Produktdetails
- Verlag: Vintage Books
- ISBN-13: 9780099422075
- Artikelnr.: 26373352
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2000Ein ganzer Kerl
Nach "Primary Colors": Joe Klein entdeckt die Politik mit Herz
NEW YORK, 27. April
Charlie Martin ist Senator, aber kein typischer Politiker. Er hat Augen "wie Delfter Porzellan". Er lächelt ein "killer smile". Er sucht, vor allem außerhalb seines Heimatstaats im Mittelwesten Amerikas, "nach dem Ungewöhnlichen" (deshalb ist sein Pressereferent homosexuell), er liebt es, provoziert zu werden (deshalb fällt er einer New Yorkerin zu Füßen), er schätzt Ironie und glaubt daran, dass wichtig ist, was er tut. In Vietnam, wo er einen Teil seiner linken Hand verlor, galt er als "der coolste Kerl von Saigon". Er ist, mit einem Wort, unwiderstehlich, und zwar nicht, weil er glänzend manipuliert wie der Held in Joe Kleins letztem Roman "Primary Colors", sondern weil er ist, was er ist, ein ganzer Mann, also einer mit Herz.
Vier Jahre nach "Primary Colors", einer klugen Satire über den ersten Präsidentschaftswahlkampf der Clintons und darüber, wie man beschaffen sein muss, um in der amerikanischen Politik erfolgreich zu sein, hat der Autor in diesen Tagen eine Art Fortsetzung vorgelegt, "The Running Mate" (The Dial Press, 403 Seiten, 26,05 Dollar). Wieder ist es ein Schlüsselroman, doch das Personal ist weniger prominent und weniger eindeutig bestimmbar. Manche, die es wissen müssen, sehen in Charlie Martin den ehemaligen republikanischen Kandidaten John McCain, andere den Senator Nebraskas, Bob Kerrey. Wer auch immer es sein mag, als Hauptfigur eines vierhundert Seiten dicken Romans taugt er wenig, und das ist, was auch immer man gegen die Politiker einwenden kann, dann doch die Schuld des Autors.
Joe Klein, der damals als "Anonymous" reich und berühmt wurde, ist Journalist. Weil er lange abstritt, der Verfasser von "Primary Colors" zu sein, und damit seine Kollegen hinters Licht führte, wurde er von "Newsweek" und dem Fernsehsender CBS gefeuert und begann nach einer Schamfrist, als Washington-Korrespondent für den "New Yorker" zu schreiben. Er ist einer der besten Kenner der Hauptstadtszene, er weiß, wie die Intrigen funktionieren, die Seilschaften, die Dreckschleudern. Er weiß, dass es in der Politik nicht um Ideale geht, sondern um präzise Fragen und um kleinere Übel, und dass sich die Moral im Einzelfall bewährt, nicht als Konzept. Jedenfalls wusste er all dies, als er "Primary Colors" schrieb. Er zeigte, wie alte Überzeugungen mit aktuellen Notwendigkeiten kämpfen, wie mit falschen Gefühlen für die richtige Sache geworben wird und dass es vor allem darauf ankommt, wer länger die Nerven behält. Die Moral überließ er dem Leser. Das Einzige, worum es in "Primary Colors" ging, war die Politik, und das war angesichts des Primats des Skandals, der in Amerika herrscht, vielleicht der Grund, dass die meisten Kritiker das Buch nicht nur für intelligent, sondern den Autor auch für einen großen Romancier hielten.
Bei "The Running Mate" ist alles anders. Zwar erweisen einige Figuren aus dem früheren Roman ihre Reverenz, aber die kühle Satire ist einer schwülen Prosa gewichen, wie man sie aus Kurzgeschichten in biederen Frauenzeitschriften kennt. Das wird über die doch erheblich längere Distanz sehr lästig. Der Senator, so erfahren wir gleich zu Beginn, ist verliebt - ein im Wahlkampf eher ungewöhnlicher Zustand für einen Kandidaten, aber: "Was ist so falsch an der Vorstellung, endlich ein eigenes Leben zu haben?" (Schlechtes Timing, hätte der Joe Klein von "Primary Colors" gesagt.) Die Frau seines Herzens, Arabella Palmerston Belligio, ist über wenige Ecken mit dem britischen Königshaus verwandt, lebt in New York in einem Downtown-Loft, hat zwei Kinder und entwirft Badeanzüge. Ihr (fast) geschiedener Mann wohnt bei ihr, ein "attraktiver Homosexueller von exotischer westindisch-italienisch-kreolischer Abstammung".
