Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2002Unser Gral heißt Nadia
Israelische Geisterbeschwörung: Amos Oz knüpft ein Versenetz
Morgens, gegen halb vier, singt ein Vogel vor dem Fenster. Im Zimmer liegt Nadia Danon, bedrängt von schweren Träumen, dem Tode nah. Die Mechanismen, die ihr das Weiterleben ermöglichen sollen, haben sich erschöpft - die Medikamente lindern keine Schmerzen mehr, an die Tröstungen ihres Arztes mag sie nicht mehr glauben, und auch die unvollendete Stickerei, an der sie bis zuletzt arbeitet, reicht nicht aus, um die pflichtbewußte Frau wenigstens so lange am Leben zu halten, bis diese Arbeit bewältigt ist. Doch die letzte Prüfung steht ihr noch bevor: "In der Leidensdämmerung erschien ein Samurai mit Porzellanmaske vor ihr / das war ihr erster Ehemann: ein großer, strenger, eleganter Mann, der immer wußte, / was sich schickte, der das Licht ausknipste, sich heranrollte und auf die Brüste drückte, / ihr im Fleisch wühlte und stocherte, ihr weh tat bis ins Mark, / doch der am Ende immer lockerließ."
Nadia Danons Tod ist der Kristallisationspunkt von "Allein das Meer", dem neuen Buch von Amos Oz. Es ist mit der Gattungsbezeichnung "Roman" nur unzureichend bezeichnet und sprengt diese Form: Das Buch reiht etwa hundert Kleinkapitel aneinander, die meisten von ihnen in Versform, einige als Prosaminiaturen. Sie schildern einige Monate im Leben einer locker verbundenen israelischen Gemeinschaft, in deren Zentrum der Steuerberater Albert Danon steht, Nadia Danons Witwer. Sein Sohn Rico ist als Rucksacktourist in Asien unterwegs; Ricos Freundin Dita versucht sich unterdessen als Drehbuchautorin und benötigt bald die Hilfe Albert Danons, um sich gegen ihren windigen Geschäftspartner Dubi Dombrov zu wehren. Einen weiteren Strang bildet die stille Freundschaft zwischen Albert und der Wirtschaftsprüferin Bettine Carmel, die Erinnerung an die ersten Jahre von Alberts und Nadias Ehe und den Migrationsweg vom Balkan nach Israel, schließlich die Affäre, die Dita mit dem herzlich unsympathischen Giggy Ben-Gal verbindet.
All dies ist diskret und ohne alle Anstrengung miteinander verwoben, die Erzählung hat kein Ziel, die Handlung weder Anfang noch Ende: Stellvertretend für die übrigen Personen irrt Rico durch Nepal und Indien, und weder sein Aufbruch von Israel noch seine Heimkehr wird geschildert, dagegen nehmen seine mäandernden Träume, seine unaufhörliche, wenn auch unterschwellige Suche nach der verstorbenen Mutter breiten Raum ein. Diese Suche unternimmt auch Albert, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Das verbindet ihn mit der ebenfalls verwitweten Bettine und führt ihn bis in das Hinterzimmer eines obskuren Geisterbeschwörers, wo er einen Schatten von Nadia erhaschen will. So übermächtig ist die souverän ziellose Suche im Handlungsgefüge, daß auf einmal jene Figuren verdächtig werden, die - wie Giggy Ben-Gal - ihren Weg klar vor sich sehen und ihn rücksichtslos einschlagen. Der Text dagegen, mit seinen vielen Quer- und Rückverweisen, mit seinen listigen Umwegen und Elegien, zielt erkennbar mehr auf das Panorama als auf den Richtungspfeil. Er entwirft das Tableau einer Gesellschaft, die sich vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts eine ereignislose Normalität ertrotzt, und malt dieses Tableau mit einer untergründigen Dynamik, die dem Detail verpflichtet ist und damit eine genuin lyrische Qualität beweist.
