Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2021Verantwortung zur Verteidigung
Das sicherheitspolitische Aufgabenpaket für die kommende Bundesregierung
Dieses Buch zur Zukunft der deutschen Sicherheitspolitik ist nicht typisch für Deutschland. Es moralisiert nicht. Es romantisiert nicht. Es verklärt nicht. Im Gegenteil: Es beschreibt kühl und nüchtern die aktuelle Situation für die Bundesrepublik in der Welt. Es benennt klar und deutlich deutsche Defizite im Denken wie Handeln. Und es mahnt unmissverständlich, diese Defizite möglichst rasch zu beheben - spätestens mit Amtsantritt der neuen Bundesregierung.
Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle sind die Autoren dieses untypischen Buches. Blickt man auf ihre beruflichen Werdegänge, kann man erahnen, woran das liegt: Sie schauen auf Deutschlands Sicherheitspolitik weniger durch die Brille deutscher Innenpolitik, wie es bis heute Tradition in Berlin hat, sondern nähern sich ihrem Gegenstand vor allem von außen, aus der Perspektive der gegenwärtigen Gemengelagen in der Welt. Sie können dies, da sie selbst zu Beobachtern ihrer Heimat von außen geworden sind: der gebürtige Bremer Bastian Giegerich nach zahlreichen Forschungs- und Berufsstationen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland - dort auch im Bundesverteidigungsministerium - als heutiger Director of Defence and Military Analysis des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London; der Oberstleutnant der Reserve der Bundeswehr Maximilian Terhalle nach vielfältigen Verwendungen ebenfalls in Deutschland und den USA, aber auch in China, Ägypten und wiederholt Großbritannien, wo er unter anderem Berater des britischen Verteidigungsministeriums war, als heutiger Visiting Professor bei LSE IDEAS, einer außenpolitischen Denkfabrik der London School of Economics and Political Science.
Giegerich und Terhalle treffen mit ihrem Buch den sicherheitspolitischen Nerv einer Zeit des Übergangs in Deutschland. Wohin soll es gehen? Mit wem? Gegen wen? Wobei letztere Frage in Berlin immer noch auffallend wenig gestellt wird - im Gegensatz zu Washington, London oder Paris, wo es seit jeher zum strategischen Alltag gehört, in Freund wie Feind zu denken und zu handeln, wenn auch meist zeitlich befristet, eben der Realität der sich immer wieder verändernden Lagen geschuldet. Der Glaube oder die Vorstellung, hier könne es eine lineare Entwicklung geben, ist ebenfalls eine deutsche Besonderheit, die ein ahistorisches Denken ausgerechnet in dem Land widerspiegelt, das von sich bis heute behauptet, aus der Geschichte gelernt zu haben.
Und eben diesem, ihrem Land erweisen Giegerich und Terhalle einen großen Dienst, wenn sie ihm zumindest ein paar sicherheitspolitische Leitplanken mit auf den Weg in die Zeit nach Angela Merkel geben: Wie bei vielen Beobachtern derzeit wirkt auch bei ihnen das Scheitern in Afghanistan nach. Wie viele betrachten auch sie die Ära humanitärer Einsätze als weltpolitisch beendet. Allerdings prognostizieren sie eine anhaltende Konstanz bei Einsätzen zur Terrorismusbekämpfung und zur Prävention oder zur Beendigung von Genoziden.
Dieser "Responsibility to Protect", dieser Schutzverantwortung als Konzept internationaler Politik und des Völkerrechts zum Schutz des Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts, stellen Giegerich und Terhalle die "Responsibility to Defend" gegenüber, verstanden als Verteidigung der westlichen Weltordnung. Diese ist nach ihrem Verständnis nicht allein deswegen westlich geprägt, da sie auf einer freiheitlichen Werteorientierung beruht, sondern vor allem auch aufgrund des - noch bestehenden - materiellen Machtübergewichts des Westens.
