könnte von Nestroy stammen - nicht die beiden Seiten einer Medaille?
Das Problemfeld ist längst kein Neuland mehr. Lionello Venturi (1926), Robert Goldwater (1938), George Boas (1948) und Giovanni Previtali (1964) haben es vor Jahrzehnten erschlossen, Goldwater (den Gombrich nicht erwähnt) unter ausdrücklichem Bezug auf den "Primitivism in Modern Painting". Mit keiner dieser Darstellungen wollte Gombrich sich messen. Seine Absicht erhellt der Untertitel: "Episodes in the History of Western Art and Taste". Die behandelten Episoden ergeben kein Kontinuum. Das Mittelalter, zum "Interlude" herabgestuft, muß sich mit vier Textseiten begnügen und einer Frage stellen, die man überholt glaubte: Fortschritt oder Verfall? Die Zeit zwischen dem sechzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert ist ausgespart. Die vier Hauptkapitel setzen mit "The Ascendancy of the Sublime" ein (Shaftesbury, Richardson, Burke, Vico und Winckelmann). Es folgen Kapitel über das präraffaelitische Ideal, das Verlangen nach Spiritualität und die Emanzipation formaler Werte. Ein kurzes Zwischenspiel führt die Entdeckung der Kinderzeichnung und der Stammeskünste in die Diskussion ein. Das zwanzigste Jahrhundert wird in einem einzigen Kapitel untergebracht.
In jedem Abschnitt beschränkt sich Gombrich darauf, die Psychologie von Geschmacksbrüchen zu untersuchen. Sein analytischer Blick wird von einer beeindruckenden Kenntnis der Schriftquellen legitimiert, manchmal auch bevormundet. Die Quellentexte interessieren ihn nicht nur als Argumentationshilfen, sondern als Anstoßerwecker. Wir erfahren mehr über Ruskin als über die Präraffaeliten (die der Autor nicht sehr schätzt), mehr über Tolstoi als über Gauguin, mehr über Malraux' manipulierte Fotos (für das Musée Imaginaire) als über das ganze Mittelalter. Zustimmend zitiert Gombrich seinen Lehrer Hans Tietze, der schon 1925 schrieb, eine "gewisse Hypertrophie der Kunsthistorie" hätte zur Entstehung des Expressionismus beigetragen. Gombrich selbst hat daraus eine Lehre gezogen und sich zeitlebens im Detachement geübt. Wenn er die Ereignisse des Kunstgeschehens an Fortschritt und Primitivismus vergibt, entwirft er zugleich ein Spielfeld, auf dem feste Größen innerhalb eindeutiger Demarkationslinien ihren Wettbewerb austragen. Die Spielregeln dieses Kräftemessens hat Carl Justi in seinem Winckelmann angegeben: "Die Formen leben sich aus; dann folgt der Bruch und die Hinwendung zum Entgegengesetzten; man sucht die Komplement- und Kontrastwerte. Das ist das Gesetz, das die Wandlungen des Geschmacks beherrscht."
Für Justi war es folglich kein Zufall, daß Winckelmanns Lehre sich im Schatten des Zwingers und der katholischen Hofkirche erhob. Dazu liefert Gombrich einen einleuchtenden Beleg. Er bildet ein Porzellanfigürchen ab und meint, Winckelmanns Ideen seien in "strikter Reaktion" auf dieses Geschmacksmuster entstanden. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: Ohne die "Geburt der Venus" von Bouguereau (1879) wären Picassos "Demoiselles d'Avignon" wohl nie gemalt worden. In Diapositivvorträgen verfehlen solche Kontrastkoppelungen nie ihre Wirkung, doch greifen sie in der Regel zu kurz. Was sie unterschlagen, ist nicht unerheblich. Der "Primitivismus" der Demoiselles hat mehrere Auslöser. Einmal kommt er aus der Reaktion auf den "style Metro" (in dessen Kurvilinearität sich das Raffinement als Rückkehr zu den Ursprüngen gebärdet), zum andern aus Picassos Selbstgesprächen, in deren Verlauf das sanfte Archaisieren der blauen Periode einer brutalen Syntax unterliegt. Bouguereau war in diesem Radikalisierungsprozeß nicht gefragt.
