Oskar Voxlauer ist auf der Flucht vor seiner Vergangenheit, vor allem vor seinen traumatischen Erinnerungen an die Kämpfe des Ersten Weltkrieges an der italienischen Front 1917. Er hat sich in die österreichische Kleinstadt zurückgezogen, in der er aufgewachsen ist, und lebt dort in den Bergen, entschlossen, eine verborgene, einsame Existenz zu führen. Aber es ist das Jahr 1938, und er kann den wachsenden Spannungen in seinem Heimatland nicht ausweichen. Der Anschluss Österreichs steht dicht bevor, und die Nazis sind schon da - auch in dieser abgelegenen Kleinstadt. Voxlauers Wohltäter, ein jüdischer Gasthausbesitzer, der ihm die Hütte in den Bergen gegeben hat, wird von den neuen Machthabern in den Ruin getrieben. Voxlauer selbst gerät in Gefahr, und das Einzige, was ihn zunächst rettet, ist der Respekt der Gemeinde vor seinen Eltern. Zugleich zieht ihn seine wachsende Liebe zu der geheimnisvollen Else Bauer ins Leben der Stadt zurück. Else Bauer aber ist die Kusine des neuen SS-Führers in der Kleinstadt...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2002Der Waldhüter
Ein amerikanisches Debüt: John Wrays großer Österreich-Roman
Nur die Christl von der Post fehlt. Sonst sind in John Wrays Roman "Die rechte Hand des Schlafes" alle Versatzstücke einer alpenländischen Nachkriegs-Schnulze da, der ominöse Wind in den Wipfeln, das blitzende Farbenspiel der Fische im gefilterten Licht, ein einsamer Waldhüter (natürlich Amateur), die hohe und leidgeprüfte Frau, die plötzlich aus den Tannen tritt, ein dubioser SS-Offizier und die dumpfen Nazis auf den Bauernhöfen. Ich war mir lange nicht gewiß, ob das (Heimatroman oder Anti-Heimatroman) noch gutgehen kann; und die loyale und kunstvolle Übersetzung von Peter Knecht, die das Ganze so mühelos und poetisch ins Adalbert-Stiftersche zu schieben scheint, hat meine Zweifel eher gesteigert als vermindert.
Das amerikanische Buch wird durch die Übertragung ins Deutsche in eine Traditionssphäre gedrängt, die es im Amerikanischen gar nicht gibt (es sei denn bei James Fenimore Cooper, den einer der Charaktere ironisch zitiert), und die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß man diesem Roman gerade in seinem deutschen Gewande mißtrauen wird, ohne ihn gründlich gelesen zu haben. Jeder gute Roman ist eine Intelligenzprobe, nicht nur des Autors. Mit Bedacht gesagt: "Die rechte Hand des Schlafes" ist das rühmenswerte Meisterstück eines einunddreißigjährigen Schriftstellers, der mit seinem ersten Buch die Szene der internationalen Literatur bescheiden und zugleich mit Entschiedenheit betritt. Mit einer solchen Souveränität, politisch korrekt oder nicht, hat schon lange niemand zu erzählen gewagt.
Es wäre einfach zu behaupten, daß dieser Roman vom Waldgebirge und dem Anschluß Österreichs an das Großdeutsche Reich über Natur und Geschichte handelt. Das haben viele amerikanische Kritiker gesagt, aber es genügt nicht. John Wray konfrontiert uns mit Charakteren, die selbst nicht immer genau wissen, ob sie das Gute oder das Böse tun, und er zeigt uns, wie die Geschichte ins Gebirge emporsteigt und jedes individuelle Leben, auch gegen seinen störrischen Widerstand, so oder so politisiert.
Der Waldhüter, der ja keiner ist (sondern Sohn eines beliebten Operettenkomponisten und einer Sängerin, die sich in die Provinz zurückgezogen haben), mag sich am Funkeln der Forellen und am schönen Geschwirre der alljährlich wiederkehrenden Schmetterlinge freuen, aber das sind Illusionen. Denn die Fischzucht und der Wald, den er hüten soll, gehören einem Freunde der Familie, dem jüdischen Gastwirt Ryslavy unten in der Kleinstadt, und als der nationalsozialistische Mob, angeführt von dem konkurrierenden arischen Gastwirt, Ryslavys Wirtschaft zerstört und plündert, beginnt der Waldhüter endlich zu begreifen, in welchem Netz er gefangen ist - zusammen mit seiner geliebten Else, die manchmal nach Walderdbeeren, manchmal nach Schnaps riecht und sich seiner angenommen hat, ohne ihm zu gestehen, daß sie nicht nur die Kusine des neuen Gestapochefs im Tale ist, sondern auch dessen frühere Geliebte und Mutter seiner nun siebenjährigen Tochter.