Arabella, genannt Nell, lernt Charlie Martin kennen, weil sie ein Verhältnis mit seinem Freund Linc Rathburne, einem Diplomanden (Richard Holbrooke?), hat, der nach Russland geht und bei einer Party von ihr auch als Liebhaber verabschiedet wird. Charlie sitzt bei dieser Gelegenheit neben einer dramatisch aufgemachten Tischdame, die Anaïs Nin liest, und so weiter. Am Ende hat Charlie Martin einen Wahlkampf verloren, aber Nell gewonnen, die, nachdem sie dreihundertachtundneunzig Seiten lang die Politik verachtete, nun für einen neuen Anlauf im öffentlichen Dienst votiert.
Bisher hat nur die "Washington Post" deutlich gesagt, was das für ein Käse ist. George Stephanopoulos, der in "Primary Colors" prominent figuriert und eine Weile als möglicher Autor im Gespräch war, gibt in "Newsweek" kein ästhetisches Urteil ab, "Time" hofft auf viele weitere Romane von Joe Klein, und die "New York Times", deren Hauptkritikerin Michiko Kakutani "The Running Mate" recht unverhohlen verrissen hatte, relativierte dieses Urteil mit einer gnädigen Besprechung in ihrer sonntäglichen Buchbeilage.
Auch wer Joe Klein nach "Primary Colors" nicht für einen großen Literaten hielt, sondern vor allem seine politische Intelligenz bewunderte, wird in "The Running Mate" nichts finden, was sein Interesse wert wäre. Denn die Politik, so sie vorkommt, ist wieder auf Hollywood-Niveau geschrumpft, wo gute Männer in einem korrupten System immer schon einfachen Wahrheiten Gehör verschafften. An der Entwicklung der amerikanischen Politik kann das nicht liegen, vielleicht aber daran, dass ein guter Reporter mit viel Talent und Glück möglicherweise einen passablen Roman in sich hat, aber keinesfalls zwei.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach "Primary Colors": Joe Klein entdeckt die Politik mit Herz
NEW YORK, 27. April
Charlie Martin ist Senator, aber kein typischer Politiker. Er hat Augen "wie Delfter Porzellan". Er lächelt ein "killer smile". Er sucht, vor allem außerhalb seines Heimatstaats im Mittelwesten Amerikas, "nach dem Ungewöhnlichen" (deshalb ist sein Pressereferent homosexuell), er liebt es, provoziert zu werden (deshalb fällt er einer New Yorkerin zu Füßen), er schätzt Ironie und glaubt daran, dass wichtig ist, was er tut. In Vietnam, wo er einen Teil seiner linken Hand verlor, galt er als "der coolste Kerl von Saigon". Er ist, mit einem Wort, unwiderstehlich, und zwar nicht, weil er glänzend manipuliert wie der Held in Joe Kleins letztem Roman "Primary Colors", sondern weil er ist, was er ist, ein ganzer Mann, also einer mit Herz.
Vier Jahre nach "Primary Colors", einer klugen Satire über den ersten Präsidentschaftswahlkampf der Clintons und darüber, wie man beschaffen sein muss, um in der amerikanischen Politik erfolgreich zu sein, hat der Autor in diesen Tagen eine Art Fortsetzung vorgelegt, "The Running Mate" (The Dial Press, 403 Seiten, 26,05 Dollar). Wieder ist es ein Schlüsselroman, doch das Personal ist weniger prominent und weniger eindeutig bestimmbar. Manche, die es wissen müssen, sehen in Charlie Martin den ehemaligen republikanischen Kandidaten John McCain, andere den Senator Nebraskas, Bob Kerrey. Wer auch immer es sein mag, als Hauptfigur eines vierhundert Seiten dicken Romans taugt er wenig, und das ist, was auch immer man gegen die Politiker einwenden kann, dann doch die Schuld des Autors.