Auch Winckelmann war nicht aus einem Stück. Der "lächerliche Geschmack" der Porzellanpuppen war ihm zuwider, doch mitten in den "Gedanken über die Nachahmung" preist er plötzlich das barocke Kuppelfresko der Wiener Hofbibliothek. Wieder ein anderer ist Winckelmann, wenn er die Rückkehr zu einem älteren Stil als Möglichkeit einräumt und so den Geschichtsfaktor zuläßt, den wir Primitivismus nennen. Das hat Gombrich im "Fortschritt" ausgiebig behandelt, im neuen Buch ist von diesem "Selbstwiderspruch" (Edgar Wind) eher beiläufig die Rede. Solche Selbstwidersprüche sind Brückenschläge zwischen den beiden Lagern, sie lösen im Gegenverkehr deren eindeutige Umrisse auf und blenden sie ineinander. Schon Friedrich Schlegel bemerkte über Hogarth, er habe "die Häßlichkeit gemalt und über die Schönheit geschrieben". Delacroix beklagte den Verlust an "simplicité" und ging dennoch bei Rubens in die Schule. Im zwanzigsten Jahrhundert, wo Revokationen und Regelverstöße jeder Position ihr Gegenteil offenhalten, wurde die Reihe der Grenzgänger immer dichter. So gesehen, ist eine Untersuchung zu wünschen, in der Fortschritt und Primitivismus nicht als dualistische Widersacher auftreten, sondern sich gegenseitig in einem Maße hervorbringen, daß sie einander zum Verwechseln ähnlich sehen. So war der changierende Januskopf des zwanzigsten Jahrhunderts beschaffen.
Wäre es nicht angezeigt, im Plural, also von Primitivismen, zu sprechen? Die bannende Ursprünglichkeit, die Flaxman in einer archaischen Medusenfratze entdeckte, beschwor er zugleich in seinen puristischen Umrißstichen. Zur selben Zeit wetterte Caspar David Friedrich ebenso gegen naturalistische Wachsfiguren wie gegen eitle "Pinselbraveure"; er war überzeugt, daß Raffael heute nicht "wie jene" (die Nazarener) malen würde, zugleich aber entschied er sich für die "freie geistige Nachbildung der Natur". Solange wir nicht die komplizierte Dialektik der unterschiedlichen Primitivisten-Modi und -Theorien aufgearbeitet haben, müssen wir uns in den klassischen, auf Cicero zurückgehenden Antagonismen zurechtfinden (die Gombrich im Einleitungskapitel darlegt) und sie durchlässiger machen.
Gombrichs Essaysammlung bietet dafür eine stimulierende Ausgangsbasis. Nur selten treffen wir darin auf begründete Werturteile. Brancusis "Kuß" (für ein Grab auf dem Cimetière Montparnasse) wird zwar wirkungsvoll dem hingeschmolzenen "Kuß" von Rodin gegenübergestellt, aber nur von einer Negation beglaubigt: "Was immer wir von dieser innovativen Auffassung halten mögen, Sentimentalität kann man ihr nicht nachsagen." Der Vergleich bekräftigt eine kategorische Schlußfolgerung, die Lionello Venturi 1926 traf: Die Nachahmungsdoktrin verstellt den Blick auf den "aspetto creativo e autonomo dell'arte".
Gombrich hätte dem widersprochen, läßt er doch durchblicken, daß der an die Wiedergabe der Wahrnehmungsfakten gebundene Fortschritt letztlich die einzige ästhetische Leitwährung darstellt. Ihm fallen die Privilegien der Erstgeburt zu. Der Primitivismus kann demnach kein ebenbürtiger Partner sein, verhält er sich doch abweichend, widersprechend und oft negierend. Auf reaktives Verhalten eingeschränkt, ist er bloß ein Unruhestifter, dem der eigenständige Gegenentwurf versagt bleibt. Das sollte nicht überraschen, denn Gombrichs Titel spricht bescheiden von der Vorliebe für das Primitive, reduziert den Impetus der Gegenstimmen auf eine Geschmacksentscheidung. Nie würde Gombrich den Primitivisten zugebilligt haben, "ein Zeitalter zu Grabe zu tragen" (Runge).
