In this luminous new novel about love, loss, and the unpredictable power of memory, John Banville introduces us to Max Morden, a middle-aged Irishman who has gone back to the seaside town where he spent his summer holidays as a child to cope with the recent loss of his wife. It is also a return to the place where he met the Graces, the well-heeled family with whom he experienced the strange suddenness of both love and death for the first time. What Max comes to understand about the past, and about its indelible effects on him, is at the center of this elegiac, gorgeously written novel - among the finest we have had from this masterful writer.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Ein kleines Scheusal mit schmutzigen Gedanken
Was ist das Ich, wenn nicht ein Ölfleck auf den Wellen? John Banvilles erhaben feiner Roman „Die See” / Von Ijoma Mangold
John Banville ist der Meister des abschweifenden Gebrabbels. Das klingt vielleicht ein bisschen abschätzig und der Größe des Lebens unangemessen, so ist es aber nicht gemeint. Denn viel mehr als ein fest umrissener Charakter mit zielgerichteten Gedanken und Überzeugungen ist der Mensch die Summe seiner wabernden Gedankenassoziationen, auf denen wie auf Wellen das Ich als schimmernde Ölpfütze hin- und herströmt, im einen Moment sich größenwahnsinnig aufbläht, im nächsten vor lauter Kleinmut sich zusammenzieht. Der Mensch, könnte man sagen, ist die Gesamtheit dessen, was ihm durch die Birne rauscht – und das ist definitiv etwas anderes als ein wohlkontrolliertes, klar umrissenes Vorstellungskontinuum, wie sich das Descartes – „klar und bestimmt” – gewünscht hat.
In Banvilles neuem Roman „Die See” sitzt der Ich-Erzähler Max Morden zusammen mit seiner Frau Anne dem Arzt Mr. Todd gegenüber, der ihr gleich den Krebsbefund mitteilen wird. Vor sich hat Mr. Todd einen Ordner aus blassrosa Pappe. Der Ordner erinnert Morden plötzlich an seinen ersten Schultag, damals, nach den Sommerferien, an „den Reiz der neuen Schulbücher und den verheißungsvollen Geruch nach Tinte und frisch gespitzten Bleistiften”. Und dann denkt er sich, nicht wirklich bestürzt, aber doch ein wenig überrascht: „Wie doch selbst noch im Augenblick der alleräußersten Konzentration unsere Gedanken streunen.”
Auf der einen Seite gibt es das Rauschen der Gedanken. Auf der anderen Seite das, was Banville die „brutale Selbstgefälligkeit der Dinge” nennt. Gegenüber dieser Abgeschlossenheit und Unrührbarkeit – dass man nämlich die Steine nicht zum Weinen bringen kann – der Dinge wird der Bewusstseinsstrom noch flüchtiger und haltloser –, und doch baut sich auf ihm unser Selbst auf. Die Ich-Werdung hat genau damit zu tun: Aus dem, was uns durch die Birne rauscht, entsteht unser Selbstbild.
Orpheus ohne Leier
„Ich war”, sagt Banvilles Ich-Erzähler, „stets ein typischer Niemand, dessen glühendster Wunsch es war, ein untypischer Jemand zu werden.” Man sollte so einen Satz nicht auf die Goldwaage legen, denn Morden neigt zu sentenzenhaften Formulierungen (er produziert sie so, wie ein Basketballer beiläufig auf der Ersatzbank einen Ball aufprallen lässt). Aber wie bewerkstelligt man diese Verwandlung zu einem Jemand? Im realitätsenthobenen Medium des Gedankenstroms findet die Verwandlung permanent statt. Das Ich kann sich darin jederzeit in Rollen werfen, die bigger than life sind. So wie Charles Swann in Prousts Roman seine Odette gerne auf den Gemälden alter Meister wiedererkennt, so spiegelt sich Max Morden, ein arrivierter Kunsthistoriker, der eigentlich eine Monographie über Pierre Bonnard schreiben möchte, aber damit nicht vorankommt, ganz einfach weil er in Wahrheit nichts Entscheidendes über Pierre Bonnard zu sagen hat. . . – so spiegelt sich also Max Morden in seinen rastlosen Gedankenassoziationen gerne in Figuren des Mythos, der Kunst und der Literatur. So wird ihm seine Rückkehr, ein Geschlagener, der im Vollsuff am Meer zusammengebrochen war, vom Strand in die Pension zur „Anabasis”; wenn er an seine ins Totenreich hinübergegangene Frau denkt, sieht er sich selbst als „leierlosen Orpheus”; und wenn er sich vorstellt, wie er sich in ein Kloster zurückziehen könnte, um eine Abhandlung über die Endlichkeit zu verfassen, dann hat er Hieronymus’ Zelle samt Löwen und Totenschädel vor Augen. Das ist kein Bildungsdekor, keineswegs, es ist ein gedankenspielerisches Rollentheater: sich durch den Mythos wie durch eine Lupe selbst vergrößern.
So wie der Gedankenstrom am laufenden Band Größenphantasien wie zum Spaß entwirft, so hat er ebenso sehr die gegensätzliche Tendenz: In ihm artikuliert sich das Ich in seiner ganzen unsublimierten Rohheit. Wie ein Faun spricht das Bewusstsein seine Triebwünsche ungeschminkt aus. Wie ein Kind klagt es seine Egoismen trotzig ein. Wie ein Sadist lässt es seinem Hass freien Lauf. Was für ein Glück, dass sich die Niedrigkeit der Gedanken nur selten zu Handlungen verdichtet!
