Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2023Boulevard der Dämmerung
Total Recall: "The Shards", der
neue Roman von Bret
Easton Ellis, verdichtet seine Werk- und Lebensthemen in der Form eines Albtraums.
Im Herbst 2005 saß Bret Easton Ellis auf dem Podium einer Stadtbibliothek in Neuengland und las aus seinem Roman "Lunar Park". Nach der Lesung fragte jemand, wie autobiographisch das alles sei. Ellis gab sich genervt. Bis vor ein paar Jahren verbot es sich geradezu, Schriftsteller nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Werke zu fragen. Heute beantworten sie die Frage oft freiwillig - und sogar in den Werken selbst, die zunehmend unter Betonung ihres autobiographischen Charakters vermarktet werden.
Der neue Roman von Bret Easton Ellis hat ein Vorwort, in dem offenbar der Autor seine Annäherung an dessen Stoff beschreibt. Es gehe um seine eigenen Erfahrungen als Jugendlicher an einer Privatschule in Los Angeles, erzählt dort jemand namens Bret, um eine Gruppe von Freunden und deren Verhältnis zu einem Serienmörder im "Schreckensjahr 1981". Er berichtet vierzig Jahre später von Panikattacken bei dem Versuch, sich an diese Zeit bewusst zu erinnern, und spricht von einem "düsteren Tunnel, den ich als Siebzehnjähriger durchquerte", bevor er sich für den Rest des Buches zurück in diesen Tunnel begibt.
Ist Bret Easton Ellis also inzwischen auch auf jenen Zug der Unterhaltungsindustrie aufgesprungen, der mit dem abgeschmackten Slogan "based on a true story" Dringlichkeit und Relevanz behauptet? Vordergründig ja. Aber wenn dann im ersten Kapitel die vermeintlich wahre Erinnerung einsetzt mit dem Sprung zu einem kalifornischen Küstenhighway im Jahr 1981, auf dem der Icherzähler in einer Corvette einem befreundeten Paar hinterherfährt und ein Lied namens "Dangerous Type" hört, wirkt das wie eine Warnung vor ihm, und dass er die folgenden Sätze verdächtig oft mit den Worten "Ich weiß noch" beginnt, weckt Zweifel, ob das stimmt. Schon bald wird klar, dass diese Erzählung kein Memoir, sondern im emphatischen Sinne ein Roman ist - und noch dazu einer, der das Lebensthema von Bret Easton Ellis, eine dekadente Jugend in Kalifornien zu Beginn der Achtzigerjahre, nach dessen Verarbeitung in Romanen wie "Unter Null" (1985) und "Die Informanten" (1994) noch einmal neu angeht und albtraumhaft verdichtet.
Bei diesem Vorgang spielt Musik eine besondere Rolle. Romane von Bret Easton Ellis bringen ja oft ihren eigenen Soundtrack mit, im Text sind ständig Verweise auf Popmusik und deren Abspielung in ganz bestimmten Situationen. Die Feststellung, dass, was bei Proust die Madeleines tun, bei Ellis die Musik macht: Erinnerungen unwillkürlich zu triggern, ist wohl nicht sehr originell und längst gängiges Prinzip der Popliteratur; aber zum einen hat Ellis diese Popliteratur maßgeblich selbst geprägt (die deutschsprachige Popliteratur seit den Neunzigern wäre ohne sein Vorbild undenkbar), und zum anderen ist die Art, wie das in seinen Texten passiert, eben doch immer wieder originell - oder es ist einfach sehr gut gemacht (siehe auch "American Psycho"). Musik erklingt bei ihm nie zufällig, sie ist immer der Spiegel der Figuren, wenn sie "mit beiläufiger Schönheit", wie es hier heißt, in Sportwagen mit Designersonnenbrillen an den Klippen des Lebens entlangfahren oder herunterstürzen. Oder zumindest will es den Erzählern von Bret Easton Ellis so erscheinen, dass Musik diese Bedeutung hat. Manchmal wirkt es gar, als seien seine Romane ganz aus dieser Musik heraus entwickelt, als schreibe er Fiktionen entlang von Liedtexten und ihren Evokationen.