Das Unbehagen an Geschmacksverneinungen, die sich vom genormten Schönen und von der Wahrnehmungswelt lossagen, gilt auch dem Verwirrungspotential der Primitivismen. Sie verunsichern, weil ihrer mehrsinnigen Vielformigkeit die maßstäblich verbürgte Einförmigkeit der genormten Kunstsprachen abgeht. Aus diesem Grund mußte Gombrich das Mittelalter ausklammern, denn die "mittelalterliche Kunstsprache", deren Vokabular und Syntax sein Lehrer Julius von Schlosser vor hundert Jahren jenseits von Fortschritt und Verfall ansiedelte, entledigte sich souverän der Nachahmungslehren und ihrer griechisch-römischen Maßstäbe. Diese kommen nun bloß als Renaissance-Episoden zu Wort. Die religiöse Kunst des Mittelalters, so vielgestaltig sie sich entfaltet, gehorcht keinem der Nachahmungskriterien. Hegel hat das nüchtern ausgesprochen: Für die Religion sind platte und sogar schlechte Bilder zweckmäßiger als die Madonnen Raffaels. Dieser sei deshalb "aus dem Prinzip der Kirche herausgetreten". Damit beginnt die ästhetische Selbstbezüglichkeit der Neuzeit.
Weil sie umgekehrt aus dem Prinzip dieser Kunst heraustraten, verweist Gombrich die Primitiven des zwanzigsten Jahrhunderts in eine Art Vorhölle. Er schiebt den ganzen Surrealismus in die Toleranzzone der Atelierspäße und Gschnasfeste ab. Gewiß, versichert er uns mit listigem Augenzwinkern, gab es an diesen vergänglichen Produkten manches zu lachen, und obendrein maßten sich ja die Surrealisten selbst keinen Kunststatus an. Duchamp, wen wundert's, wird der Lächerlichkeit preisgegeben; Dubuffet, als Weinhändler abqualifiziert, darf immerhin mit einer Abbildung abschreckend präsent sein. Dieses Vom-Tisch-Wischen bereitet Unbehagen, um es mild auszudrücken, denn nichts ist kränkender als das Ghetto des Lachkabinetts.
Was sich wie eine Mischung aus Geringschätzung, Unmut und Vorurteilen liest, hat einen intellektuellen Stammbaum, auf dessen Spur uns das Zwischenkapitel über die Verlockungen der Regression bringt. Es handelt von humoristischen Bilderzählungen des neunzehnten Jahrhunderts (Töpffer, Grandville, Cruikshank). Was dort an spielerischen Metamorphosen angeboten wird, läßt an die Vermischungen des Traumes denken. Daraus ergibt sich die fatale Freudsche Folgerung, daß diese Verwirrungen sich der Regression vom Ich in das Es verdanken. Damit sind die Sprachmittel der Karikatur, mit denen Gombrich sich zeitlebens beschäftigt hat, wieder marginalisiert - und dies mit einer Methode, die Verdrängungen bewußtmachen und beseitigen will. Sie sind auf den Status reduziert, den ihnen die "Encyclopédie" zuwies. Demnach entspringen sie einer "Ausschweifung der Einbildungskraft", der man sich nur zum Vergnügen und zur Entspannung bedienen dürfe. Diesen ausgegrenzten Freiraum teilen die Karikaturisten und die nonsense-imagery bei Gombrich noch heute mit der Narrenfreiheit der Surrealisten.
Zum Glück tritt dem unduldsamen ein anderer Gombrich gegenüber, der sich an das Goethe-Wort "Sind eben alles Menschen gewesen" hält. Eine der wenigen Farbabbildungen des Buches gibt eine köstliche Zeichnung von Elise, der Gombrichschen Familienköchin, wieder, angefertigt am 14. April 1922 und "dem lieben Ernst zum 14. Geburtstag" gewidmet. Es stehe nicht an, sagt Gombrich, dieses Bild "primitive" (in der englischen Wortbedeutung) zu nennen, solange wir nicht auch die Künstlerin so bezeichnen. Die Köchin als Künstlerin - das läßt an ein Wort von Schlosser denken, für den der "kunstlose" Liebesbrief einer Köchin in seinem Wesen dennoch "Kunst" war. Dahinter steht Schlossers von Benedetto Croce bezogene Unterscheidung zwischen "Stilgeschichte" und "Sprachgeschichte" der bildenden Kunst - ein Konzept, von dem die Primitivismus-Forschung manche Anregung beziehen könnte.