Irgendwo auf dem Weg in die Moderne ist der deutschen Literatur das Versepos abhanden gekommen, das Bewußtsein für eine Möglichkeit des fortlaufenden Erzählens jenseits der Prosaformen. Daß diese Gattung nicht nur Historisches oder Mythisches wie den Kampf um Troja oder der Nibelungen Not zum Inhalt haben kann, daß sie die Gegenwart in sich aufzunehmen und in den unterschiedlichsten Stillagen zu spiegeln vermag, daß sie also im glücklichsten Fall den hohen Ton sogar mit seiner Parodie verbindet und daraus etwas ganz Neues hervorbringt, zeigt sich gegenwärtig vor allem in Texten, die ins Deutsche übersetzt werden, zum Beispiel in Anne Carsons meisterlichem Epos "Rot" (F.A.Z. vom 6. November 2001).
Oz orientiert sich an der tradierten Form, erweitert sie aber (wie schon Carson) entscheidend, indem er durch den kalkulierten Wechsel zwischen den unterschiedlichen Rhythmen, den weitgehenden Verzicht auf Strophen und die eingefügten Abschnitte in Prosa den Perspektivenreichtum seiner Erzählung abbildet (und damit nebenbei der größten Gefahr begegnet, die der Gattung droht: der Ermüdung des Lesers durch den Gleichklang der Verse). Nicht immer ist das völlig geglückt, und die doppelte Übersetzung - Grundlage für die deutsche Fassung ist eine englische, die nach dem hebräischen Original entstanden ist - mag daran eine Mitschuld tragen. Doch insgesamt ist Oz mit seinem weitgespannten Epos über Totendienst und Lebensgier, über Flucht und Beharren, über Planlosigkeit und Zielstrebigkeit ein großer Wurf gelungen. Und möglicherweise auch ein Vorbild für deutsche Autoren.
Amos Oz: "Allein das Meer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Heibert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 190 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Israelische Geisterbeschwörung: Amos Oz knüpft ein Versenetz
Morgens, gegen halb vier, singt ein Vogel vor dem Fenster. Im Zimmer liegt Nadia Danon, bedrängt von schweren Träumen, dem Tode nah. Die Mechanismen, die ihr das Weiterleben ermöglichen sollen, haben sich erschöpft - die Medikamente lindern keine Schmerzen mehr, an die Tröstungen ihres Arztes mag sie nicht mehr glauben, und auch die unvollendete Stickerei, an der sie bis zuletzt arbeitet, reicht nicht aus, um die pflichtbewußte Frau wenigstens so lange am Leben zu halten, bis diese Arbeit bewältigt ist. Doch die letzte Prüfung steht ihr noch bevor: "In der Leidensdämmerung erschien ein Samurai mit Porzellanmaske vor ihr / das war ihr erster Ehemann: ein großer, strenger, eleganter Mann, der immer wußte, / was sich schickte, der das Licht ausknipste, sich heranrollte und auf die Brüste drückte, / ihr im Fleisch wühlte und stocherte, ihr weh tat bis ins Mark, / doch der am Ende immer lockerließ."
Nadia Danons Tod ist der Kristallisationspunkt von "Allein das Meer", dem neuen Buch von Amos Oz. Es ist mit der Gattungsbezeichnung "Roman" nur unzureichend bezeichnet und sprengt diese Form: Das Buch reiht etwa hundert Kleinkapitel aneinander, die meisten von ihnen in Versform, einige als Prosaminiaturen. Sie schildern einige Monate im Leben einer locker verbundenen israelischen Gemeinschaft, in deren Zentrum der Steuerberater Albert Danon steht, Nadia Danons Witwer. Sein Sohn Rico ist als Rucksacktourist in Asien unterwegs; Ricos Freundin Dita versucht sich unterdessen als Drehbuchautorin und benötigt bald die Hilfe Albert Danons, um sich gegen ihren windigen Geschäftspartner Dubi Dombrov zu wehren. Einen weiteren Strang bildet die stille Freundschaft zwischen Albert und der Wirtschaftsprüferin Bettine Carmel, die Erinnerung an die ersten Jahre von Alberts und Nadias Ehe und den Migrationsweg vom Balkan nach Israel, schließlich die Affäre, die Dita mit dem herzlich unsympathischen Giggy Ben-Gal verbindet.
