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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2008

Der Mensch, die alte Raupe
Über die Straße: Michael G. Bauer traut sich was

Geheimnisse sind ein beliebter Lockstoff der Jugendliteratur. Auf den vierzehn Jahre alten Joseph wartet hinter jeder Ecke eines. Von seinem Nachbarn Tom Leyton, den die geschwätzige Mrs Mossop zum Monster stigmatisiert, sieht man immer nur die Silhouette - warum verschanzt sich der ehemalige Lehrer hinter verschlossenen Fenstern? Stimmen die Gerüchte, dass er einem Kind einmal etwas angetan hat?

All diese Fragen stürmen auf Joseph ein. Und dann fragt ihn Toms Schwester Caroline auch noch, ob er für sein Schulprojekt nicht vielleicht ihren Bruder zeichnen möchte. Dabei hat der schüchterne Junge doch schon genug damit zu tun, gegen die Furcht vor einem rastlos durch die Straßen hetzenden Unbekannten anzukämpfen, der ihn bis in seinen immer gleichen Albtraum verfolgt.

"Running Man", Michael Gerard Bauers bereits mehrfach ausgezeichnetes Debüt, ist kein gewöhnlicher Entwicklungsroman. Josephs zaghafte Begegnung mit dem sagenumwobenen Nachbarn gestaltet der 1955 geborene australische Schriftsteller und Englischlehrer äußerst packend. Anders als es der symbolträchtige Titel insinuiert, ist die Erzählung im Deutschen nicht mit Anglizismen übersät - im Gegenteil. Für ihre Übersetzung hat Birgitt Kollmann eine eigene Sprache gefunden, aus der man die englische Diktion nicht mehr heraushört.

Viel Platz für eine phantasievolle Ausgestaltung bietet dem Leser der erzählte Raum. Der Autor beschreibt die Umgebung, in der er selbst schon immer lebt: das Stadtviertel Ashgrove in Brisbane. Auch Joseph scheint hier jeden Mango- und jeden Maulbeerbaum zu kennen. Doch durch das Unbehagen, das der "Running Man" und Tom Leyton ihm einflößen, gerät die anheimelnde Harmonie ins Wanken. Der sichere Ort seiner Kindheit ist verlorengegangen, und so muss Joseph, als er die Straße zum alten Holzhaus der Leytons gegenüber schließlich doch überquert, auch sich selbst überwinden. Die räumlich so kurze Strecke wird für Joseph zu einer weitreichenden Initiationsreise, als er merkt, dass ihm nur eine oberflächliche Skizze von Tom Leyton gelingt, solange er nicht mehr über ihn herausfindet. Denn ähnlich wie die Seidenraupen, die Tom züchtet, hat der Vietnam-Veteran sich auch in einen "dichten Kokon aus Schweigen und Einsamkeit" gehüllt.

Diese doch sehr überladene Bildsprache, der Debütautoren in ihrer Fabulierfreude leicht erliegen können, verzeiht man Bauers Erstling gern. Denn er nutzt die Allegorie konsequent, um seinen jungen Protagonisten gegen die Vorurteile in der Nachbarschaft zu wappnen: "Wenn jemand keine Ahnung hätte, wie Seidenraupen aussehen, und ich öffnete jetzt diese Schachtel, dann würde er denken, sie sähen genauso aus wie andere große Raupen auch. Wenn ich die Schachtel in einem Monat öffnete, dann würde er glauben, Seidenraupen seien gelbe Kokons. Und nach wieder einem Monat: graue Eier." Dass die Sache beim Menschen um einiges komplizierter ist, liegt auf der Hand.

FRANZISKA BOSSY.

Michael Gerard Bauer: "Running Man". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Nagel & Kimche, München 2007. 270 S., br., 14,90 [Euro]. Ab 12 J.

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