Ernst H. Gombrich: "The Preference for the Primitive". Episodes in the History of Western Taste and Art. Phaidon Press, Berlin 2002. 264 S., 12 Farb- u. 230 S/W-Abb., geb., 59,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ernst H. Gombrich kämpft im unentschiedenen Zweifrontenkrieg zwischen Fortschritt und Primitivismus / Von Werner Hofmann
Wir gehen in eine Straße hinein und wenden uns um: Sie ist eine andere. Der Blick in den Spiegel verkehrt die Seiten: Was links war, ist jetzt rechts. Seitenverkehrte Wahrnehmungen gehören zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Sie stellen, ohne daß wir es merken, zwei gegensinnige Bezugsrahmen zur Wahl. Doch wer hat schon einmal zu einem Buch ein zweites, seitenverkehrtes geschrieben? Mit seinem letzten Werk, das er noch für den Druck fertigstellen konnte, hat sich Ernst Gombrich - der Wahrnehmungspsychologe unter den Kunsthistorikern - diese Laune erfüllt. Schrieb er einen Altersspaß, eine Alterssünde à la Rossini oder seine Abschiedssymphonie?
Der Ansatz ist im Grunde nicht neu, denn seit Vasari wissen wir, daß die Ereignisse des Kunstgeschehens sich sowohl im Hinblick auf Künftiges als im Rückblick auf Vergangenes lesen lassen. Jede Richtungswahl schließt Gegenrichtungen als Möglichkeiten ein. Als Gombrich für das Taschenbuch "Kunst und Fortschritt" (Köln 1978) vier griechische Statuen vom sechsten Jahrhundert bis zu Lysipp aneinanderreihte, um den Fortschritt in der Naturnachahmung zu veranschaulichen, hatte er bereits Leser mit Gegenerwartungen im Auge: "Gewiß sind heutzutage viele versucht, diese Auffassung vom Fortschritt anzufechten und die Serie lieber umgekehrt zu lesen, denn sie ziehen die archaische Figur dem naturalistischen Stil des späten vierten Jahrhunderts vor."
An diesen Leserkreis wendet sich "The Preference for the Primitive": Die vier Statuen tauchen darin wieder auf, ebenso ein Dutzend anderer Werke aus dem "Fortschritt"-Büchlein. Der Autor bedient abwechselnd zwei Ideenbereiche - Fortschritt und Primitivismus - und behandelt sie wie Rivalen in einem Wettbewerb. Seiner Zweifrontenargumentation haftet etwas Unentschiedenes an. Die wechselnde Einstellung führt dazu, daß das halbleere Glas des einen Buches im anderen zu einem halbvollen wird. Wir erkennen darin die Absicht, die Gombrich am Ende seiner Gedanken über den Fortschritt aussprach. Der Leser soll jeweils "nach der Legitimation des Fortschrittsbegriffs fragen", zugleich sich der "gedankenlosen Nachahmung jeder Neuerung" enthalten. Betrifft diese Warnung - sie könnte von Nestroy stammen - nicht die beiden Seiten einer Medaille?