All dies ist diskret und ohne alle Anstrengung miteinander verwoben, die Erzählung hat kein Ziel, die Handlung weder Anfang noch Ende: Stellvertretend für die übrigen Personen irrt Rico durch Nepal und Indien, und weder sein Aufbruch von Israel noch seine Heimkehr wird geschildert, dagegen nehmen seine mäandernden Träume, seine unaufhörliche, wenn auch unterschwellige Suche nach der verstorbenen Mutter breiten Raum ein. Diese Suche unternimmt auch Albert, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Das verbindet ihn mit der ebenfalls verwitweten Bettine und führt ihn bis in das Hinterzimmer eines obskuren Geisterbeschwörers, wo er einen Schatten von Nadia erhaschen will. So übermächtig ist die souverän ziellose Suche im Handlungsgefüge, daß auf einmal jene Figuren verdächtig werden, die - wie Giggy Ben-Gal - ihren Weg klar vor sich sehen und ihn rücksichtslos einschlagen. Der Text dagegen, mit seinen vielen Quer- und Rückverweisen, mit seinen listigen Umwegen und Elegien, zielt erkennbar mehr auf das Panorama als auf den Richtungspfeil. Er entwirft das Tableau einer Gesellschaft, die sich vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts eine ereignislose Normalität ertrotzt, und malt dieses Tableau mit einer untergründigen Dynamik, die dem Detail verpflichtet ist und damit eine genuin lyrische Qualität beweist.
Irgendwo auf dem Weg in die Moderne ist der deutschen Literatur das Versepos abhanden gekommen, das Bewußtsein für eine Möglichkeit des fortlaufenden Erzählens jenseits der Prosaformen. Daß diese Gattung nicht nur Historisches oder Mythisches wie den Kampf um Troja oder der Nibelungen Not zum Inhalt haben kann, daß sie die Gegenwart in sich aufzunehmen und in den unterschiedlichsten Stillagen zu spiegeln vermag, daß sie also im glücklichsten Fall den hohen Ton sogar mit seiner Parodie verbindet und daraus etwas ganz Neues hervorbringt, zeigt sich gegenwärtig vor allem in Texten, die ins Deutsche übersetzt werden, zum Beispiel in Anne Carsons meisterlichem Epos "Rot" (F.A.Z. vom 6. November 2001).
Oz orientiert sich an der tradierten Form, erweitert sie aber (wie schon Carson) entscheidend, indem er durch den kalkulierten Wechsel zwischen den unterschiedlichen Rhythmen, den weitgehenden Verzicht auf Strophen und die eingefügten Abschnitte in Prosa den Perspektivenreichtum seiner Erzählung abbildet (und damit nebenbei der größten Gefahr begegnet, die der Gattung droht: der Ermüdung des Lesers durch den Gleichklang der Verse). Nicht immer ist das völlig geglückt, und die doppelte Übersetzung - Grundlage für die deutsche Fassung ist eine englische, die nach dem hebräischen Original entstanden ist - mag daran eine Mitschuld tragen. Doch insgesamt ist Oz mit seinem weitgespannten Epos über Totendienst und Lebensgier, über Flucht und Beharren, über Planlosigkeit und Zielstrebigkeit ein großer Wurf gelungen. Und möglicherweise auch ein Vorbild für deutsche Autoren.
Amos Oz: "Allein das Meer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Heibert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 190 S., geb., 19,90 [Euro].
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PRAISE FOR THE SAME SEA "In a world full of hype, noise, and confusion, the simple lucidity of The Same Sea is totally unexpected."--The New York Times Book Review "This lovely, lyrical territory, irrigated by numerous streams of consciousness, reminded me of some of the great things a novel can do."--Chicago Tribune