How do we know what we think we know? The answer is evidence, but evidence is no simple thing. What counts as evidence in a scientific context or private dispute may not stand up in court. Frederick Schauer combines perspectives from law, statistics, psychology, and philosophy to assess the nature of evidence in the era of â fake news.â
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2022Der Lügendetektor ist gar nicht so schlecht
Frederick Schauer erkundet, wie Beweise und Tatsachen auf verschiedenen Feldern aussehen
Alles steht und fällt mit der empirischen Evidenz. Niemand wusste das besser als Sherlock Holmes. "Es ist ein schwerer Fehler", belehrt er Dr. Watson, "Theorien aufzustellen, bevor man über die entsprechenden Informationen verfügt. Man fängt unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen, anstatt die Theorien den Tatsachen anzupassen." In Zeiten, in denen korrekt durchgeführte Wahlen als "gestohlen" angeprangert werden und Echsen angeblich die Bevölkerung ganzer Staaten austauschen, wirken die Maximen des englischen Meisterdetektivs freilich wie aus einer anderen Welt. Aber der netzbasierte Wahnsinn hat auch sein Gutes. Es wird wieder über Tatsachen und Beweise, über Wahrheit und Lüge geredet.
In der Politik wird allerdings mit Vorliebe über Ziele und Strategien gestritten. Obwohl man doch, bevor es um die Beurteilung sozial- und innenpolitischer Maßnahmen geht, etwa einmal herausfinden könnte, ob die Armen wirklich immer ärmer werden, wie es die Linke unverdrossen behauptet, oder sich Kriminalität so rasant ausbreitet, wie die Rechte bar jedes Nachweises beteuert.
Wer die Beschäftigung mit Beweisfragen für eine langweilige Angelegenheit hält, den kann Frederick Schauers Buch vom Gegenteil überzeugen. Der langjährige Harvard-Professor erkundet in dreizehn Kapiteln die unterschiedlichen Arten von Beweisen und Beweismaßen, die Rolle der Experten vor Gericht und in der Öffentlichkeit, den Stellenwert der Wissenschaft und Forensik, die manipulative Kraft des Wunschdenkens. Er geht der Frage nach, wie man mithilfe von Statistiken die Wahrheit (oder die Unwahrheit) sagt, wie sich Lügen aufdecken lassen und wie es zu unbeabsichtigten, "ehrlichen" Falschaussagen kommt. Als amerikanischer Jurist ist er für diese Aufgabe prädestiniert, da man auf der anderen Seite des Atlantiks aufgrund der stärkeren Beteiligung von Laienrichtern detaillierten Beweisregeln eine größere Beachtung schenkt als in den vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung geprägten Rechtsordnungen.
Zumindest für alle, die nicht beruflich mit den Untiefen des Metiers befasst sind, hält Schauer die eine oder andere überraschende Einsicht bereit. So sei der Fingerabdruck, seit Sherlock Holmes' Tagen im öffentlichen Bewusstsein der Goldstandard zur Überführung von Kriminellen, keineswegs ein unfehlbares Beweismittel. Ähnliches gelte für andere aus Funk und Fernsehen bekannte Täterspuren wie Stoffreste, Haare, handschriftliche Notizen und Projektile. In der Tat hat eine im Jahr 2009 veröffentlichte Studie des National Research Council zur Zuverlässigkeit forensischer Untersuchungsmethoden erhebliche Defizite zutage gefördert, die sogar den Supreme Court auf den Plan riefen. Oft fehlt es an wissenschaftlichen Standards genügenden Kontrollexperimenten. Erst daraus ergibt sich aber eine belastbare Aussage über die Erfolgsquote der verschiedenen forensischen Disziplinen in der Praxis.
Umgekehrt wundert sich der Autor über den unverändert üblen Leumund des Lügendetektors, obwohl die einschlägige Forschung eine ganz andere Sprache spreche. Menschen seien ziemlich schlecht im Aufdecken von Lügen und vertrauten den Faustregeln einer Amateurpsychologie (Augenkontakt, Festigkeit der Stimme und so fort), die sich längst als unbrauchbar erwiesen hätten. Hingegen liege die Verlässlichkeit moderner Polygraphen bei immerhin rund achtzig Prozent. Keine über jeden Zweifel erhabene Methode, gewiss, aber kein Grund, einem Angeklagten die Möglichkeit zu verstellen, mittels Lügendetektor Vorbehalte gegenüber einer ihn belastenden Rekonstruktion des Tathergangs zu schüren, zumal der Einwand, das Resultat eines Polygraphen, sofern erst einmal zugelassen, werde zwangsläufig überschätzt, ebenfalls empirisch widerlegt sei. Auch auf ballistisches Fachwissen habe man ursprünglich nicht zurückgegriffen, um jemanden auf den elektrischen Stuhl zu bringen, sondern um ihn - wie 1915/16 im Fall des zu Unrecht des Mordes verdächtigen Landarbeiters Charlie Stielow - davor zu bewahren.