Das Problemfeld ist längst kein Neuland mehr. Lionello Venturi (1926), Robert Goldwater (1938), George Boas (1948) und Giovanni Previtali (1964) haben es vor Jahrzehnten erschlossen, Goldwater (den Gombrich nicht erwähnt) unter ausdrücklichem Bezug auf den "Primitivism in Modern Painting". Mit keiner dieser Darstellungen wollte Gombrich sich messen. Seine Absicht erhellt der Untertitel: "Episodes in the History of Western Art and Taste". Die behandelten Episoden ergeben kein Kontinuum. Das Mittelalter, zum "Interlude" herabgestuft, muß sich mit vier Textseiten begnügen und einer Frage stellen, die man überholt glaubte: Fortschritt oder Verfall? Die Zeit zwischen dem sechzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert ist ausgespart. Die vier Hauptkapitel setzen mit "The Ascendancy of the Sublime" ein (Shaftesbury, Richardson, Burke, Vico und Winckelmann). Es folgen Kapitel über das präraffaelitische Ideal, das Verlangen nach Spiritualität und die Emanzipation formaler Werte. Ein kurzes Zwischenspiel führt die Entdeckung der Kinderzeichnung und der Stammeskünste in die Diskussion ein. Das zwanzigste Jahrhundert wird in einem einzigen Kapitel untergebracht.
In jedem Abschnitt beschränkt sich Gombrich darauf, die Psychologie von Geschmacksbrüchen zu untersuchen. Sein analytischer Blick wird von einer beeindruckenden Kenntnis der Schriftquellen legitimiert, manchmal auch bevormundet. Die Quellentexte interessieren ihn nicht nur als Argumentationshilfen, sondern als Anstoßerwecker. Wir erfahren mehr über Ruskin als über die Präraffaeliten (die der Autor nicht sehr schätzt), mehr über Tolstoi als über Gauguin, mehr über Malraux' manipulierte Fotos (für das Musée Imaginaire) als über das ganze Mittelalter. Zustimmend zitiert Gombrich seinen Lehrer Hans Tietze, der schon 1925 schrieb, eine "gewisse Hypertrophie der Kunsthistorie" hätte zur Entstehung des Expressionismus beigetragen. Gombrich selbst hat daraus eine Lehre gezogen und sich zeitlebens im Detachement geübt. Wenn er die Ereignisse des Kunstgeschehens an Fortschritt und Primitivismus vergibt, entwirft er zugleich ein Spielfeld, auf dem feste Größen innerhalb eindeutiger Demarkationslinien ihren Wettbewerb austragen. Die Spielregeln dieses Kräftemessens hat Carl Justi in seinem Winckelmann angegeben: "Die Formen leben sich aus; dann folgt der Bruch und die Hinwendung zum Entgegengesetzten; man sucht die Komplement- und Kontrastwerte. Das ist das Gesetz, das die Wandlungen des Geschmacks beherrscht."
Für Justi war es folglich kein Zufall, daß Winckelmanns Lehre sich im Schatten des Zwingers und der katholischen Hofkirche erhob. Dazu liefert Gombrich einen einleuchtenden Beleg. Er bildet ein Porzellanfigürchen ab und meint, Winckelmanns Ideen seien in "strikter Reaktion" auf dieses Geschmacksmuster entstanden. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: Ohne die "Geburt der Venus" von Bouguereau (1879) wären Picassos "Demoiselles d'Avignon" wohl nie gemalt worden. In Diapositivvorträgen verfehlen solche Kontrastkoppelungen nie ihre Wirkung, doch greifen sie in der Regel zu kurz. Was sie unterschlagen, ist nicht unerheblich. Der "Primitivismus" der Demoiselles hat mehrere Auslöser. Einmal kommt er aus der Reaktion auf den "style Metro" (in dessen Kurvilinearität sich das Raffinement als Rückkehr zu den Ursprüngen gebärdet), zum andern aus Picassos Selbstgesprächen, in deren Verlauf das sanfte Archaisieren der blauen Periode einer brutalen Syntax unterliegt. Bouguereau war in diesem Radikalisierungsprozeß nicht gefragt.