Doch eben diese ideelle und materielle Machtgrundlage wird zunehmend durch andere Mächte infrage gestellt. Giegerich und Terhalle erkennen darin einen globalen Kampf um Machtdominanz, der mit allen verfügbaren Machtmitteln - außer unmittelbar kriegerischen bislang - um die Zukunft der westlichen Ordnung geführt wird. Dies soll nach ihrer Empfehlung zur Kernerkenntnis in Deutschland und damit zum Ausgangspunkt aller zukünftigen Debatten zur Außen- und Sicherheitspolitik werden. Denn in ihren Augen gilt: Die Deutschen mögen sich an diese Ordnung als gleichsam natürlich gewöhnt haben. Sie ist aber nicht natürlich. Sie ist vergänglich, wird sie nicht, so klug wie robust, strategisch bewahrt.
In der Gewöhnung an diese Ordnung hat sich in der Beobachtung der Autoren auch eine Geisteshaltung als dominant erwiesen, die eine friedliche und institutionalisierte Lösung von Konflikten innerhalb der Europäischen Union verinnerlicht hat. Dies ist nach ihrer Analyse gut, führt aber bei der Auseinandersetzung mit den manifesten Machtambitionen und harten Machtmitteln anders geprägter Mächte zu Fehleinschätzungen, die schwerwiegende Folgen haben für den Schutz der Voraussetzungen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand in Deutschland und Europa.
Umso mehr empfehlen Giegerich und Terhalle ihrem Heimatland die zügige Herausbildung eines strategischen Ansatzes, der Macht als Axiom der Weltpolitik sieht. Dieser Ansatz betrachtet das stete Befördern der eigenen Stärke und ebenso das stete Schwächen der expliziten Feinde des Westens als fundamental. Militärische Macht wird dabei als eine zwingend notwendige Komponente internationaler Politik gesehen - ob als glaubwürdige Abschreckung oder als Instrument der Abwendung und Durchsetzung von Gewalt.
Damit gelangen Giegerich und Terhalle nicht nur zum strategischen, sondern auch zum operativen Kern ihres Ansatzes: dem Russland-China-Nexus der NATO. Ihnen geht es hier um den chinesischen Faktor bezüglich der Abschreckungskraft der NATO. Da sie einen Krieg zwischen China und den Vereinigten Staaten nicht für unwahrscheinlich halten, sollen sich die Europäer darauf vorbereiten, dass Washington in einem solchen Fall gegebenenfalls abrupt sein gesamtes militärisches Gewicht in die ostasiatische Waagschale werfen würde, wodurch wiederum die Glaubwürdigkeit der Abschreckung von Putins Russland durch die NATO massiv sinken würde.
Die psychologische Negativwirkung auf die Binnenkohäsion des Bündnisses durch eine derartige Konzentration auf Peking durch die USA schätzen Giegerich und Terhalle als immens ein. Nach ihrer Prognose wüsste Moskau eine solche historische Gelegenheit zu nutzen - zumindest würde der Kreml einen erheblichen Preis bei einer dann wahrscheinlichen Neugestaltung Europas verlangen.
Damit derlei Szenarien nicht Wirklichkeit werden, benennen Giegerich und Terhalle überfällige Konsequenzen: Deutschland stärkt machtvoll die konventionelle Abschreckungskraft der europäischen NATO-Mitglieder und übernimmt im politischen Begleitprozess die Führung. Die eigentliche Lebensversicherung Europas soll ein nuklearer "Eurodeterrent" sein, integriert in die NATO-Strukturen und basierend auf den bestehenden Kapazitäten von Frankreich und Großbritannien. Auch hier könnte Deutschland dann "mehr Verantwortung" übernehmen - wie es in Berlin allmählich inflationär gefordert, aber bislang nicht stringent umgesetzt wird. Helfen könnten dabei die schon seit fast zwei Jahrzehnten geforderte nationale Sicherheitsstrategie und das bis in den Bundestagswahlkampf vorgedrungene Konzept eines nationalen Sicherheitsrats. THOMAS SPECKMANN
Bastian Giegerich/ Maximilian Terhalle: "The Responsibility to Defend". Rethinking Germany's Strategic Culture.