Aber auch die Wahrheit hat im Bewusstseinsstrom eine ganz andere Direktheit. Wenn Morden an seine Tochter denkt, räumt er ein, dass sie nicht hübsch ist, lange nicht so hübsch wie ihre Mutter Anne war. Wobei „Einräumen” ein noch zu vorsätzlicher Ausdruck ist: Diese Gedanken entstehen eher so, wie man zerstreut die Beine baumeln lässt. Einmal erinnert sich Morden, wie er als Junge sich ausmalte, was die Erwachsenen nachts im Bett miteinander trieben und wie sie es wagen könnten, sich danach bei Tageslicht noch in die Augen zu sehen. Dann resümiert er: „Ja, so ein Junge war ich. Genauer gesagt, zum Teil bin ich noch heute so ein Junge, wie ich damals war. Mit anderen Worten, ein kleines Scheusal mit schmutzigen Gedanken. Als ob es andere gäbe.” Als ob es andere gäbe!
Mit all diesem ist, wir wissen es, noch nichts gesagt über das, worum es in Banvilles Roman „Die See” geht. Aber doch sehr viel darüber, was den Sog seiner Erzählkunst ausmacht. Es ist die hohe Kunst des Laberns, wie es eigentlich nur innerhalb der vier Wände unseres Kopfes statthaft ist – und wundersamerweise auch auf den Seiten dieses irischen Schriftstellers, der mit „The Sea” letztes Jahr den Man Booker Prize gewann: „Der Herbst ist die rechte Zeit zum Arbeiten, in dem Punkt kann ich Puschkin nur zustimmen. Ach ja, der Alexander und ich, wir beide Oktobristen.” (Im Übrigen absolut tonfallsicher ins Deutsche übersetzt von Christa Schuenke!)
Auf drei Zeitebenen spielt Banvilles Roman: Die eine erzählt von jenem Jahr zwischen der Krebsdiagnose und dem tatsächlichen Tod von Mordens Frau, von der Schwierigkeit, das geliebte Wesen beim Sterben zu begleiten. Auf der anderen erinnert sich der Ich-Erzähler an seine Kindheit, wie er, ein Kind der Arbeiterklasse, in den Sommerferien am Meer die Familie Grace, das Ehepaar mit den Geschwistern Chloe und Myles samt der Nanny Rose, kennenlernte. Und wie diese Familie, wohlhabend und von jener freien Anmut, wie sie Bildung und Besitz vermitteln können, ihm so begehrenswert erschien, ja Götter waren sie in den Augen des kleinen Max, in so viel höheren Regionen schienen sie für ihn zu schweben. Und wie sich der elfjährige Max zuerst in die Mutter, dann in Chloe verliebt.
Amazone an der See
Und auf der dritten Ebene kehrt Morden nach dem Tod seiner Frau in jene Pension Zu den Zedern zurück, in denen einst, in jenem Sommer seiner Kindheit, die Graces wohnten, und die jetzt von der alt gewordenen Rose, der einstigen Nanny, geführt wird.
Warum Morden nach dem Tod seiner Frau ausgerechnet an diesen Ferienort seiner Kindheit zurückkehren muss, darüber kann man mancherlei Gedanken anstellen. „Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut.” So fängt der Roman an. Die Götter, das ist die Familie Grace. In der Berührung mit ihr stößt der Erzähler seine Herkunftswelt ab, und sein eigener, selbstgebauter Lebenslauf beginnt. Auch deswegen kehrt er dorthin zurück. Aber noch ein anderes Mysterium hat hier stattgefunden, das der Roman erst kurz vor Schluss erzählt und das hier nicht ausgeplaudert werden soll.
So ist „Die See” ein Buch über das Ende und über den Anfang des Lebens, über den Tod und über die Adoleszenz, über die Liebe und die Endlichkeit, über alles und jedes. Aber vor allem über die Schwierigkeit, angesichts unserer Endlichkeit dieses alles und jedes irgendwie halbwegs ernsthaft zu schultern.
Es ist kein originelles Genre: Ein alter Mann schaut zurück auf das, was sein Leben war. Aber wie Banville das instrumentiert, wie er seine Figuren entwirft, das ist großartig: Die amazonenhafte Chloe mit ihrem anmutig-pubertären Sadismus . Der stumme Myles, ein undurchdringliches Geheimnis aus Fleisch und Blut, von dem der Erzähler vermutet, dass er seinen Eltern „im Grunde ihres Herzens geradezu ein wenig Angst machte”. Die gouvernantenhafte Rose in ihrer resignativen Würde und schließlich der Ich-Erzähler selbst in seiner Mischung aus Lächerlichkeit und Größe, aus Pathos und Jämmerlichkeit. Das alles vor der Kulisse der fein geschilderten See, gegen deren niederschmetternde Unendlichkeit kein menschliches Kraut gewachsen ist.
John Banville
Die See
Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2006. 218 S., 17,90 Euro.