Auch Winckelmann war nicht aus einem Stück. Der "lächerliche Geschmack" der Porzellanpuppen war ihm zuwider, doch mitten in den "Gedanken über die Nachahmung" preist er plötzlich das barocke Kuppelfresko der Wiener Hofbibliothek. Wieder ein anderer ist Winckelmann, wenn er die Rückkehr zu einem älteren Stil als Möglichkeit einräumt und so den Geschichtsfaktor zuläßt, den wir Primitivismus nennen. Das hat Gombrich im "Fortschritt" ausgiebig behandelt, im neuen Buch ist von diesem "Selbstwiderspruch" (Edgar Wind) eher beiläufig die Rede. Solche Selbstwidersprüche sind Brückenschläge zwischen den beiden Lagern, sie lösen im Gegenverkehr deren eindeutige Umrisse auf und blenden sie ineinander. Schon Friedrich Schlegel bemerkte über Hogarth, er habe "die Häßlichkeit gemalt und über die Schönheit geschrieben". Delacroix beklagte den Verlust an "simplicité" und ging dennoch bei Rubens in die Schule. Im zwanzigsten Jahrhundert, wo Revokationen und Regelverstöße jeder Position ihr Gegenteil offenhalten, wurde die Reihe der Grenzgänger immer dichter. So gesehen, ist eine Untersuchung zu wünschen, in der Fortschritt und Primitivismus nicht als dualistische Widersacher auftreten, sondern sich gegenseitig in einem Maße hervorbringen, daß sie einander zum Verwechseln ähnlich sehen. So war der changierende Januskopf des zwanzigsten Jahrhunderts beschaffen.
Wäre es nicht angezeigt, im Plural, also von Primitivismen, zu sprechen? Die bannende Ursprünglichkeit, die Flaxman in einer archaischen Medusenfratze entdeckte, beschwor er zugleich in seinen puristischen Umrißstichen. Zur selben Zeit wetterte Caspar David Friedrich ebenso gegen naturalistische Wachsfiguren wie gegen eitle "Pinselbraveure"; er war überzeugt, daß Raffael heute nicht "wie jene" (die Nazarener) malen würde, zugleich aber entschied er sich für die "freie geistige Nachbildung der Natur". Solange wir nicht die komplizierte Dialektik der unterschiedlichen Primitivisten-Modi und -Theorien aufgearbeitet haben, müssen wir uns in den klassischen, auf Cicero zurückgehenden Antagonismen zurechtfinden (die Gombrich im Einleitungskapitel darlegt) und sie durchlässiger machen.
Gombrichs Essaysammlung bietet dafür eine stimulierende Ausgangsbasis. Nur selten treffen wir darin auf begründete Werturteile. Brancusis "Kuß" (für ein Grab auf dem Cimetière Montparnasse) wird zwar wirkungsvoll dem hingeschmolzenen "Kuß" von Rodin gegenübergestellt, aber nur von einer Negation beglaubigt: "Was immer wir von dieser innovativen Auffassung halten mögen, Sentimentalität kann man ihr nicht nachsagen." Der Vergleich bekräftigt eine kategorische Schlußfolgerung, die Lionello Venturi 1926 traf: Die Nachahmungsdoktrin verstellt den Blick auf den "aspetto creativo e autonomo dell'arte".
Gombrich hätte dem widersprochen, läßt er doch durchblicken, daß der an die Wiedergabe der Wahrnehmungsfakten gebundene Fortschritt letztlich die einzige ästhetische Leitwährung darstellt. Ihm fallen die Privilegien der Erstgeburt zu. Der Primitivismus kann demnach kein ebenbürtiger Partner sein, verhält er sich doch abweichend, widersprechend und oft negierend. Auf reaktives Verhalten eingeschränkt, ist er bloß ein Unruhestifter, dem der eigenständige Gegenentwurf versagt bleibt. Das sollte nicht überraschen, denn Gombrichs Titel spricht bescheiden von der Vorliebe für das Primitive, reduziert den Impetus der Gegenstimmen auf eine Geschmacksentscheidung. Nie würde Gombrich den Primitivisten zugebilligt haben, "ein Zeitalter zu Grabe zu tragen" (Runge).