Routledge, Abingdon 2021. 148 S., 16,99 £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das sicherheitspolitische Aufgabenpaket für die kommende Bundesregierung
Dieses Buch zur Zukunft der deutschen Sicherheitspolitik ist nicht typisch für Deutschland. Es moralisiert nicht. Es romantisiert nicht. Es verklärt nicht. Im Gegenteil: Es beschreibt kühl und nüchtern die aktuelle Situation für die Bundesrepublik in der Welt. Es benennt klar und deutlich deutsche Defizite im Denken wie Handeln. Und es mahnt unmissverständlich, diese Defizite möglichst rasch zu beheben - spätestens mit Amtsantritt der neuen Bundesregierung.
Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle sind die Autoren dieses untypischen Buches. Blickt man auf ihre beruflichen Werdegänge, kann man erahnen, woran das liegt: Sie schauen auf Deutschlands Sicherheitspolitik weniger durch die Brille deutscher Innenpolitik, wie es bis heute Tradition in Berlin hat, sondern nähern sich ihrem Gegenstand vor allem von außen, aus der Perspektive der gegenwärtigen Gemengelagen in der Welt. Sie können dies, da sie selbst zu Beobachtern ihrer Heimat von außen geworden sind: der gebürtige Bremer Bastian Giegerich nach zahlreichen Forschungs- und Berufsstationen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland - dort auch im Bundesverteidigungsministerium - als heutiger Director of Defence and Military Analysis des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London; der Oberstleutnant der Reserve der Bundeswehr Maximilian Terhalle nach vielfältigen Verwendungen ebenfalls in Deutschland und den USA, aber auch in China, Ägypten und wiederholt Großbritannien, wo er unter anderem Berater des britischen Verteidigungsministeriums war, als heutiger Visiting Professor bei LSE IDEAS, einer außenpolitischen Denkfabrik der London School of Economics and Political Science.
Giegerich und Terhalle treffen mit ihrem Buch den sicherheitspolitischen Nerv einer Zeit des Übergangs in Deutschland. Wohin soll es gehen? Mit wem? Gegen wen? Wobei letztere Frage in Berlin immer noch auffallend wenig gestellt wird - im Gegensatz zu Washington, London oder Paris, wo es seit jeher zum strategischen Alltag gehört, in Freund wie Feind zu denken und zu handeln, wenn auch meist zeitlich befristet, eben der Realität der sich immer wieder verändernden Lagen geschuldet. Der Glaube oder die Vorstellung, hier könne es eine lineare Entwicklung geben, ist ebenfalls eine deutsche Besonderheit, die ein ahistorisches Denken ausgerechnet in dem Land widerspiegelt, das von sich bis heute behauptet, aus der Geschichte gelernt zu haben.
Und eben diesem, ihrem Land erweisen Giegerich und Terhalle einen großen Dienst, wenn sie ihm zumindest ein paar sicherheitspolitische Leitplanken mit auf den Weg in die Zeit nach Angela Merkel geben: Wie bei vielen Beobachtern derzeit wirkt auch bei ihnen das Scheitern in Afghanistan nach. Wie viele betrachten auch sie die Ära humanitärer Einsätze als weltpolitisch beendet. Allerdings prognostizieren sie eine anhaltende Konstanz bei Einsätzen zur Terrorismusbekämpfung und zur Prävention oder zur Beendigung von Genoziden.
Dieser "Responsibility to Protect", dieser Schutzverantwortung als Konzept internationaler Politik und des Völkerrechts zum Schutz des Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts, stellen Giegerich und Terhalle die "Responsibility to Defend" gegenüber, verstanden als Verteidigung der westlichen Weltordnung. Diese ist nach ihrem Verständnis nicht allein deswegen westlich geprägt, da sie auf einer freiheitlichen Werteorientierung beruht, sondern vor allem auch aufgrund des - noch bestehenden - materiellen Machtübergewichts des Westens.