Das Meer ist die Unendlichkeit, vor der der Mensch nur in die Knie gehen kann.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Was ist das Ich, wenn nicht ein Ölfleck auf den Wellen? John Banvilles erhaben feiner Roman „Die See” / Von Ijoma Mangold
John Banville ist der Meister des abschweifenden Gebrabbels. Das klingt vielleicht ein bisschen abschätzig und der Größe des Lebens unangemessen, so ist es aber nicht gemeint. Denn viel mehr als ein fest umrissener Charakter mit zielgerichteten Gedanken und Überzeugungen ist der Mensch die Summe seiner wabernden Gedankenassoziationen, auf denen wie auf Wellen das Ich als schimmernde Ölpfütze hin- und herströmt, im einen Moment sich größenwahnsinnig aufbläht, im nächsten vor lauter Kleinmut sich zusammenzieht. Der Mensch, könnte man sagen, ist die Gesamtheit dessen, was ihm durch die Birne rauscht – und das ist definitiv etwas anderes als ein wohlkontrolliertes, klar umrissenes Vorstellungskontinuum, wie sich das Descartes – „klar und bestimmt” – gewünscht hat.
In Banvilles neuem Roman „Die See” sitzt der Ich-Erzähler Max Morden zusammen mit seiner Frau Anne dem Arzt Mr. Todd gegenüber, der ihr gleich den Krebsbefund mitteilen wird. Vor sich hat Mr. Todd einen Ordner aus blassrosa Pappe. Der Ordner erinnert Morden plötzlich an seinen ersten Schultag, damals, nach den Sommerferien, an „den Reiz der neuen Schulbücher und den verheißungsvollen Geruch nach Tinte und frisch gespitzten Bleistiften”. Und dann denkt er sich, nicht wirklich bestürzt, aber doch ein wenig überrascht: „Wie doch selbst noch im Augenblick der alleräußersten Konzentration unsere Gedanken streunen.”
Auf der einen Seite gibt es das Rauschen der Gedanken. Auf der anderen Seite das, was Banville die „brutale Selbstgefälligkeit der Dinge” nennt. Gegenüber dieser Abgeschlossenheit und Unrührbarkeit – dass man nämlich die Steine nicht zum Weinen bringen kann – der Dinge wird der Bewusstseinsstrom noch flüchtiger und haltloser –, und doch baut sich auf ihm unser Selbst auf. Die Ich-Werdung hat genau damit zu tun: Aus dem, was uns durch die Birne rauscht, entsteht unser Selbstbild.
Orpheus ohne Leier
„Ich war”, sagt Banvilles Ich-Erzähler, „stets ein typischer Niemand, dessen glühendster Wunsch es war, ein untypischer Jemand zu werden.” Man sollte so einen Satz nicht auf die Goldwaage legen, denn Morden neigt zu sentenzenhaften Formulierungen (er produziert sie so, wie ein Basketballer beiläufig auf der Ersatzbank einen Ball aufprallen lässt). Aber wie bewerkstelligt man diese Verwandlung zu einem Jemand? Im realitätsenthobenen Medium des Gedankenstroms findet die Verwandlung permanent statt. Das Ich kann sich darin jederzeit in Rollen werfen, die bigger than life sind. So wie Charles Swann in Prousts Roman seine Odette gerne auf den Gemälden alter Meister wiedererkennt, so spiegelt sich Max Morden, ein arrivierter Kunsthistoriker, der eigentlich eine Monographie über Pierre Bonnard schreiben möchte, aber damit nicht vorankommt, ganz einfach weil er in Wahrheit nichts Entscheidendes über Pierre Bonnard zu sagen hat. . . – so spiegelt sich also Max Morden in seinen rastlosen Gedankenassoziationen gerne in Figuren des Mythos, der Kunst und der Literatur. So wird ihm seine Rückkehr, ein Geschlagener, der im Vollsuff am Meer zusammengebrochen war, vom Strand in die Pension zur „Anabasis”; wenn er an seine ins Totenreich hinübergegangene Frau denkt, sieht er sich selbst als „leierlosen Orpheus”; und wenn er sich vorstellt, wie er sich in ein Kloster zurückziehen könnte, um eine Abhandlung über die Endlichkeit zu verfassen, dann hat er Hieronymus’ Zelle samt Löwen und Totenschädel vor Augen. Das ist kein Bildungsdekor, keineswegs, es ist ein gedankenspielerisches Rollentheater: sich durch den Mythos wie durch eine Lupe selbst vergrößern.
So wie der Gedankenstrom am laufenden Band Größenphantasien wie zum Spaß entwirft, so hat er ebenso sehr die gegensätzliche Tendenz: In ihm artikuliert sich das Ich in seiner ganzen unsublimierten Rohheit. Wie ein Faun spricht das Bewusstsein seine Triebwünsche ungeschminkt aus. Wie ein Kind klagt es seine Egoismen trotzig ein. Wie ein Sadist lässt es seinem Hass freien Lauf. Was für ein Glück, dass sich die Niedrigkeit der Gedanken nur selten zu Handlungen verdichtet!
Aber auch die Wahrheit hat im Bewusstseinsstrom eine ganz andere Direktheit. Wenn Morden an seine Tochter denkt, räumt er ein, dass sie nicht hübsch ist, lange nicht so hübsch wie ihre Mutter Anne war. Wobei „Einräumen” ein noch zu vorsätzlicher Ausdruck ist: Diese Gedanken entstehen eher so, wie man zerstreut die Beine baumeln lässt. Einmal erinnert sich Morden, wie er als Junge sich ausmalte, was die Erwachsenen nachts im Bett miteinander trieben und wie sie es wagen könnten, sich danach bei Tageslicht noch in die Augen zu sehen. Dann resümiert er: „Ja, so ein Junge war ich. Genauer gesagt, zum Teil bin ich noch heute so ein Junge, wie ich damals war. Mit anderen Worten, ein kleines Scheusal mit schmutzigen Gedanken. Als ob es andere gäbe.” Als ob es andere gäbe!