Das Unbehagen an Geschmacksverneinungen, die sich vom genormten Schönen und von der Wahrnehmungswelt lossagen, gilt auch dem Verwirrungspotential der Primitivismen. Sie verunsichern, weil ihrer mehrsinnigen Vielformigkeit die maßstäblich verbürgte Einförmigkeit der genormten Kunstsprachen abgeht. Aus diesem Grund mußte Gombrich das Mittelalter ausklammern, denn die "mittelalterliche Kunstsprache", deren Vokabular und Syntax sein Lehrer Julius von Schlosser vor hundert Jahren jenseits von Fortschritt und Verfall ansiedelte, entledigte sich souverän der Nachahmungslehren und ihrer griechisch-römischen Maßstäbe. Diese kommen nun bloß als Renaissance-Episoden zu Wort. Die religiöse Kunst des Mittelalters, so vielgestaltig sie sich entfaltet, gehorcht keinem der Nachahmungskriterien. Hegel hat das nüchtern ausgesprochen: Für die Religion sind platte und sogar schlechte Bilder zweckmäßiger als die Madonnen Raffaels. Dieser sei deshalb "aus dem Prinzip der Kirche herausgetreten". Damit beginnt die ästhetische Selbstbezüglichkeit der Neuzeit.
Weil sie umgekehrt aus dem Prinzip dieser Kunst heraustraten, verweist Gombrich die Primitiven des zwanzigsten Jahrhunderts in eine Art Vorhölle. Er schiebt den ganzen Surrealismus in die Toleranzzone der Atelierspäße und Gschnasfeste ab. Gewiß, versichert er uns mit listigem Augenzwinkern, gab es an diesen vergänglichen Produkten manches zu lachen, und obendrein maßten sich ja die Surrealisten selbst keinen Kunststatus an. Duchamp, wen wundert's, wird der Lächerlichkeit preisgegeben; Dubuffet, als Weinhändler abqualifiziert, darf immerhin mit einer Abbildung abschreckend präsent sein. Dieses Vom-Tisch-Wischen bereitet Unbehagen, um es mild auszudrücken, denn nichts ist kränkender als das Ghetto des Lachkabinetts.
Was sich wie eine Mischung aus Geringschätzung, Unmut und Vorurteilen liest, hat einen intellektuellen Stammbaum, auf dessen Spur uns das Zwischenkapitel über die Verlockungen der Regression bringt. Es handelt von humoristischen Bilderzählungen des neunzehnten Jahrhunderts (Töpffer, Grandville, Cruikshank). Was dort an spielerischen Metamorphosen angeboten wird, läßt an die Vermischungen des Traumes denken. Daraus ergibt sich die fatale Freudsche Folgerung, daß diese Verwirrungen sich der Regression vom Ich in das Es verdanken. Damit sind die Sprachmittel der Karikatur, mit denen Gombrich sich zeitlebens beschäftigt hat, wieder marginalisiert - und dies mit einer Methode, die Verdrängungen bewußtmachen und beseitigen will. Sie sind auf den Status reduziert, den ihnen die "Encyclopédie" zuwies. Demnach entspringen sie einer "Ausschweifung der Einbildungskraft", der man sich nur zum Vergnügen und zur Entspannung bedienen dürfe. Diesen ausgegrenzten Freiraum teilen die Karikaturisten und die nonsense-imagery bei Gombrich noch heute mit der Narrenfreiheit der Surrealisten.
Zum Glück tritt dem unduldsamen ein anderer Gombrich gegenüber, der sich an das Goethe-Wort "Sind eben alles Menschen gewesen" hält. Eine der wenigen Farbabbildungen des Buches gibt eine köstliche Zeichnung von Elise, der Gombrichschen Familienköchin, wieder, angefertigt am 14. April 1922 und "dem lieben Ernst zum 14. Geburtstag" gewidmet. Es stehe nicht an, sagt Gombrich, dieses Bild "primitive" (in der englischen Wortbedeutung) zu nennen, solange wir nicht auch die Künstlerin so bezeichnen. Die Köchin als Künstlerin - das läßt an ein Wort von Schlosser denken, für den der "kunstlose" Liebesbrief einer Köchin in seinem Wesen dennoch "Kunst" war. Dahinter steht Schlossers von Benedetto Croce bezogene Unterscheidung zwischen "Stilgeschichte" und "Sprachgeschichte" der bildenden Kunst - ein Konzept, von dem die Primitivismus-Forschung manche Anregung beziehen könnte.
Ernst H. Gombrich: "The Preference for the Primitive". Episodes in the History of Western Taste and Art. Phaidon Press, Berlin 2002. 264 S., 12 Farb- u. 230 S/W-Abb., geb., 59,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main