Also noch ein "Bergroman", von einem Nachfolger Hermann Brochs? Mitnichten, denn Wray ist dem Mythischen und der Psychologie der Massen ganz und gar abgeneigt, und ich bin versucht (Germanisten, bitte nicht herhören), sein Kapitel von den Fährnissen eines kleinen und harmlosen Vegetarierkollektivs, das sich in die Berge zurückgezogen hat (eine Post1968er-Kommune, ein wenig vordatiert), als Parodie auf Brochs beängstigende Sekte aufzufassen; und während der gefährliche Marius Ratti seine Leute in einen neuen zerstörerischen Wahn stürzt, erweist sich Herr Piedernig, welcher der Kommune väterlich vorsteht, als sympathischer Scharlatan, der mit seinen Männern, Frauen und Kindern über die Gipfel nach Italien flüchten will (es geht aber nicht gut aus).
John Wray ist, seiner Mutter nach, ebenfalls aus Österreich, aber er ist als Epiker ein instinktiver Wiener Neopositivist, der auf dem Konkreten, Gegenständlichen und Einzelnen besteht (nicht auf panoramatischen Abstraktionen) und sich nicht scheut, Antworten auszusparen und sie der denkenden Leserschaft zu überlassen. Das alles beginnt in der Kärtner Jugend Oskar Voxlauers, der mit kaum siebzehn Jahren an die Isonzofront kommandiert wird und, nach einem feindlichen Volltreffer in seiner Batterie, hinter seiner Truppe zurückbleibt, konfus und ohne Waffe. Von österreichischen Husaren aufgegriffen, die ihn der Fahnenflucht verdächtigen, wird er vor einen Offizier gebracht, der ihm befiehlt, einen Deserteur, der vor ihm im Schnee kniet, zu erschießen, und er folgt dem Befehl, noch immer verwirrt und halb im Bewußtsein, sein eigenes Leben zu retten. Am nächsten Tage desertiert er mit tschechischen Soldaten, schlägt sich durch Ungarn, wo die bolschewistische Revolution ausgebrochen ist, in die Ukraine, wo er in der kleinen Bauernwirtschaft bei der tapferen Anna eine Zuflucht findet und ihr dann, aus freiem Willen und ungeachtet seiner leninistischen Flausen, in ein Zwangsarbeitslager für Kulaken folgt.
Im März 1938 sitzt der Spätheimkehrer im Zug nach Österreich, die Nationalsozialisten sind eben im Begriffe, die Macht zu ergreifen, und seine Mutter wartet im alten Haus. Er will aber nicht mehr unter Leute, erprobt sich als ungelenker Waldhüter und wird von der geheimnisvollen Else gepflegt und geliebt, als er sich eine Schrotladung in die Beine jagt. Sie sagt ihm lange nichts über den Gestapokommandanten, für sie nur "Kurti", der seine eigene Vergangenheit hat, über die er nicht spricht. In einem hervorragenden Kapitel des Romans erzählt Kurti selbst, wie er unter den Nazi-Putschisten war, die im Sommer 1934 das Wiener Kanzleramt erstürmten und Dollfuß töteten und wie es ihm gelang, durch eine Dachluke ins Freie zu fliehen, als der Putsch zusammenbrach. Er wird in Berlin, im Stabe Himmlers, der Fahnenflucht bezichtigt und darf sich und seine Karriere retten, indem er den unglückseligen Organisator des mißlungenen Putsches, welcher der Partei lästig geworden ist, auf Befehl der oberen Parteistellen erschießt. Der belohnte "Illegale" hält seine Hand über Else, die gemeinsame Tochter Resi, und den ehemals fahnenflüchtigen Voxlauer oben im Walde - aber wie lange?
Eine ganze Generation deutscher und österreichischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen suchte in den Jahrzehnten nach 1968 und mit wechselndem Glück, ihren politischen Roman zu schreiben. Jetzt kommt ein Dreißigjähriger aus Brooklyn, der aussieht wie ein begabter College-Student, und zeigt, wie man das machen kann, ruhig und mit einer epischen Selbstgewißheit, die man entweder hat oder nicht. Eine komplizierte Geschichte, aber nichts Ausgetüfteltes. Seine erste Tugend ist die des diskreten Erzählers, der seine lädierten Menschen akzeptiert, wie sie sind, gedrängt von ihrer Vergangenheit oder historischen Vorgängen: ob Else, die lügt, um Voxlauer nicht zu verlieren, ob Voxlauer, eher impulsiv und wortlos, wenn er einem Dorfnazi den Bierkrug gegen den Schädel haut oder seinen jüdischen Freund bittet (in Anwesenheit der Schutzstaffelleute), eine Rede am Grabe seiner Mutter zu halten.