Mit all diesem ist, wir wissen es, noch nichts gesagt über das, worum es in Banvilles Roman „Die See” geht. Aber doch sehr viel darüber, was den Sog seiner Erzählkunst ausmacht. Es ist die hohe Kunst des Laberns, wie es eigentlich nur innerhalb der vier Wände unseres Kopfes statthaft ist – und wundersamerweise auch auf den Seiten dieses irischen Schriftstellers, der mit „The Sea” letztes Jahr den Man Booker Prize gewann: „Der Herbst ist die rechte Zeit zum Arbeiten, in dem Punkt kann ich Puschkin nur zustimmen. Ach ja, der Alexander und ich, wir beide Oktobristen.” (Im Übrigen absolut tonfallsicher ins Deutsche übersetzt von Christa Schuenke!)
Auf drei Zeitebenen spielt Banvilles Roman: Die eine erzählt von jenem Jahr zwischen der Krebsdiagnose und dem tatsächlichen Tod von Mordens Frau, von der Schwierigkeit, das geliebte Wesen beim Sterben zu begleiten. Auf der anderen erinnert sich der Ich-Erzähler an seine Kindheit, wie er, ein Kind der Arbeiterklasse, in den Sommerferien am Meer die Familie Grace, das Ehepaar mit den Geschwistern Chloe und Myles samt der Nanny Rose, kennenlernte. Und wie diese Familie, wohlhabend und von jener freien Anmut, wie sie Bildung und Besitz vermitteln können, ihm so begehrenswert erschien, ja Götter waren sie in den Augen des kleinen Max, in so viel höheren Regionen schienen sie für ihn zu schweben. Und wie sich der elfjährige Max zuerst in die Mutter, dann in Chloe verliebt.
Amazone an der See
Und auf der dritten Ebene kehrt Morden nach dem Tod seiner Frau in jene Pension Zu den Zedern zurück, in denen einst, in jenem Sommer seiner Kindheit, die Graces wohnten, und die jetzt von der alt gewordenen Rose, der einstigen Nanny, geführt wird.
Warum Morden nach dem Tod seiner Frau ausgerechnet an diesen Ferienort seiner Kindheit zurückkehren muss, darüber kann man mancherlei Gedanken anstellen. „Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut.” So fängt der Roman an. Die Götter, das ist die Familie Grace. In der Berührung mit ihr stößt der Erzähler seine Herkunftswelt ab, und sein eigener, selbstgebauter Lebenslauf beginnt. Auch deswegen kehrt er dorthin zurück. Aber noch ein anderes Mysterium hat hier stattgefunden, das der Roman erst kurz vor Schluss erzählt und das hier nicht ausgeplaudert werden soll.
So ist „Die See” ein Buch über das Ende und über den Anfang des Lebens, über den Tod und über die Adoleszenz, über die Liebe und die Endlichkeit, über alles und jedes. Aber vor allem über die Schwierigkeit, angesichts unserer Endlichkeit dieses alles und jedes irgendwie halbwegs ernsthaft zu schultern.
Es ist kein originelles Genre: Ein alter Mann schaut zurück auf das, was sein Leben war. Aber wie Banville das instrumentiert, wie er seine Figuren entwirft, das ist großartig: Die amazonenhafte Chloe mit ihrem anmutig-pubertären Sadismus . Der stumme Myles, ein undurchdringliches Geheimnis aus Fleisch und Blut, von dem der Erzähler vermutet, dass er seinen Eltern „im Grunde ihres Herzens geradezu ein wenig Angst machte”. Die gouvernantenhafte Rose in ihrer resignativen Würde und schließlich der Ich-Erzähler selbst in seiner Mischung aus Lächerlichkeit und Größe, aus Pathos und Jämmerlichkeit. Das alles vor der Kulisse der fein geschilderten See, gegen deren niederschmetternde Unendlichkeit kein menschliches Kraut gewachsen ist.
John Banville
Die See
Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2006. 218 S., 17,90 Euro.
Das Meer ist die Unendlichkeit, vor der der Mensch nur in die Knie gehen kann.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Als die Flut kam, gingen die Götter
Ein Orkan in der Streichholzschachtel: John Banvilles meisterhafter Roman "Die See" / Von Michael Maar
Zwei Ziele verfolgt der irische Autor John Banville mit seinen Büchern: Er will den Leser erfreuen und ihn terrorisieren. Für "Die See", seinen vierzehnten Roman, hat Banville den begehrten Man-Booker-Preis erhalten.
In einer Pension an der Irischen See ziehen die zwei älteren Herren, die als Dauergäste übriggeblieben sind, nach dem Abendessen rituell in die herbstklamme Stube mit dem Fernseher. Schweigend betrachten sie eine Sendung über die Wunder der Serengeti. Der Erzähler denkt über die Elefantenherde nach, die über den Bildschirm wogt. Was für herrliche Tiere, sagt er sich, Bindeglieder zu einer Zeit, als Behemots, die sogar noch größer waren, durch die Wälder rumorten. Ihrem Wesen nach sind sie melancholisch, äußerlich aber scheinen sie sich über uns zu amüsieren. Sie traben friedlich in einer Reihe, und jeder hat die Rüsselspitze sanft um das lächerliche Schweineschwänzchen seines vor ihm gehenden Vetters geschlungen. Die Jungen, die behaarter sind als ihre älteren Verwandten, trotten zufrieden zwischen den Beinen ihrer Mütter dahin. Diese traurigen, wissenden kleinen Augen - fährt der Erzähler fort in seinem inneren Monolog - laden einen geradezu ein, nach der Donnerbüchse zu greifen.
Wie bitte? Was hat er da gerade gesagt? Aber es war kein Lapsus, sondern der Anfang einer sengenden Suada: "Ja, ihnen dort eine Kugel hineinzujagen, dort oder in eines der riesigen, absurd schlabbernden Ohren. Ja, ja, alle wilden Tiere vernichten, sie abschlagen vom Baum des Lebens, bis nur mehr der Stumpf stehenbleibt, und dann auch noch an den zärtlich die Axt anlegen. Alles niedermachen."
Betretene Stille. Ähnlich der allenfalls von Murren gestörten Stille, die herrschte, als im letzten Jahr bekanntgegeben wurde, wer die bedeutendste englische Romanauszeichnung, den Man Booker Prize, gewonnen hatte. Die Zunft war unzufrieden, nein, sie war schockiert. Der Herausgeber des "Independent" erklärte, es sei die verheerendste Wahl in sechsunddreißig Jahren gewesen. Ausgerechnet der irische Ziseleur, der seine mühsam erworbene Bildung vor sich hertrug und durch Zähigkeit wettzumachen suchte, was ihm an Frische und Plot-Freude fehlte. Und diese Arroganz dabei!
Von John Banville kann man vieles sagen, nur eines nicht: daß er beliebt sei. Bei den Kollegen geriet er in Verruf, als er nicht davor zurückschreckte, den Roman eines Booker-Konkurrenten, "Saturday" von Ian McEwan, zu schlachten oder doch zärtlich die Axt an ihn zu legen. Das mache man nicht, meinten viele aus der Branche und verschafften ihrem Groll in Leserbriefen Luft. Banville ließ sich davon nicht beeindrucken. In seiner Dankesrede für den Preis, den er für seinen vierzehnten Roman endlich bekommen hatte, stellte er fest - über das Mienenspiel seiner Mitkandidaten Ishiguro und Barnes ist nichts überliefert -, mit seinem Buch habe die Jury endlich ein Kunstwerk prämiert. Aufgefordert, sich zu seinem Ruf der Arroganz zu äußern, zuckt Banville nicht nur mit den Achseln, er bestätigt ihn. Nur gegen das Klischee, seine Prosa sei kalt, wehrt er sich: Sie sei geradezu peinlich emotional und voller Ängste und Schmerz. Kunst sei nie etwas anderes als Wundverband. Und als sein Ziel erklärt er zweierlei: den Leser zu erfreuen und ihn zu terrorisieren.
Beides gelingt ihm in höchsten Graden in seinem letzten Roman "Die See". Der Held Max Morden, der vage an einer Bonnard-Monographie schreibt, flüchtet nach dem Krebstod seiner Frau in eine Pension an dem Strand, an dem er als Kind seine Ferien verbracht und seine Initiation in die dämonische Götterwelt erfahren hat. Er blickt auf seine Ehe zurück, auf das letzte grausame Jahr, auf das Verhältnis zu seiner Tochter, auf seine triste Kindheit und seine erste Liebe am Strand. Einnehmend ist er dabei nicht, der misanthropische Witwer, der in der Gegenwart von Kindern spürt, wie der Gilles de Rais in ihm an die Oberfläche tritt; der den Elefanten zwischen die Augen oder wenigstens in die Ohren schießen will und der um so schärfer auf die physischen Schwächen der andern blickt, je wehleidiger er seine eigenen Altersflecken oder die Adernbildung auf seiner Nase beäugt. Das Wort "Held" ist überhaupt nur eine Floskel in seinem Fall. Max Morden ist ungefähr so ein Scheusal wie sein Schöpfer, aus den Augen der Verächter gesehen. Anders als Max Morden ist Banville aber kein vager Künstler, sondern ein rigoroser. Und einer, vor dessen Größe und Kraft die Verächter ganz kleinlich wirken und seltsam zusammenschnurren.
They departed, the gods, on the day of the strange tide. Man merkt mit dem ersten Satz, den man laut lesen muß, daß es hier jemand ernst meint mit der Sprache und der Musik. Jeder Satz dieses Buches ist klanglich und rhythmisch durchgeformt, wovon die fast schlackenlose Übersetzung Christa Schuenkes immerhin einen Eindruck vermitteln kann. Banville ist berühmt für die Fülle seiner Bilder und Details: die Wellen, die eifrig herangetrappelt kommen, um gleich wieder den Rückzug anzutreten wie eine Schar von zwar neugierigen, aber dabei auch furchtsamen Mäusen; der Wind über dem Meer, der die Wasseroberfläche in scharf gezackte, metallisch blitzende Splitter zerfetzt; der abkühlende Motor, der mißbilligend mit der Zunge schnalzt. Seine Prosa ist auf der Molekularebene ebenso meisterhaft wie als große Form. Meisterhaft sind das Spiel der Assonanzen und die Kunst des Beiworts (man lese, wie er die Augen von Teddybären beschreibt); meisterhaft ist das wellenartige Gleiten zwischen vier oder fünf Zeitschichten, die durch den medusenhaften Erzähler strömen; meisterhaft ist das Plot-Mobile von japanischer Anmut und Raffinesse.
"Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut." Daß dieser erste Satz schon das überraschende Ende verkapselt, zeigt sich erst im letzten Kapitel; wie man überhaupt erst bei der zweiten Lektüre merkt, daß die Pünktchen schon alle verstreut waren, die im Finale durch den Schwung einer Linie verbunden werden. Es gibt kein blindes und kaum ein myopes Motiv in diesem Buch, dessen Komposition so kunstvoll sein muß, weil es so viel Schreckliches zu bändigen hat. Aber "schrecklich" ist als Wort noch fast zu schwach für das Dunkle, ja Finstere dieses in seiner Kunst so hell strahlenden todtraurigen Werks.
Banville erfreut den Leser auf jeder Seite, aber er terrorisiert ihn auch. Unvergeßlich die Szene, in der Mordens Frau ihren Befund erfährt: die routinierte Antwort des Arztes auf ihre vorher geübte, scheinforsche Frage, ob sie die Todesstrafe oder "lebenslänglich" bekomme - "So schnell lassen wir Sie nicht fort" -, das Gefühl des Ehemanns, von jetzt an auf einem anderen Planeten zu leben und mit seiner Frau ein unsagbar schmutziges und tiefste Verlegenheit auslösendes Geheimnis zu teilen; die Nächte neben ihr, in der die Todesangst wie ein Dynamo unaufhörlich kreist; der Schmerz danach, der als Wutanfall gegen diejenige explodiert, die ihn einfach allein in der Misere zurückgelassen hat - all die Nuancen und Ausartungen der Trauer werden in Worte gefaßt, die man so schnell nicht wieder aus der Hirnkammer entlassen kann.
Jedermann sei in der Lage, ein gutes Buch zu schreiben, hat ein Autor einmal erklärt, man müsse nur immer genau bei der Wahrheit bleiben. Nur darum gibt es sowenig gute Bücher, weil jeder irgendwann von dieser inneren Wahrheit abzuweichen und zu mogeln beginnt. Der Nietzsche-Verehrer Banville schont sich sowenig wie seine Hauptfigur. Max Morden beschreibt, wie er im Jahr der Agonie seiner Frau manchmal an der Badezimmertür lauscht, hinter der es auffällig ruhig geworden ist, und in einem heimtückischen Winkel seines Herzens die Hoffnung darauf entdeckt, daß sie ihrem Leiden ein Ende gesetzt und sich in der Wanne ertränkt haben könnte. Wer folgte ihm nach in solche schmutzigen Ecken der Seele?
Die kindliche Heroine des Buchs, die von Max geliebte Chloe, zupft Grashüpfern die Beine ab, zündet sie an und betrachtet ruhig, wie sie im eigenen Fett verbrennen. Ihre Zähne schimmern grünlich, und ihr stummer Zwillingsbruder Myles, unvergeßliche Koboldfigur auch er, hat Schwimmhäute zwischen den Zehen. Max Mordens Begegnung mit dem archaischen Zwillingspaar, das in ein ungeheures Finale waten wird, bildet den Kontrapunkt zum Schmerz um seine verstorbene Frau. Wer glaubt, daß Dämonie allein im Tod wuchert und nicht schon in der ersten Liebe, wird eines Besseren belehrt. Und doch ist die andere Seite dieses Romans, daß er die Göttlichkeit des Eros beschwört. Wie eng er sich mit Thanatos berührt, weiß nicht nur der Kunstgeschichtler Max.
Was sich dahinter abzeichnet, ist etwas Neuplatonisches. Der vage Künstler Max drückt aus, was sein rigoroser Schöpfer insgeheim erstrebt. Das Ziel ist, nicht mehr Fleisch zu sein, sondern durch und durch verwandelt zu werden in den "zarten Stoff des aller Leiden ledigen Geistes" - sprich, in Literatur. Wozu sie dienen kann und wozu sie gut ist, daran erinnert Banvilles Meisterwerk - daran, wie sie das scheußlich Wahre in gebändigt vibrierender Form einfangen und den Orkan in die Streichholzschachtel bannen kann; und daran, mit welcher Wucht er in ihr toben muß.
John Banville: "Die See". Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 218 S., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Orkan in der Streichholzschachtel: John Banvilles meisterhafter Roman "Die See" / Von Michael Maar
Zwei Ziele verfolgt der irische Autor John Banville mit seinen Büchern: Er will den Leser erfreuen und ihn terrorisieren. Für "Die See", seinen vierzehnten Roman, hat Banville den begehrten Man-Booker-Preis erhalten.
In einer Pension an der Irischen See ziehen die zwei älteren Herren, die als Dauergäste übriggeblieben sind, nach dem Abendessen rituell in die herbstklamme Stube mit dem Fernseher. Schweigend betrachten sie eine Sendung über die Wunder der Serengeti. Der Erzähler denkt über die Elefantenherde nach, die über den Bildschirm wogt. Was für herrliche Tiere, sagt er sich, Bindeglieder zu einer Zeit, als Behemots, die sogar noch größer waren, durch die Wälder rumorten. Ihrem Wesen nach sind sie melancholisch, äußerlich aber scheinen sie sich über uns zu amüsieren. Sie traben friedlich in einer Reihe, und jeder hat die Rüsselspitze sanft um das lächerliche Schweineschwänzchen seines vor ihm gehenden Vetters geschlungen. Die Jungen, die behaarter sind als ihre älteren Verwandten, trotten zufrieden zwischen den Beinen ihrer Mütter dahin. Diese traurigen, wissenden kleinen Augen - fährt der Erzähler fort in seinem inneren Monolog - laden einen geradezu ein, nach der Donnerbüchse zu greifen.