Schauer redet keiner naiven Faktengläubigkeit das Wort. Tatsachen belegen aus sich heraus gar nichts und enthalten als solche auch keine eindeutigen Handlungsanweisungen an die Politik, wie die Covid-Pandemie gezeigt hat. Zudem sind Fakten oft mit Wertungen verbunden. Und niemals darf der, der etwas beweisen möchte, Wahrscheinlichkeit (die hoch oder gering sein kann) mit Gewissheit verwechseln. Das alles ist aber kein Grund, sich auf eine generalisierte "soziale Konstruiertheit" von Tatsachen einzulassen, die ausgerechnet jene, welche sich als zivilgesellschaftliche Avantgarde und kritisches Korrektiv begreifen, in selbst verschuldete Unmündigkeit getrieben hat, aus der sie schwer herausfinden.
Dass Schauer nicht nur für Juristen und nicht nur über Gerichtsverfahren schreibt, vielmehr stets auch den Stellenwert des Beweises in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft im Blick hat, mag die eine oder andere Unschärfe mit sich bringen, ist aber im Großen und Ganzen eher Stärke denn Schwäche des Buches. Die Bedeutung der juristischen Epistemologie für die Genese der neuzeitlichen Wissensgesellschaft wäre noch deutlicher geworden, hätte der Verfasser sich über verstreute Verweise auf William Blackstone und andere Säulenheilige des Common Law hinaus auf die Geschichte des Beweisrechts eingelassen. Bereits im Spätmittelalter hatte das Nachdenken über rationale Beweismittel ein Niveau erreicht, das sich die Naturwissenschaften erst nach und nach aneigneten, indem sie auf direktem oder indirektem Weg die juristische Erkenntnislehre rezipierten. Wenn es gelänge, in diesem Geist den Respekt für empirische Evidenz wiederzubeleben, stünden wir am Ende, nicht am Anfang eines postfaktischen Zeitalters. DANIEL DAMLER
Frederick Schauer: "The Proof". Uses of Evidence in Law, Politics, and Everything Else.
Harvard University Press, London 2022. 320 S., geb., 27,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frederick Schauer erkundet, wie Beweise und Tatsachen auf verschiedenen Feldern aussehen
Alles steht und fällt mit der empirischen Evidenz. Niemand wusste das besser als Sherlock Holmes. "Es ist ein schwerer Fehler", belehrt er Dr. Watson, "Theorien aufzustellen, bevor man über die entsprechenden Informationen verfügt. Man fängt unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen, anstatt die Theorien den Tatsachen anzupassen." In Zeiten, in denen korrekt durchgeführte Wahlen als "gestohlen" angeprangert werden und Echsen angeblich die Bevölkerung ganzer Staaten austauschen, wirken die Maximen des englischen Meisterdetektivs freilich wie aus einer anderen Welt. Aber der netzbasierte Wahnsinn hat auch sein Gutes. Es wird wieder über Tatsachen und Beweise, über Wahrheit und Lüge geredet.
In der Politik wird allerdings mit Vorliebe über Ziele und Strategien gestritten. Obwohl man doch, bevor es um die Beurteilung sozial- und innenpolitischer Maßnahmen geht, etwa einmal herausfinden könnte, ob die Armen wirklich immer ärmer werden, wie es die Linke unverdrossen behauptet, oder sich Kriminalität so rasant ausbreitet, wie die Rechte bar jedes Nachweises beteuert.
Wer die Beschäftigung mit Beweisfragen für eine langweilige Angelegenheit hält, den kann Frederick Schauers Buch vom Gegenteil überzeugen. Der langjährige Harvard-Professor erkundet in dreizehn Kapiteln die unterschiedlichen Arten von Beweisen und Beweismaßen, die Rolle der Experten vor Gericht und in der Öffentlichkeit, den Stellenwert der Wissenschaft und Forensik, die manipulative Kraft des Wunschdenkens. Er geht der Frage nach, wie man mithilfe von Statistiken die Wahrheit (oder die Unwahrheit) sagt, wie sich Lügen aufdecken lassen und wie es zu unbeabsichtigten, "ehrlichen" Falschaussagen kommt. Als amerikanischer Jurist ist er für diese Aufgabe prädestiniert, da man auf der anderen Seite des Atlantiks aufgrund der stärkeren Beteiligung von Laienrichtern detaillierten Beweisregeln eine größere Beachtung schenkt als in den vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung geprägten Rechtsordnungen.
