Produktdetails
  • Verlag: Harper
  • ISBN-13: 9780062123275
  • Artikelnr.: 33865192
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2012

Die Führungskraft, die alles schafft?
Gründliche Biographie über den republikanischen Kandidaten Mitt Romney

"Eine Masse aus verfaultem Eiter und schimmelnder Gänsehaut; ein Stinktier mit dem Gesicht eines Affen, dem Charakter einer Laus, dem Atem eines Bussards und dem Lebenslauf eines Eidbrechers und notorischen Säufers." Verglichen mit diesem Leitartikel der Zeitung "The Apache Chief" aus dem Jahr 1884, sind noch die negativsten Werbespots aus dem gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampf Zeugnisse unverwüstlicher Nächstenliebe. Miles P. Romney, der Urgroßvater des Kandidaten, lebte damals mit seiner großen Familie in Arizona. Den Vornamen und den Beruf des Zimmermanns hatte er vom Vater geerbt, einem der ersten Engländer, die sich von den Missionaren des Propheten Joseph Smith nach Amerika locken ließen.

Brigham Young, der Nachfolger des 1844 von einem Mob ermordeten Smith als Präsident der Kirche, schickte die Romneys dorthin, wo es etwas zu bauen gab, einen Tempel oder sogar eine ganze Stadt. Überall, wo sie hinkamen, sahen sich die Mormonen dem Hass der anderen Siedler ausgesetzt. 1862, mitten im Bürgerkrieg, unterzeichnete Präsident Lincoln ein Gesetz, welches das mormonische Institut der Vielehe verbot. Als die Zentralregierung das Verbot mit militärischer Gewalt durchsetzte, sandte die Kirche ihren treuen Baumeister Miles P. Romney mit seinen drei Frauen nach Mexiko. In einer Kolonie dort sollte die Polygamie überleben. Mitt Romneys Vater George wurde 1907 in Mexiko geboren. Fünf Jahre später wurden die Romneys wieder vertrieben. Als Revolutionäre die Farmen der Mormonen okkupierten, flohen viele Familien in die Vereinigten Staaten, wo sie Starthilfe aus dem Bundeshaushalt erhielten. Die Kirche hatte die Polygamie in der Zwischenzeit auf Weisung von oben abgeschafft.

Michael Kranish und Scott Helman, Redakteure des "Boston Globe", legen in ihrer so gründlichen wie fairen Biographie nahe, dass diese Verfolgungserfahrungen mehrerer Generationen tiefe Spuren im Selbstverständnis und Habitus von Mitt Romney hinterlassen haben. Einem mormonischen Freund sagte er einmal, die Romneys seien so gebaut, dass sie gegen den Strom schwimmen könnten: Man solle ihm getrost die unangenehmen Aufgaben überlassen. Das Metier dieser Patriarchensippe ist Aufbauarbeit in feindlicher Umgebung. "Gene der Führungskraft" hätten die Väter den Söhnen vererbt, meinen die Autoren. Das gewagte Bild fällt zwar aus dem Rahmen ihrer nüchternen Analyse von Romneys Karriere, harmoniert aber mit dem weltanschaulichen Hintergrund der mormonischen Theologie. Die Lehre des Propheten Smith, dass die Menschen die Kraft haben, sich zu gottgleicher Stellung emporzuarbeiten, war eine volkstümliche Fassung von Spekulationen der frühen Evolutionstheorie.

Bis heute erweist sich diese Ideenverbindung als fruchtbar im gewaltigen Erfolg der von mormonischer praktischer Theologie inspirierten Selbsthilfeliteratur. Stephen R. Covey, der unlängst verstorbene Autor des Bestsellers "Seven Habits of Highly Effective People", besaß einen religionspädagogischen Doktortitel der Brigham-Young-Universität. Im Wahlkampf präsentiert sich Romney als Fachmann, der die "Sieben Gewohnheiten hocheffizienter Volkswirtschaften" aufzählen kann. Als er 1966 für zwei Jahre als Missionar nach Frankreich ging, hatte er einen Klassiker des Genres im Gepäck: Ein Kirchenoberer aus Utah hatte ihm das 1937 erschienene Buch "Think and Grow Rich" von Napoleon Hill empfohlen. Auf einem Schulungsseminar von Missionaren hielt Romney, ein 19 Jahre alter Student aus Stanford und Sohn des Gouverneurs von Michigan, einen Vortrag, den ein Zuhörer mit dem Satz zusammenfasste, dass "wir alles im Leben erreichen können, was wir wollen, wenn wir es nur heftig genug wollen". Das entspricht dem Lehrstoff von Hill.