Wie bitte? Was hat er da gerade gesagt? Aber es war kein Lapsus, sondern der Anfang einer sengenden Suada: "Ja, ihnen dort eine Kugel hineinzujagen, dort oder in eines der riesigen, absurd schlabbernden Ohren. Ja, ja, alle wilden Tiere vernichten, sie abschlagen vom Baum des Lebens, bis nur mehr der Stumpf stehenbleibt, und dann auch noch an den zärtlich die Axt anlegen. Alles niedermachen."
Betretene Stille. Ähnlich der allenfalls von Murren gestörten Stille, die herrschte, als im letzten Jahr bekanntgegeben wurde, wer die bedeutendste englische Romanauszeichnung, den Man Booker Prize, gewonnen hatte. Die Zunft war unzufrieden, nein, sie war schockiert. Der Herausgeber des "Independent" erklärte, es sei die verheerendste Wahl in sechsunddreißig Jahren gewesen. Ausgerechnet der irische Ziseleur, der seine mühsam erworbene Bildung vor sich hertrug und durch Zähigkeit wettzumachen suchte, was ihm an Frische und Plot-Freude fehlte. Und diese Arroganz dabei!
Von John Banville kann man vieles sagen, nur eines nicht: daß er beliebt sei. Bei den Kollegen geriet er in Verruf, als er nicht davor zurückschreckte, den Roman eines Booker-Konkurrenten, "Saturday" von Ian McEwan, zu schlachten oder doch zärtlich die Axt an ihn zu legen. Das mache man nicht, meinten viele aus der Branche und verschafften ihrem Groll in Leserbriefen Luft. Banville ließ sich davon nicht beeindrucken. In seiner Dankesrede für den Preis, den er für seinen vierzehnten Roman endlich bekommen hatte, stellte er fest - über das Mienenspiel seiner Mitkandidaten Ishiguro und Barnes ist nichts überliefert -, mit seinem Buch habe die Jury endlich ein Kunstwerk prämiert. Aufgefordert, sich zu seinem Ruf der Arroganz zu äußern, zuckt Banville nicht nur mit den Achseln, er bestätigt ihn. Nur gegen das Klischee, seine Prosa sei kalt, wehrt er sich: Sie sei geradezu peinlich emotional und voller Ängste und Schmerz. Kunst sei nie etwas anderes als Wundverband. Und als sein Ziel erklärt er zweierlei: den Leser zu erfreuen und ihn zu terrorisieren.
Beides gelingt ihm in höchsten Graden in seinem letzten Roman "Die See". Der Held Max Morden, der vage an einer Bonnard-Monographie schreibt, flüchtet nach dem Krebstod seiner Frau in eine Pension an dem Strand, an dem er als Kind seine Ferien verbracht und seine Initiation in die dämonische Götterwelt erfahren hat. Er blickt auf seine Ehe zurück, auf das letzte grausame Jahr, auf das Verhältnis zu seiner Tochter, auf seine triste Kindheit und seine erste Liebe am Strand. Einnehmend ist er dabei nicht, der misanthropische Witwer, der in der Gegenwart von Kindern spürt, wie der Gilles de Rais in ihm an die Oberfläche tritt; der den Elefanten zwischen die Augen oder wenigstens in die Ohren schießen will und der um so schärfer auf die physischen Schwächen der andern blickt, je wehleidiger er seine eigenen Altersflecken oder die Adernbildung auf seiner Nase beäugt. Das Wort "Held" ist überhaupt nur eine Floskel in seinem Fall. Max Morden ist ungefähr so ein Scheusal wie sein Schöpfer, aus den Augen der Verächter gesehen. Anders als Max Morden ist Banville aber kein vager Künstler, sondern ein rigoroser. Und einer, vor dessen Größe und Kraft die Verächter ganz kleinlich wirken und seltsam zusammenschnurren.
They departed, the gods, on the day of the strange tide. Man merkt mit dem ersten Satz, den man laut lesen muß, daß es hier jemand ernst meint mit der Sprache und der Musik. Jeder Satz dieses Buches ist klanglich und rhythmisch durchgeformt, wovon die fast schlackenlose Übersetzung Christa Schuenkes immerhin einen Eindruck vermitteln kann. Banville ist berühmt für die Fülle seiner Bilder und Details: die Wellen, die eifrig herangetrappelt kommen, um gleich wieder den Rückzug anzutreten wie eine Schar von zwar neugierigen, aber dabei auch furchtsamen Mäusen; der Wind über dem Meer, der die Wasseroberfläche in scharf gezackte, metallisch blitzende Splitter zerfetzt; der abkühlende Motor, der mißbilligend mit der Zunge schnalzt. Seine Prosa ist auf der Molekularebene ebenso meisterhaft wie als große Form. Meisterhaft sind das Spiel der Assonanzen und die Kunst des Beiworts (man lese, wie er die Augen von Teddybären beschreibt); meisterhaft ist das wellenartige Gleiten zwischen vier oder fünf Zeitschichten, die durch den medusenhaften Erzähler strömen; meisterhaft ist das Plot-Mobile von japanischer Anmut und Raffinesse.
"Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut." Daß dieser erste Satz schon das überraschende Ende verkapselt, zeigt sich erst im letzten Kapitel; wie man überhaupt erst bei der zweiten Lektüre merkt, daß die Pünktchen schon alle verstreut waren, die im Finale durch den Schwung einer Linie verbunden werden. Es gibt kein blindes und kaum ein myopes Motiv in diesem Buch, dessen Komposition so kunstvoll sein muß, weil es so viel Schreckliches zu bändigen hat. Aber "schrecklich" ist als Wort noch fast zu schwach für das Dunkle, ja Finstere dieses in seiner Kunst so hell strahlenden todtraurigen Werks.
Banville erfreut den Leser auf jeder Seite, aber er terrorisiert ihn auch. Unvergeßlich die Szene, in der Mordens Frau ihren Befund erfährt: die routinierte Antwort des Arztes auf ihre vorher geübte, scheinforsche Frage, ob sie die Todesstrafe oder "lebenslänglich" bekomme - "So schnell lassen wir Sie nicht fort" -, das Gefühl des Ehemanns, von jetzt an auf einem anderen Planeten zu leben und mit seiner Frau ein unsagbar schmutziges und tiefste Verlegenheit auslösendes Geheimnis zu teilen; die Nächte neben ihr, in der die Todesangst wie ein Dynamo unaufhörlich kreist; der Schmerz danach, der als Wutanfall gegen diejenige explodiert, die ihn einfach allein in der Misere zurückgelassen hat - all die Nuancen und Ausartungen der Trauer werden in Worte gefaßt, die man so schnell nicht wieder aus der Hirnkammer entlassen kann.
Jedermann sei in der Lage, ein gutes Buch zu schreiben, hat ein Autor einmal erklärt, man müsse nur immer genau bei der Wahrheit bleiben. Nur darum gibt es sowenig gute Bücher, weil jeder irgendwann von dieser inneren Wahrheit abzuweichen und zu mogeln beginnt. Der Nietzsche-Verehrer Banville schont sich sowenig wie seine Hauptfigur. Max Morden beschreibt, wie er im Jahr der Agonie seiner Frau manchmal an der Badezimmertür lauscht, hinter der es auffällig ruhig geworden ist, und in einem heimtückischen Winkel seines Herzens die Hoffnung darauf entdeckt, daß sie ihrem Leiden ein Ende gesetzt und sich in der Wanne ertränkt haben könnte. Wer folgte ihm nach in solche schmutzigen Ecken der Seele?
Die kindliche Heroine des Buchs, die von Max geliebte Chloe, zupft Grashüpfern die Beine ab, zündet sie an und betrachtet ruhig, wie sie im eigenen Fett verbrennen. Ihre Zähne schimmern grünlich, und ihr stummer Zwillingsbruder Myles, unvergeßliche Koboldfigur auch er, hat Schwimmhäute zwischen den Zehen. Max Mordens Begegnung mit dem archaischen Zwillingspaar, das in ein ungeheures Finale waten wird, bildet den Kontrapunkt zum Schmerz um seine verstorbene Frau. Wer glaubt, daß Dämonie allein im Tod wuchert und nicht schon in der ersten Liebe, wird eines Besseren belehrt. Und doch ist die andere Seite dieses Romans, daß er die Göttlichkeit des Eros beschwört. Wie eng er sich mit Thanatos berührt, weiß nicht nur der Kunstgeschichtler Max.
Was sich dahinter abzeichnet, ist etwas Neuplatonisches. Der vage Künstler Max drückt aus, was sein rigoroser Schöpfer insgeheim erstrebt. Das Ziel ist, nicht mehr Fleisch zu sein, sondern durch und durch verwandelt zu werden in den "zarten Stoff des aller Leiden ledigen Geistes" - sprich, in Literatur. Wozu sie dienen kann und wozu sie gut ist, daran erinnert Banvilles Meisterwerk - daran, wie sie das scheußlich Wahre in gebändigt vibrierender Form einfangen und den Orkan in die Streichholzschachtel bannen kann; und daran, mit welcher Wucht er in ihr toben muß.
John Banville: "Die See". Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 218 S., 17,90 [Euro].
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"Remarkable. . . . The power and strangeness and piercing beauty of [ The Sea is] a wonder."
- The Washington Post Book World
"With his fastidious wit and exquisite style, John Banville is the heir to Nabokov. . . . The Sea [is] his best novel so far."- The Sunday Telegraph
" The Sea offers an extraordinary meditation on mortality, grief, death, childhood and memory. . . . Undeniably brilliant." - USA Today
"A gem. . . . [The sea]is a presence on every page, its ceaseless undulations echoing constantly in the cadences of the prose. This novel shouldn't simply be read. It needs to be heard, for its sound is intoxicating. . . . A winning work of art." - The Philadelphia Inquirer
- The Washington Post Book World
"With his fastidious wit and exquisite style, John Banville is the heir to Nabokov. . . . The Sea [is] his best novel so far."- The Sunday Telegraph
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"A gem. . . . [The sea]is a presence on every page, its ceaseless undulations echoing constantly in the cadences of the prose. This novel shouldn't simply be read. It needs to be heard, for its sound is intoxicating. . . . A winning work of art." - The Philadelphia Inquirer