Zumindest für alle, die nicht beruflich mit den Untiefen des Metiers befasst sind, hält Schauer die eine oder andere überraschende Einsicht bereit. So sei der Fingerabdruck, seit Sherlock Holmes' Tagen im öffentlichen Bewusstsein der Goldstandard zur Überführung von Kriminellen, keineswegs ein unfehlbares Beweismittel. Ähnliches gelte für andere aus Funk und Fernsehen bekannte Täterspuren wie Stoffreste, Haare, handschriftliche Notizen und Projektile. In der Tat hat eine im Jahr 2009 veröffentlichte Studie des National Research Council zur Zuverlässigkeit forensischer Untersuchungsmethoden erhebliche Defizite zutage gefördert, die sogar den Supreme Court auf den Plan riefen. Oft fehlt es an wissenschaftlichen Standards genügenden Kontrollexperimenten. Erst daraus ergibt sich aber eine belastbare Aussage über die Erfolgsquote der verschiedenen forensischen Disziplinen in der Praxis.
Umgekehrt wundert sich der Autor über den unverändert üblen Leumund des Lügendetektors, obwohl die einschlägige Forschung eine ganz andere Sprache spreche. Menschen seien ziemlich schlecht im Aufdecken von Lügen und vertrauten den Faustregeln einer Amateurpsychologie (Augenkontakt, Festigkeit der Stimme und so fort), die sich längst als unbrauchbar erwiesen hätten. Hingegen liege die Verlässlichkeit moderner Polygraphen bei immerhin rund achtzig Prozent. Keine über jeden Zweifel erhabene Methode, gewiss, aber kein Grund, einem Angeklagten die Möglichkeit zu verstellen, mittels Lügendetektor Vorbehalte gegenüber einer ihn belastenden Rekonstruktion des Tathergangs zu schüren, zumal der Einwand, das Resultat eines Polygraphen, sofern erst einmal zugelassen, werde zwangsläufig überschätzt, ebenfalls empirisch widerlegt sei. Auch auf ballistisches Fachwissen habe man ursprünglich nicht zurückgegriffen, um jemanden auf den elektrischen Stuhl zu bringen, sondern um ihn - wie 1915/16 im Fall des zu Unrecht des Mordes verdächtigen Landarbeiters Charlie Stielow - davor zu bewahren.
Schauer redet keiner naiven Faktengläubigkeit das Wort. Tatsachen belegen aus sich heraus gar nichts und enthalten als solche auch keine eindeutigen Handlungsanweisungen an die Politik, wie die Covid-Pandemie gezeigt hat. Zudem sind Fakten oft mit Wertungen verbunden. Und niemals darf der, der etwas beweisen möchte, Wahrscheinlichkeit (die hoch oder gering sein kann) mit Gewissheit verwechseln. Das alles ist aber kein Grund, sich auf eine generalisierte "soziale Konstruiertheit" von Tatsachen einzulassen, die ausgerechnet jene, welche sich als zivilgesellschaftliche Avantgarde und kritisches Korrektiv begreifen, in selbst verschuldete Unmündigkeit getrieben hat, aus der sie schwer herausfinden.
Dass Schauer nicht nur für Juristen und nicht nur über Gerichtsverfahren schreibt, vielmehr stets auch den Stellenwert des Beweises in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft im Blick hat, mag die eine oder andere Unschärfe mit sich bringen, ist aber im Großen und Ganzen eher Stärke denn Schwäche des Buches. Die Bedeutung der juristischen Epistemologie für die Genese der neuzeitlichen Wissensgesellschaft wäre noch deutlicher geworden, hätte der Verfasser sich über verstreute Verweise auf William Blackstone und andere Säulenheilige des Common Law hinaus auf die Geschichte des Beweisrechts eingelassen. Bereits im Spätmittelalter hatte das Nachdenken über rationale Beweismittel ein Niveau erreicht, das sich die Naturwissenschaften erst nach und nach aneigneten, indem sie auf direktem oder indirektem Weg die juristische Erkenntnislehre rezipierten. Wenn es gelänge, in diesem Geist den Respekt für empirische Evidenz wiederzubeleben, stünden wir am Ende, nicht am Anfang eines postfaktischen Zeitalters. DANIEL DAMLER
Frederick Schauer: "The Proof". Uses of Evidence in Law, Politics, and Everything Else.
Harvard University Press, London 2022. 320 S., geb., 27,95 Euro.
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