Joe Klein, der damals als "Anonymous" reich und berühmt wurde, ist Journalist. Weil er lange abstritt, der Verfasser von "Primary Colors" zu sein, und damit seine Kollegen hinters Licht führte, wurde er von "Newsweek" und dem Fernsehsender CBS gefeuert und begann nach einer Schamfrist, als Washington-Korrespondent für den "New Yorker" zu schreiben. Er ist einer der besten Kenner der Hauptstadtszene, er weiß, wie die Intrigen funktionieren, die Seilschaften, die Dreckschleudern. Er weiß, dass es in der Politik nicht um Ideale geht, sondern um präzise Fragen und um kleinere Übel, und dass sich die Moral im Einzelfall bewährt, nicht als Konzept. Jedenfalls wusste er all dies, als er "Primary Colors" schrieb. Er zeigte, wie alte Überzeugungen mit aktuellen Notwendigkeiten kämpfen, wie mit falschen Gefühlen für die richtige Sache geworben wird und dass es vor allem darauf ankommt, wer länger die Nerven behält. Die Moral überließ er dem Leser. Das Einzige, worum es in "Primary Colors" ging, war die Politik, und das war angesichts des Primats des Skandals, der in Amerika herrscht, vielleicht der Grund, dass die meisten Kritiker das Buch nicht nur für intelligent, sondern den Autor auch für einen großen Romancier hielten.
Bei "The Running Mate" ist alles anders. Zwar erweisen einige Figuren aus dem früheren Roman ihre Reverenz, aber die kühle Satire ist einer schwülen Prosa gewichen, wie man sie aus Kurzgeschichten in biederen Frauenzeitschriften kennt. Das wird über die doch erheblich längere Distanz sehr lästig. Der Senator, so erfahren wir gleich zu Beginn, ist verliebt - ein im Wahlkampf eher ungewöhnlicher Zustand für einen Kandidaten, aber: "Was ist so falsch an der Vorstellung, endlich ein eigenes Leben zu haben?" (Schlechtes Timing, hätte der Joe Klein von "Primary Colors" gesagt.) Die Frau seines Herzens, Arabella Palmerston Belligio, ist über wenige Ecken mit dem britischen Königshaus verwandt, lebt in New York in einem Downtown-Loft, hat zwei Kinder und entwirft Badeanzüge. Ihr (fast) geschiedener Mann wohnt bei ihr, ein "attraktiver Homosexueller von exotischer westindisch-italienisch-kreolischer Abstammung".
Arabella, genannt Nell, lernt Charlie Martin kennen, weil sie ein Verhältnis mit seinem Freund Linc Rathburne, einem Diplomanden (Richard Holbrooke?), hat, der nach Russland geht und bei einer Party von ihr auch als Liebhaber verabschiedet wird. Charlie sitzt bei dieser Gelegenheit neben einer dramatisch aufgemachten Tischdame, die Anaïs Nin liest, und so weiter. Am Ende hat Charlie Martin einen Wahlkampf verloren, aber Nell gewonnen, die, nachdem sie dreihundertachtundneunzig Seiten lang die Politik verachtete, nun für einen neuen Anlauf im öffentlichen Dienst votiert.
Bisher hat nur die "Washington Post" deutlich gesagt, was das für ein Käse ist. George Stephanopoulos, der in "Primary Colors" prominent figuriert und eine Weile als möglicher Autor im Gespräch war, gibt in "Newsweek" kein ästhetisches Urteil ab, "Time" hofft auf viele weitere Romane von Joe Klein, und die "New York Times", deren Hauptkritikerin Michiko Kakutani "The Running Mate" recht unverhohlen verrissen hatte, relativierte dieses Urteil mit einer gnädigen Besprechung in ihrer sonntäglichen Buchbeilage.
Auch wer Joe Klein nach "Primary Colors" nicht für einen großen Literaten hielt, sondern vor allem seine politische Intelligenz bewunderte, wird in "The Running Mate" nichts finden, was sein Interesse wert wäre. Denn die Politik, so sie vorkommt, ist wieder auf Hollywood-Niveau geschrumpft, wo gute Männer in einem korrupten System immer schon einfachen Wahrheiten Gehör verschafften. An der Entwicklung der amerikanischen Politik kann das nicht liegen, vielleicht aber daran, dass ein guter Reporter mit viel Talent und Glück möglicherweise einen passablen Roman in sich hat, aber keinesfalls zwei.
VERENA LUEKEN
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