Doch eben diese ideelle und materielle Machtgrundlage wird zunehmend durch andere Mächte infrage gestellt. Giegerich und Terhalle erkennen darin einen globalen Kampf um Machtdominanz, der mit allen verfügbaren Machtmitteln - außer unmittelbar kriegerischen bislang - um die Zukunft der westlichen Ordnung geführt wird. Dies soll nach ihrer Empfehlung zur Kernerkenntnis in Deutschland und damit zum Ausgangspunkt aller zukünftigen Debatten zur Außen- und Sicherheitspolitik werden. Denn in ihren Augen gilt: Die Deutschen mögen sich an diese Ordnung als gleichsam natürlich gewöhnt haben. Sie ist aber nicht natürlich. Sie ist vergänglich, wird sie nicht, so klug wie robust, strategisch bewahrt.
In der Gewöhnung an diese Ordnung hat sich in der Beobachtung der Autoren auch eine Geisteshaltung als dominant erwiesen, die eine friedliche und institutionalisierte Lösung von Konflikten innerhalb der Europäischen Union verinnerlicht hat. Dies ist nach ihrer Analyse gut, führt aber bei der Auseinandersetzung mit den manifesten Machtambitionen und harten Machtmitteln anders geprägter Mächte zu Fehleinschätzungen, die schwerwiegende Folgen haben für den Schutz der Voraussetzungen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand in Deutschland und Europa.
Umso mehr empfehlen Giegerich und Terhalle ihrem Heimatland die zügige Herausbildung eines strategischen Ansatzes, der Macht als Axiom der Weltpolitik sieht. Dieser Ansatz betrachtet das stete Befördern der eigenen Stärke und ebenso das stete Schwächen der expliziten Feinde des Westens als fundamental. Militärische Macht wird dabei als eine zwingend notwendige Komponente internationaler Politik gesehen - ob als glaubwürdige Abschreckung oder als Instrument der Abwendung und Durchsetzung von Gewalt.
Damit gelangen Giegerich und Terhalle nicht nur zum strategischen, sondern auch zum operativen Kern ihres Ansatzes: dem Russland-China-Nexus der NATO. Ihnen geht es hier um den chinesischen Faktor bezüglich der Abschreckungskraft der NATO. Da sie einen Krieg zwischen China und den Vereinigten Staaten nicht für unwahrscheinlich halten, sollen sich die Europäer darauf vorbereiten, dass Washington in einem solchen Fall gegebenenfalls abrupt sein gesamtes militärisches Gewicht in die ostasiatische Waagschale werfen würde, wodurch wiederum die Glaubwürdigkeit der Abschreckung von Putins Russland durch die NATO massiv sinken würde.
Die psychologische Negativwirkung auf die Binnenkohäsion des Bündnisses durch eine derartige Konzentration auf Peking durch die USA schätzen Giegerich und Terhalle als immens ein. Nach ihrer Prognose wüsste Moskau eine solche historische Gelegenheit zu nutzen - zumindest würde der Kreml einen erheblichen Preis bei einer dann wahrscheinlichen Neugestaltung Europas verlangen.
Damit derlei Szenarien nicht Wirklichkeit werden, benennen Giegerich und Terhalle überfällige Konsequenzen: Deutschland stärkt machtvoll die konventionelle Abschreckungskraft der europäischen NATO-Mitglieder und übernimmt im politischen Begleitprozess die Führung. Die eigentliche Lebensversicherung Europas soll ein nuklearer "Eurodeterrent" sein, integriert in die NATO-Strukturen und basierend auf den bestehenden Kapazitäten von Frankreich und Großbritannien. Auch hier könnte Deutschland dann "mehr Verantwortung" übernehmen - wie es in Berlin allmählich inflationär gefordert, aber bislang nicht stringent umgesetzt wird. Helfen könnten dabei die schon seit fast zwei Jahrzehnten geforderte nationale Sicherheitsstrategie und das bis in den Bundestagswahlkampf vorgedrungene Konzept eines nationalen Sicherheitsrats. THOMAS SPECKMANN
Bastian Giegerich/ Maximilian Terhalle: "The Responsibility to Defend". Rethinking Germany's Strategic Culture.
Routledge, Abingdon 2021. 148 S., 16,99 £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main