Dieser Erzähler ist kein Besserwisser, der sich kritisch über seine Figuren erhebt, und seine Methode, aus wechselnden Blickpunkten zu sprechen - einmal als Epiker (die Gestalten in Distanz als Er und Sie) oder aus der Ich-Perspektive Voxlauers und Kurtis -, funktioniert ohne viel Aufhebens und ohne daß gar die Aufmerksamkeit auf das Kunstmittel selbst gelenkt würde. Im Anfang wählt er noch, mit Voxlauer, ein entsprechend schleppendes Zeitmaß, aber sobald sein Wider- und Gegenspieler Kurti auftaucht, steigert er das Tempo der Montage, vor allem gegen Ende, zu einer quälenden Dramatik, Schnitt für Schnitt, in einem Film, in dem es unmöglich wird, noch Atem zu holen.
Man widersteht aber der Spannung, weil man den Text nicht aus den Augen verlieren will; wie die Menschen miteinander reden, Else mit Voxlauer, aber auch Ryslavy mit den beiden, hat eine merkwürdige, spielerische oder gar selbstironische Formalität oder eine fast spröde Grandezza, die fast an das amerikanische "kidding" erinnert, den trockenen Konversationston Ebenbürtiger, die Vertrauen zu einander fassen, eine Möglichkeit der Intensität ohne Pathos oder Kitsch. Über diesen John Wray wird man noch viel reden müssen, pro und kontra, und das ist gut so.
John Wray: "Die rechte Hand des Schlafes". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein amerikanisches Debüt: John Wrays großer Österreich-Roman
Nur die Christl von der Post fehlt. Sonst sind in John Wrays Roman "Die rechte Hand des Schlafes" alle Versatzstücke einer alpenländischen Nachkriegs-Schnulze da, der ominöse Wind in den Wipfeln, das blitzende Farbenspiel der Fische im gefilterten Licht, ein einsamer Waldhüter (natürlich Amateur), die hohe und leidgeprüfte Frau, die plötzlich aus den Tannen tritt, ein dubioser SS-Offizier und die dumpfen Nazis auf den Bauernhöfen. Ich war mir lange nicht gewiß, ob das (Heimatroman oder Anti-Heimatroman) noch gutgehen kann; und die loyale und kunstvolle Übersetzung von Peter Knecht, die das Ganze so mühelos und poetisch ins Adalbert-Stiftersche zu schieben scheint, hat meine Zweifel eher gesteigert als vermindert.
Das amerikanische Buch wird durch die Übertragung ins Deutsche in eine Traditionssphäre gedrängt, die es im Amerikanischen gar nicht gibt (es sei denn bei James Fenimore Cooper, den einer der Charaktere ironisch zitiert), und die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß man diesem Roman gerade in seinem deutschen Gewande mißtrauen wird, ohne ihn gründlich gelesen zu haben. Jeder gute Roman ist eine Intelligenzprobe, nicht nur des Autors. Mit Bedacht gesagt: "Die rechte Hand des Schlafes" ist das rühmenswerte Meisterstück eines einunddreißigjährigen Schriftstellers, der mit seinem ersten Buch die Szene der internationalen Literatur bescheiden und zugleich mit Entschiedenheit betritt. Mit einer solchen Souveränität, politisch korrekt oder nicht, hat schon lange niemand zu erzählen gewagt.
Es wäre einfach zu behaupten, daß dieser Roman vom Waldgebirge und dem Anschluß Österreichs an das Großdeutsche Reich über Natur und Geschichte handelt. Das haben viele amerikanische Kritiker gesagt, aber es genügt nicht. John Wray konfrontiert uns mit Charakteren, die selbst nicht immer genau wissen, ob sie das Gute oder das Böse tun, und er zeigt uns, wie die Geschichte ins Gebirge emporsteigt und jedes individuelle Leben, auch gegen seinen störrischen Widerstand, so oder so politisiert.