Am 16. Juni 1968 verursachte ein katholischer Priester in Südfrankreich einen Autounfall, bei dem die Frau des Präsidenten der Pariser Mormonenmission starb. Der Chef-Missionar wurde schwer verletzt. Romney, der am Steuer des mormonischen Citroen gesessen hatte, wurde von der Polizei voreilig für tot erklärt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fiel ihm die provisorische Leitung der Pariser Filiale der mormonischen Weltkirche zu. Wie seine Biographen unter Berufung auf einen Missionarskollegen berichten, sah er "die Krise als Gelegenheit, einige eingefahrene Abläufe zu ändern". Er habe so viele Ideen produziert, dass seine Initiativen das unter Schock stehende und durch die Mai-Ereignisse ohnehin schon verunsicherte Personal überfordert hätten. Der junge Mann war von den Toten zurückgekehrt - als der künftige Unternehmensberater und Risikokapitalmanager.

Im Februar 1999 übernahm der Gründer von Bain Capital als Nothelfer die Präsidentschaft des Organisationskomitees der Olympischen Winterspiele von Salt Lake City. Der Skandal um die Bestechung von Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees drohte das Ansehen der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" zu beschädigen. Romneys Frau Ann, die mit ihren Geschwistern aufgrund seiner missionarischen Bemühungen konvertiert war, erklärte seine Zusage in Salt Lake City so: "Er liebt Notfälle und Katastrophen." Die Krise als Chance: Dieser Gemeinplatz der Managerliteratur hat vor dem mormonischen Erfahrungshintergrund einen abgründigen Sinn. Die extravaganten Verheißungen des spirituellen und materiellen Aufstiegs finden ihre Verbürgung gerade in den Erinnerungen an himmelschreiendes Unrecht, an Massenmord, Exodus und Outlaw-Dasein.

Als Wirtschaftspolitiker ist Romney ein Schüler Joseph Schumpeters. In der großen Zahlungskrise von 2008 wollte er sogar die Automobilindustrie von Detroit, in der es sein Vater zum Konzernlenker gebracht hatte, dem Schicksal der schöpferischen Zerstörung überlassen. Die beiden Biographen machen hier einen Widerspruch oder besser: eine produktive, ja lukrative Spannung zwischen Doktrin und Person aus. Romneys frühere Partner charakterisieren ihn als außerordentlich risikoscheu. Wie konnte er es dann ausgerechnet in der Private-Equity-Branche zu solchem märchenhaften Reichtum bringen, wie ihn der junge Joseph Smith vor dem Fund der Goldtafeln des Buchs Mormon als Schatzgräber gesucht hatte? Indem Romney jedes Investitionsprojekt mit kritischen Fragen bombardierte. Wie der Teufel nach einem englischen Sprichwort die besten Melodien hat, strich sein Advokat die höchsten Boni ein.

Romney habe befürchtet, erzählt ein Vertrauter, dass ein einziger Flop seinen Ruf vernichten könnte. So hatte sein Vater durch ein einziges unvorsichtiges Wort in einem Fernsehinterview ("Gehirnwäsche") seine Chancen als Präsidentschaftskandidat ruiniert. Die Trennung von Bain Capital zugunsten der Mission in Salt Lake City gestaltete sich schwierig und hat Romney jetzt im Wahlkampf wieder eingeholt. An einem Punkt der Krise fielen er und ein Kollege auf die Knie, um für das Überleben der Firma zu beten.

Mit bemerkenswerter Offenheit hat Romney bekannt, dass sein Glaube vor der Bewährungsprobe in Frankreich "zum Zerreißen dünn" war. In Michigan, erläutern die Autoren, gab es in seiner Jugend das für mormonische Gemeinden typische Netzwerk intensiver privater Solidarität nicht. Umso wichtiger war es für Romney, in Boston später solche moralischen Gemeinschaftsstrukturen aufzubauen. Dass Romney nicht aus sich herausgeht und bei öffentlichen Auftritten bisweilen wie abwesend wirkt, erklären Kranish und Helman damit, dass die Kontaktenergien der Mormonen von ihrem ungeheuer zeitaufwendigen Gemeindeleben absorbiert werden. Romneys Zurückhaltung ist die Höflichkeit des Missionars, der damit rechnet, dass die übergroße Zahl seiner Landsleute ihn für einen Fanatiker hält. Die Mormonen leben noch heute als verschworene Gemeinschaft von Pionieren mitten in ihrem Gelobten Land.

PATRICK BAHNERS

Michael Kranish/Scott Helman: The Real Romney. Verlag HarperCollins, New York 2012. 416 S., 17,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr