Produktdetails
  • ISBN-13: 9780099535171
  • Artikelnr.: 27226966
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2009

Das Wunderkind als blinder Passagier
Der kleine Held Tecumseh Sparrow verlässt sein trauriges Elternhaus und wandert gen Osten, in die Städte – Reif Larsens schöner, kluger Roman „Die Karte meiner Träume” Von Thomas Steinfeld
Ein solches Buch hat es noch nicht gegeben, und doch ist es vertraut von der ersten Seite an. Und hätte es ein solches Buch schon gegeben, dann fände man es auf eine angenehme Weise altmodisch. Da es aber ein solches Buch noch nicht gegeben hat, sucht man nach Vergleichen – und merkt bald, dass sie nicht weit führen. Mark Twain mag dem Helden dieses Buches, dem zwölfjährigen Tecumseh Sparrow Pivet, einen Führer vorangeschickt haben, nämlich im elternlosen, kindlich-klugen Huckleberry Finn (1876), und wer sich in der Literaturgeschichte auskennt, der wird noch andere Vorbilder finden, bei Henry James zum Beispiel, wie er in „What Maisie Knew” (1897) ein Mädchen gegen die Verantwortungslosigkeit ihrer Eltern zur jungen Frau heranwachsen lässt. Und vielleicht spukt auch noch ein berühmtes Erdkundebuch, nämlich Selma Lagerlöfs „Nils Holgerssons wunderbare Reise” (1906) als Modell in diesem Roman herum. Doch, so weit zurück in die Vergangenheit, so tief in die Konvention muss man sich begeben, um etwas Ähnliches zu finden (nun gut, vor sechs Jahren erschien Mark Haddons „Supergute Tage”, aber das ist ein verwandtes Buch). Und die Erleichterung, ja auch die Rührung, die das Lesen dieses Buches begleitet, fast bis zum Schluss, ist auch die Freude darüber, mit welcher anachronistischen Gewissheit, mit welcher traumwandlerischen Sicherheit eine solche Geschichte ihren Leser packt und über zweitausend Meilen quer durch die Vereinigten Staaten mitzieht.
Ja, es wird gereist in diesem Roman, auf eine Weise sogar, die man, weil sie fest ins Repertoire eines alten Amerika gehört und schon mindestens tausend Mal verhöhnt und persifliert wurde, ein wenig albern finden könnte: Der kleine Held verlässt sein trauriges Elternhaus, eine einsame Ranch in den Hügeln von Montana. Zurück bleiben der wortkarge, bittere Vater, der Cowboy mit seinen Devotionalien, die allesamt mehr mit John Wayne und Gary Cooper, weniger aber mit der realen Geschichte des amerikanischen Westens zu tun haben; die Mutter, eine Biologin, verhärmt, vereinsamt, die ihr Leben der Suche nach einem sagenhaften Käfer gewidmet hat; die Schwester, ein wenig älter, die in ihrem Pop-Universum aufgeht und, als einzig scheinbar normales Wesen in dieser Gemeinschaft, mit den anderen Familienmitgliedern nichts zu schaffen hat. Zurück bleibt auch der tote kleine Bruder, der Abenteurer, der sich, vielleicht, aus Versehen selbst erschoss, mit einer Winchester, dem einzigen Gewehr im Haus, dessen Lauf so kurz ist, dass ein Kind es gegen sich selbst richten kann. Und der Held fühlt sich schuldig am Tod seines Bruders, schuldig genug, um in der Flucht eine Befreiung zu suchen.
Die Reise geht, in Umkehrung des großen Trecks, der Eroberung des Westens, nach Osten, den Städten entgegen, und gereist wird als blinder Passagier, auf Zügen, als Hobo. Denn es hatte das Smithsonian Institute angerufen, das amerikanische National- und Gesamtmuseum, mit einer Einladung und einem Stipendium für Tecumseh Sparrow Pivet, den begnadeten Kartographen und Zeichner, unwissend, dass dieser gerade erst zwölf Jahre alt ist.
Doch keinen Augenblick wirkt diese Geschichte übertrieben oder unglaubwürdig. Genauer: das Unglaubwürdige daran versinkt, nicht nur in den Ereignisse dieser Reise, sondern vor allem in den Karten und Zeichnungen, die Tecumseh Sparrow, kurz „T. S.” von allem und jedem anfertigt. Drucktechnisch aufwendig hergestellt, begleiten diese kleinen, ganz und gar handwerklichen Kunstwerke den Fließtext auf fast jeder Seite, als Kommentar, Ergänzung, Illustration des Geschehenen. Manchmal tragen sie auch den Plot voran, so dass man von vornherein gezwungen ist, sie und ihre Legenden mitzulesen: der Lageplan der Coppertop Ranch, ein Schaubild der Frequenz, der Heftigkeit und der Bewegungen, mit denen der Vater seinen Whiskey trinkt, das Schienennetz des Rangierbahnhofs von Bailey in Nebraska, die Fahrerkabine eines großen Lastwagens. Der Leser wird gezwungen, die eigene Lektüre immer wieder zu unterbrechen, auf die Illustrationen und deren Legenden zu schauen, wieder zum Text zurückzukehren, in einem Verfahren, das viel mehr dem Besuch einer Ausstellung als der Lektüre eines fesselnden Buches.
In diesen Zeichnungen nun steckt eine eigene Magie: Sie sind Dokumente der Bemächtigung, Zeugnisse einer Domestikation, Manifeste des intellektuellen Stoffwechsels zwischen dem begnadeten Knaben und dem Rest der Welt, und darin, dass sie, deutlich erkennbar, mit der Hand gezeichnet (oder mit der Hand gezeichnet und mit Adobe Illustrator bearbeitet?) – und nicht projiziert oder gar reproduziert – sind, artikuliert sich ein so anrührendes, archaisch wirkendes Einverständnis mit den Dingen, von den Eigenheiten der kontinentalen Wasserscheide bis zum Kühlschrank, von der Verbreitung der McDonalds-Filialen im Norden Montanas bis zu den Gesten einer Hand, dass man schon um ihretwillen die Geschichte vom zwölfjährigen Genie glauben möchte.
Denn es steckt nicht nur das Leben des Helden (und das vieler anderer Menschen) in diesen Zeichnungen, sondern auch der Schmerz. Der kleine Held erzählt und zeichnet seine eigene Geschichte, und es ist unübersehbar, dass er allein ist, völlig allein. Es fehlt nicht viel, und man könnte Tecumseh Sparrow Spivet einen wunderbaren Autisten nennen: Er ist ganz und gar mit den Dingen beschäftigt, nicht mit den Menschen, und die Karten und die Zeichnungen sind auch deshalb von so anrührender Art, weil er sich anderen Menschen öffnet. Und es fällt schwer, sich nicht den Autor hinter dem Helden vorzustellen, den erst achtundzwanzig Jahre alten Reif Larsen, dessen Debüt dieses erstaunliche Buch ist. Tecumseh Sparrow Spivet muss ein Stück von ihm selbst sein, vielleicht sogar einschließlich der in diesem Roman enthaltenen Bildungsgeschichte.
Zum Absolutismus der Dinge kommt noch etwas hinzu: Denn in den Karten und Zeichnungen entsteht ein gigantisches System des Gleichzeitigen, unabhängig von der Entstehung oder Erscheinung des jeweils festgehaltenen Dings, und damit auch ein Register der verschollenen Dinge und der vergangenen Zustände der Naturbeherrschung. Der kleine Held mag ein später Gefährte von Huckleberry Finn sein, aber es steckt auch ein Nicholson Baker in ihm, der Autor von „Eine Schachtel Streichhölzer” (2003), ein amerikanischer heiliger Franziskus des Hausrats. Und gewiss, ja, schreiben kann „T.S.” auch, und so einen oft altklugen, manchmal lustigen Ton muss man erst einmal treffen.
So fährt das Wunderkind nach Osten, der blinde Passagier, versteckt in einem luxuriösen Wohnmobil auf einem Pritschenwagen, und anstatt ein Land zu erobern, erschließt er sich eine innere Welt. Und er könnte lange reisen, er müsste gar nicht ankommen, denn das Reisen zerlegt sich für ihn ja in lauter Bilder einer stillgestellten Welt. Die Zeichnungen öffnen den Raum, und die Zeit gibt es darin nicht, sie ist gefangen in Bewegungsdiagrammen, Auf- und Innenansichten, Querschnitten und schematischen Darstellungen. Unterhaltsam, rührend, ja betörend ist dieser Roman daher, solange „T.S.” nicht ankommt. In dem Augenblick indessen, in dem er Washington, die Hauptstadt, erreicht, müssen die Gesetze des Romans beachtet und eine Geschichte zu einem Schluss gebracht werden. Man versteht also, warum der Plot am Ende eine Wendung ins Geheimnisvolle nimmt, wenn gar eine Art Turmgesellschaft auftaucht, die auf den letzten Seiten für die große amerikanische Harmonie sorgt – aber zur Schönheit, zum philosophischen Reiz dieses Buches trägt dieses Ende nicht bei. Aber was schadet das? Die vierhundert Seiten vorher waren unterhaltsam und belehrend genug.
Reif Larsen
Die Karte meiner Träume
Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 448 Seiten, 22,95 Euro.
In den Zeichnungen des begabten Knaben steckt eine eigene Magie
Anstatt ein Land zu erobern, erschließt er sich eine innere Welt
Der Held und seine Schwester beim Fadenspiel, Bewegungsdiagramm. Die Bahnstrecke nach Osten. Illustrationen: Ben Gibson, Reif Larsen/Bildbearbeitung: Zaribaf
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