Der Waldhüter, der ja keiner ist (sondern Sohn eines beliebten Operettenkomponisten und einer Sängerin, die sich in die Provinz zurückgezogen haben), mag sich am Funkeln der Forellen und am schönen Geschwirre der alljährlich wiederkehrenden Schmetterlinge freuen, aber das sind Illusionen. Denn die Fischzucht und der Wald, den er hüten soll, gehören einem Freunde der Familie, dem jüdischen Gastwirt Ryslavy unten in der Kleinstadt, und als der nationalsozialistische Mob, angeführt von dem konkurrierenden arischen Gastwirt, Ryslavys Wirtschaft zerstört und plündert, beginnt der Waldhüter endlich zu begreifen, in welchem Netz er gefangen ist - zusammen mit seiner geliebten Else, die manchmal nach Walderdbeeren, manchmal nach Schnaps riecht und sich seiner angenommen hat, ohne ihm zu gestehen, daß sie nicht nur die Kusine des neuen Gestapochefs im Tale ist, sondern auch dessen frühere Geliebte und Mutter seiner nun siebenjährigen Tochter.
Also noch ein "Bergroman", von einem Nachfolger Hermann Brochs? Mitnichten, denn Wray ist dem Mythischen und der Psychologie der Massen ganz und gar abgeneigt, und ich bin versucht (Germanisten, bitte nicht herhören), sein Kapitel von den Fährnissen eines kleinen und harmlosen Vegetarierkollektivs, das sich in die Berge zurückgezogen hat (eine Post1968er-Kommune, ein wenig vordatiert), als Parodie auf Brochs beängstigende Sekte aufzufassen; und während der gefährliche Marius Ratti seine Leute in einen neuen zerstörerischen Wahn stürzt, erweist sich Herr Piedernig, welcher der Kommune väterlich vorsteht, als sympathischer Scharlatan, der mit seinen Männern, Frauen und Kindern über die Gipfel nach Italien flüchten will (es geht aber nicht gut aus).
John Wray ist, seiner Mutter nach, ebenfalls aus Österreich, aber er ist als Epiker ein instinktiver Wiener Neopositivist, der auf dem Konkreten, Gegenständlichen und Einzelnen besteht (nicht auf panoramatischen Abstraktionen) und sich nicht scheut, Antworten auszusparen und sie der denkenden Leserschaft zu überlassen. Das alles beginnt in der Kärtner Jugend Oskar Voxlauers, der mit kaum siebzehn Jahren an die Isonzofront kommandiert wird und, nach einem feindlichen Volltreffer in seiner Batterie, hinter seiner Truppe zurückbleibt, konfus und ohne Waffe. Von österreichischen Husaren aufgegriffen, die ihn der Fahnenflucht verdächtigen, wird er vor einen Offizier gebracht, der ihm befiehlt, einen Deserteur, der vor ihm im Schnee kniet, zu erschießen, und er folgt dem Befehl, noch immer verwirrt und halb im Bewußtsein, sein eigenes Leben zu retten. Am nächsten Tage desertiert er mit tschechischen Soldaten, schlägt sich durch Ungarn, wo die bolschewistische Revolution ausgebrochen ist, in die Ukraine, wo er in der kleinen Bauernwirtschaft bei der tapferen Anna eine Zuflucht findet und ihr dann, aus freiem Willen und ungeachtet seiner leninistischen Flausen, in ein Zwangsarbeitslager für Kulaken folgt.
Im März 1938 sitzt der Spätheimkehrer im Zug nach Österreich, die Nationalsozialisten sind eben im Begriffe, die Macht zu ergreifen, und seine Mutter wartet im alten Haus. Er will aber nicht mehr unter Leute, erprobt sich als ungelenker Waldhüter und wird von der geheimnisvollen Else gepflegt und geliebt, als er sich eine Schrotladung in die Beine jagt. Sie sagt ihm lange nichts über den Gestapokommandanten, für sie nur "Kurti", der seine eigene Vergangenheit hat, über die er nicht spricht. In einem hervorragenden Kapitel des Romans erzählt Kurti selbst, wie er unter den Nazi-Putschisten war, die im Sommer 1934 das Wiener Kanzleramt erstürmten und Dollfuß töteten und wie es ihm gelang, durch eine Dachluke ins Freie zu fliehen, als der Putsch zusammenbrach. Er wird in Berlin, im Stabe Himmlers, der Fahnenflucht bezichtigt und darf sich und seine Karriere retten, indem er den unglückseligen Organisator des mißlungenen Putsches, welcher der Partei lästig geworden ist, auf Befehl der oberen Parteistellen erschießt. Der belohnte "Illegale" hält seine Hand über Else, die gemeinsame Tochter Resi, und den ehemals fahnenflüchtigen Voxlauer oben im Walde - aber wie lange?
Eine ganze Generation deutscher und österreichischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen suchte in den Jahrzehnten nach 1968 und mit wechselndem Glück, ihren politischen Roman zu schreiben. Jetzt kommt ein Dreißigjähriger aus Brooklyn, der aussieht wie ein begabter College-Student, und zeigt, wie man das machen kann, ruhig und mit einer epischen Selbstgewißheit, die man entweder hat oder nicht. Eine komplizierte Geschichte, aber nichts Ausgetüfteltes. Seine erste Tugend ist die des diskreten Erzählers, der seine lädierten Menschen akzeptiert, wie sie sind, gedrängt von ihrer Vergangenheit oder historischen Vorgängen: ob Else, die lügt, um Voxlauer nicht zu verlieren, ob Voxlauer, eher impulsiv und wortlos, wenn er einem Dorfnazi den Bierkrug gegen den Schädel haut oder seinen jüdischen Freund bittet (in Anwesenheit der Schutzstaffelleute), eine Rede am Grabe seiner Mutter zu halten.
Dieser Erzähler ist kein Besserwisser, der sich kritisch über seine Figuren erhebt, und seine Methode, aus wechselnden Blickpunkten zu sprechen - einmal als Epiker (die Gestalten in Distanz als Er und Sie) oder aus der Ich-Perspektive Voxlauers und Kurtis -, funktioniert ohne viel Aufhebens und ohne daß gar die Aufmerksamkeit auf das Kunstmittel selbst gelenkt würde. Im Anfang wählt er noch, mit Voxlauer, ein entsprechend schleppendes Zeitmaß, aber sobald sein Wider- und Gegenspieler Kurti auftaucht, steigert er das Tempo der Montage, vor allem gegen Ende, zu einer quälenden Dramatik, Schnitt für Schnitt, in einem Film, in dem es unmöglich wird, noch Atem zu holen.
Man widersteht aber der Spannung, weil man den Text nicht aus den Augen verlieren will; wie die Menschen miteinander reden, Else mit Voxlauer, aber auch Ryslavy mit den beiden, hat eine merkwürdige, spielerische oder gar selbstironische Formalität oder eine fast spröde Grandezza, die fast an das amerikanische "kidding" erinnert, den trockenen Konversationston Ebenbürtiger, die Vertrauen zu einander fassen, eine Möglichkeit der Intensität ohne Pathos oder Kitsch. Über diesen John Wray wird man noch viel reden müssen, pro und kontra, und das ist gut so.
John Wray: "Die rechte Hand des Schlafes". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2002Aus den Talentgärten
John Wray entdeckt Habsburg und „Die rechte Hand des Schlafes”
In welchem Winkel Brooklyns mag der junge Mann hausen: im Schatten der unvergänglich eleganten Brooklyn Bridge, in einer der Häuserzeilen links und rechts der eng aneinander gedrängten Steine des jüdischen Friedhofs oder der kilometerlangen Galerien von Kreuzen auf dem katholischen Gottesacker, dort wo einst die Einwanderer aus Galizien und aus Sizilien zuhaus waren, ehe sie der Invasion von Afro-Amerikanern wichen? Oder in Bedford Stuivesandt, dem einstigen Kleinbürgerparadies, das zur Drogenhölle verkam und sich nun mühsam wieder herauszuputzen versucht?
Ist es wichtig? Vielleicht. Doch. Unsereiner will wissen, aus welchem Quartier der vielen Völkerschaften, Religionen, Kulturen sich dieser junge Mensch hinüberträumte in das österreichische Nest, aus dem seine Mutter kam, die putzige Kleinstadt, in der er – obschon in Washington D.C. 1971 zur Welt gekommen – einige Jahre lang in die Schule ging, wo er jeden Blumenkasten und Dachgiebel, jedes Gewässer und jeden entlegenen Berghof zu kennen scheint.
Ja, es ist wichtig, dass ein phantasiebegabter und historisch hellhöriger Jungliterat mitten in Brooklyn die Welt des untergehenden Habsburger Reiches heraufzubeschwören vermag, den Taumel der Räte-Revolution in Budapest, das karge Kleinbauernidyll im Umfeld der ukrainischen Stadt Tscherkassy, in dem ein halb verhungerter Deserteur von siebzehn Jahren bei der Witwe Anna Aufnahme, Arbeit, Essen und die erste erfüllte Liebe des Herzens und des Fleisches fand. In der letzten Schlacht an der Isonzo-Front war er gezwungen, einen Kameraden zu erschießen, dann floh er ostwärts, immer weiter ostwärts, ein enthusiastischer Leninist, kuriert durch das Elend der Kollektivierung, in dem die Kulaken, seine Frau Anna, er selber zu Fronsklaverei, Entmündigung, Entwürdigung und durch Auszehrung zum Tod verurteilt waren, ein Ende, dem er dank eines österreichischen Passes entkam. Rückkehr des geheilten Sowjetmenschen in die fremd gewordene Heimat, in der die völkische Vertrotztheit, das nazistische Verschwörungsgeraune, die dumpfe Gespensterei der Verlangens nach großen Zeiten in den heruntergekommenen Wirtschaften zu rumoren begann.
Ein Hauch von Joseph Roth
Nein, es kann keinen Leser gleichgültig lassen, dass einer der tausend Anfänger, die Jahr um Jahr aus den üppig wuchernden Talentgärten Amerikas heranwachsen, seinen ersten Roman mit einem Hauch von Joseph Roth, von Sándor Márai, von Robert Musil und – die erstaunlichste dieser Annäherungen – des immer noch halb verborgenen Schweizers Robert Walser zu akzentuieren versteht (von ihm zitiert er über zwei Seiten eine der großen kleinen Geschichten).
John Wray hat seinen Roman mit langem Atem und zäher Geduld geformt, zehn Entwürfe zwang er sich ab. Die Sorgsamkeit hat sich gelohnt. Seine Figuren, so sagte er in einem Interview, drückten sich weithin in einer formellen Sprache aus, weil sich meist kein idiomatischer Ausdruck fand, der (für einen historischen Stoff) nicht zu zeitgenössisch, zu amerikanisch oder zu wörtlich aus dem Deutschen herübergeholt sei. Wray hat, soweit es sich aus der Übersetzung von Peter Knecht schließen lässt, das Dilemma brillant bezwungen. Der deutsche Text liest sich, als sei er das Original.
Landschaft, Milieu und Person werden in unseren Tagen nur selten mit solch unaufwändiger Poesie und zugleich mit solch sprödem Realismus beschrieben. Der Held, Oskar Voxlauer, verliebt sich nach der Rückkehr aus dem Krieg in die schöne und seelisch feiner geäderte Bürgerfrau Else. Wrays Darstellung der Liebe kann man als Protest gegen die Monotonie des sexuellen Naturalismus verstehen. Man ist dankbar für den Takt, mit dem er die beiden Überwältigungen in Voxlauers Wanderung durch die Zeit skizziert – und in der Andeutung umso lebensvoller aufleuchten lässt. Anna und Else sind erwachsene, eigenwillige Frauen, mit einem Wort: Personen, die es auch sind und keiner der üblichen Stereotypen gehorchen.
Hellwacher Lehrerblick
Die Konstruktion des Buches ist komplex. Die Handlung vollzieht sich auf zwei ineinander verschränkten Zeitebenen: Als Ich-Erzählung berichtet Oskar Voxlauer vom Ersten Weltkrieg, der Desertion, der kommunistischen Lockung, der Desillusionierung durch die Realität des Stalinismus; aus der Perspektive des Autors beschrieben. Der Autor erzählt Voxlauers tastende Heimkehr, seine einsame Existenz als Wildhüter droben in den Bergen, seine Begegnung mit einer Sekte wunderlicher Nacktläufer und ihrem durchtriebenen Guru, die Heimsuchungen des „Anschlusses”, der Elses „illegalen”, nach Berlin emigrierten Nazi-Vetter Kurt wieder in sein Heimatstädtchen zurückbefördert. Dem Hauptsturmführer räumt John Wray eine eigene Retrospektive ein: dies gibt ihm die Chance für eine dramatische Reportage über die brutale und zugleich so possenhafte Revolte gegen den austrofaschistischen Kanzler Dollfuß und seine Ermordung, für die Schilderung einer Audienz beim Reichsführer SS, an dem Kurt einen „kurzsichtig spähenden, hellwachen Lehrerblick” beobachtete. In diesem Zusammenhang unterläuft Wray ein kleiner Fehler: 1934 war Walter Schellenberg noch ein kleiner Zuträger des SD; zum Chef des Auslandsnachrichtendienstes im „Reichssicherheitshauptamt” stieg er erst 1941 auf.
Dem Nazi-Vetter Kurt traute man es durchaus zu, dass er Oskar Voxlauer, den Konkurrenten um Elsas Liebe, am Ende aus dem Weg räumen würde. Indes, er entschloss sich, die Bindung der beiden zu respektieren. Er selber hatte sich die „Heimkehr ins Reich” anders gedacht: keineswegs als die Besetzung der entscheidenden Machtpositionen durch die braunen Preußen. So stirbt er an den Folgen eines – vermutlich inszenierten – Motorrad-Unfalls. Damit dürfte Kurt zu einem der wenigen halbwegs differenziert und komplex präsentierten Nazis in der amerikanischen Literatur avanciert sein. (Doch Wray vergisst darüber, welche Prominenz die österreichische SS-Elite im Terrorapparat des Dritten Reiches wie in der Vernichtungsmaschine der Todeslager gewann.)
Und Voxlauer, der Rebell? Und Else, dieser aufsässige Geist? „Sie seufzte: ,Wir werden schön brav sein und keinen Ärger machen. Alle beide‘.. . Er holte tief Luft. ,Ja, lassen wir sie.‘ Er fröstelte. ,Sollen sie sehen, wie sie zurechtkommen.‘ Else sagte nichts. Sie schmiegte sich an ihn und zog den Mantel dichter um sie... Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.” Sie hüllten sich, wie die Mehrheit ihrer Landsleute, ins schützende Gewand schweigender Mitläuferei. Der Überlebenswille siegte.
Ein grandioser Roman. Und langsam, langsam entschlüsselt sich das Rätsel, das der Titel aufgibt: die „rechte Hand des Schlafes” gehört dem Sensenmann, der einst auch ein Meister aus Österreich war.
KLAUS HARPPRECHT
JOHN WRAY: Die rechte Hand des Schlafes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
John Wray entdeckt Habsburg und „Die rechte Hand des Schlafes”
In welchem Winkel Brooklyns mag der junge Mann hausen: im Schatten der unvergänglich eleganten Brooklyn Bridge, in einer der Häuserzeilen links und rechts der eng aneinander gedrängten Steine des jüdischen Friedhofs oder der kilometerlangen Galerien von Kreuzen auf dem katholischen Gottesacker, dort wo einst die Einwanderer aus Galizien und aus Sizilien zuhaus waren, ehe sie der Invasion von Afro-Amerikanern wichen? Oder in Bedford Stuivesandt, dem einstigen Kleinbürgerparadies, das zur Drogenhölle verkam und sich nun mühsam wieder herauszuputzen versucht?
Ist es wichtig? Vielleicht. Doch. Unsereiner will wissen, aus welchem Quartier der vielen Völkerschaften, Religionen, Kulturen sich dieser junge Mensch hinüberträumte in das österreichische Nest, aus dem seine Mutter kam, die putzige Kleinstadt, in der er – obschon in Washington D.C. 1971 zur Welt gekommen – einige Jahre lang in die Schule ging, wo er jeden Blumenkasten und Dachgiebel, jedes Gewässer und jeden entlegenen Berghof zu kennen scheint.
Ja, es ist wichtig, dass ein phantasiebegabter und historisch hellhöriger Jungliterat mitten in Brooklyn die Welt des untergehenden Habsburger Reiches heraufzubeschwören vermag, den Taumel der Räte-Revolution in Budapest, das karge Kleinbauernidyll im Umfeld der ukrainischen Stadt Tscherkassy, in dem ein halb verhungerter Deserteur von siebzehn Jahren bei der Witwe Anna Aufnahme, Arbeit, Essen und die erste erfüllte Liebe des Herzens und des Fleisches fand. In der letzten Schlacht an der Isonzo-Front war er gezwungen, einen Kameraden zu erschießen, dann floh er ostwärts, immer weiter ostwärts, ein enthusiastischer Leninist, kuriert durch das Elend der Kollektivierung, in dem die Kulaken, seine Frau Anna, er selber zu Fronsklaverei, Entmündigung, Entwürdigung und durch Auszehrung zum Tod verurteilt waren, ein Ende, dem er dank eines österreichischen Passes entkam. Rückkehr des geheilten Sowjetmenschen in die fremd gewordene Heimat, in der die völkische Vertrotztheit, das nazistische Verschwörungsgeraune, die dumpfe Gespensterei der Verlangens nach großen Zeiten in den heruntergekommenen Wirtschaften zu rumoren begann.
Ein Hauch von Joseph Roth
Nein, es kann keinen Leser gleichgültig lassen, dass einer der tausend Anfänger, die Jahr um Jahr aus den üppig wuchernden Talentgärten Amerikas heranwachsen, seinen ersten Roman mit einem Hauch von Joseph Roth, von Sándor Márai, von Robert Musil und – die erstaunlichste dieser Annäherungen – des immer noch halb verborgenen Schweizers Robert Walser zu akzentuieren versteht (von ihm zitiert er über zwei Seiten eine der großen kleinen Geschichten).
John Wray hat seinen Roman mit langem Atem und zäher Geduld geformt, zehn Entwürfe zwang er sich ab. Die Sorgsamkeit hat sich gelohnt. Seine Figuren, so sagte er in einem Interview, drückten sich weithin in einer formellen Sprache aus, weil sich meist kein idiomatischer Ausdruck fand, der (für einen historischen Stoff) nicht zu zeitgenössisch, zu amerikanisch oder zu wörtlich aus dem Deutschen herübergeholt sei. Wray hat, soweit es sich aus der Übersetzung von Peter Knecht schließen lässt, das Dilemma brillant bezwungen. Der deutsche Text liest sich, als sei er das Original.
Landschaft, Milieu und Person werden in unseren Tagen nur selten mit solch unaufwändiger Poesie und zugleich mit solch sprödem Realismus beschrieben. Der Held, Oskar Voxlauer, verliebt sich nach der Rückkehr aus dem Krieg in die schöne und seelisch feiner geäderte Bürgerfrau Else. Wrays Darstellung der Liebe kann man als Protest gegen die Monotonie des sexuellen Naturalismus verstehen. Man ist dankbar für den Takt, mit dem er die beiden Überwältigungen in Voxlauers Wanderung durch die Zeit skizziert – und in der Andeutung umso lebensvoller aufleuchten lässt. Anna und Else sind erwachsene, eigenwillige Frauen, mit einem Wort: Personen, die es auch sind und keiner der üblichen Stereotypen gehorchen.
Hellwacher Lehrerblick
Die Konstruktion des Buches ist komplex. Die Handlung vollzieht sich auf zwei ineinander verschränkten Zeitebenen: Als Ich-Erzählung berichtet Oskar Voxlauer vom Ersten Weltkrieg, der Desertion, der kommunistischen Lockung, der Desillusionierung durch die Realität des Stalinismus; aus der Perspektive des Autors beschrieben. Der Autor erzählt Voxlauers tastende Heimkehr, seine einsame Existenz als Wildhüter droben in den Bergen, seine Begegnung mit einer Sekte wunderlicher Nacktläufer und ihrem durchtriebenen Guru, die Heimsuchungen des „Anschlusses”, der Elses „illegalen”, nach Berlin emigrierten Nazi-Vetter Kurt wieder in sein Heimatstädtchen zurückbefördert. Dem Hauptsturmführer räumt John Wray eine eigene Retrospektive ein: dies gibt ihm die Chance für eine dramatische Reportage über die brutale und zugleich so possenhafte Revolte gegen den austrofaschistischen Kanzler Dollfuß und seine Ermordung, für die Schilderung einer Audienz beim Reichsführer SS, an dem Kurt einen „kurzsichtig spähenden, hellwachen Lehrerblick” beobachtete. In diesem Zusammenhang unterläuft Wray ein kleiner Fehler: 1934 war Walter Schellenberg noch ein kleiner Zuträger des SD; zum Chef des Auslandsnachrichtendienstes im „Reichssicherheitshauptamt” stieg er erst 1941 auf.
Dem Nazi-Vetter Kurt traute man es durchaus zu, dass er Oskar Voxlauer, den Konkurrenten um Elsas Liebe, am Ende aus dem Weg räumen würde. Indes, er entschloss sich, die Bindung der beiden zu respektieren. Er selber hatte sich die „Heimkehr ins Reich” anders gedacht: keineswegs als die Besetzung der entscheidenden Machtpositionen durch die braunen Preußen. So stirbt er an den Folgen eines – vermutlich inszenierten – Motorrad-Unfalls. Damit dürfte Kurt zu einem der wenigen halbwegs differenziert und komplex präsentierten Nazis in der amerikanischen Literatur avanciert sein. (Doch Wray vergisst darüber, welche Prominenz die österreichische SS-Elite im Terrorapparat des Dritten Reiches wie in der Vernichtungsmaschine der Todeslager gewann.)
Und Voxlauer, der Rebell? Und Else, dieser aufsässige Geist? „Sie seufzte: ,Wir werden schön brav sein und keinen Ärger machen. Alle beide‘.. . Er holte tief Luft. ,Ja, lassen wir sie.‘ Er fröstelte. ,Sollen sie sehen, wie sie zurechtkommen.‘ Else sagte nichts. Sie schmiegte sich an ihn und zog den Mantel dichter um sie... Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.” Sie hüllten sich, wie die Mehrheit ihrer Landsleute, ins schützende Gewand schweigender Mitläuferei. Der Überlebenswille siegte.
Ein grandioser Roman. Und langsam, langsam entschlüsselt sich das Rätsel, das der Titel aufgibt: die „rechte Hand des Schlafes” gehört dem Sensenmann, der einst auch ein Meister aus Österreich war.
KLAUS HARPPRECHT
JOHN WRAY: Die rechte Hand des Schlafes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 Seiten, 22 Euro.
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