Ein aus dem Radio dringender Refrain des Liedes "Vienna" von Ultravox auf einem Sender namens "Totally 80s" löst die siebenhundertseitige Erinnerung und Traumabewältigung maßgeblich aus, und das Lied rahmt deren Erzählung, wenn es kurz vor Schluss in einer dramatischen Szene wieder zitiert wird. "It means nothing to me": Das stimmt schon kaum für den Siebzehnjährigen; für den älter gewordenen Mann ist das Gegenteil der Fall. Er wird auf grausame Weise immer wieder eingeholt von seinen Erinnerungen, und sie bedeuten ihm wohl eher alles als nichts.
Die Geschichte hat dann über weite Strecken etwas von einem Kriminalroman oder auch Kriminalfilm - denn Ellis' Erzählen ist auch stark geprägt vom Kino. Was beginnt, wie man es aus seinen anderen Werken schon kennt: also mit Luxus und Langeweile, Sex und Drogen, abwesenden Eltern und deren noch nicht ganz erwachsenen Kindern, deren Leben einzig dem Hedonismus gewidmet ist, wird durch dunkle Vorausdeutungen und schließlich drastische Schilderungen von Gewalt bald zu einem Thriller, der wiederum aus allerlei kulturellen Vorbildern schöpft. Es fallen einem sowohl Bezüge zu L.A.-Krimis wie "Black Dahlia" als auch zu Filmen von David Lynch wie "Mulholland Drive" auf. Die Vorbilder und Referenzen gelangen auch immer wieder explizit in den Roman, weil er äußerst detailreich schildert, welche Filme die Jugendlichen sich ansehen und welche Bücher sie lesen. Dieser archivarisch-nostalgische Zug, mit dem Ellis oft auch ein heute nicht mehr existierendes Los Angeles mit seinen Jugendstil-Kinosälen und Taschenbuchläden heraufbeschwören will, nimmt dennoch der Spannung nichts weg, die er gezielt zu erzeugen und immer stärker zu steigern weiß.
Entscheidend wird dabei auch die Rolle des Erzählers, der maßgeblich in die grausamen Ereignisse verwickelt ist, die zu mehreren Toten und an Leib und Seele Verletzten führen (vorher allerdings gibt es sehr viele Poolpartys mit nackten, obszönen, bemitleidenswerten und verrückten Menschen zwischen Bergen von Kokain und Quaaludes). Die Ähnlichkeit zu F. Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby" mit dessen unzuverlässigem Erzähler Nick Carraway springt geradezu ins Auge, schon wenn der Erzähler hier zu Beginn das befreundete Paar beschreibt: Susan ist die Schönheitskönigin des Jahrgangs, und Thom ist ebenso mühelos begehrenswert und sexy, dass es wehtut: Bret gibt dann zu, dass er in beide verliebt ist. In die ohnehin schon vertrackten, von Eifersucht und unterdrückter, weil stigmatisierter Homosexualität geprägten Beziehungen der Figuren bricht dann das absolut Böse in Gestalt eines Serienmörders ein, der als "der Trawler" bezeichnet wird. Seine Figur ist ein Amalgam aus fiktiven und leider auch sehr realen Vorbildern. Das ist die Horror-Kehrseite der Vorstellung, wild und frei an der Westküste herumzukurven: Überall könnte ein Ted Bundy, ein Zodiac-Killer, ein Charles Manson lauern.
Ellis spürt immer auch der Frage nach, wann und wie amerikanische und speziell kalifornische Träume eigentlich gekippt sind. Er unterscheidet dabei, wie nachzulesen in seinem Essayband "Weiß", aber auch stellenweise im vorliegenden Roman, das Zeitalter eines "Empire" von dem des "Post-Empire": Die von ihm beschriebenen Teenager um 1980 seien am Ende des Empire "zugleich deprimiert und cool und kreditwürdig gewesen", hätten aber die Versprechen des Aufschwungs bald als leer entlarvt und dagegen "mit Ironie und negativer Grundhaltung" rebelliert. Auch hierin mag man eine Parallele oder farcehafte Wiederholung jenes nicht nur von Fitzgerald beschriebenen rauschhaften "Jazz-Age" der Zwanzigerjahre und seines Niedergangs sehen.
Im desillusionierten Post-Empire jedenfalls lebt und schreibt Ellis seit 1985, und es ist symptomatisch, dass sich sein neues Werk darüber dezidiert dem Horror-Genre annähert (mit dem er auch als Drehbuchschreiber vertraut ist). Während im Mittelteil des Buches viel Raum für explizit geschilderten homo- und heterosexuellen Verkehr ist, hält es gegen Ende detaillierte Beschreibungen von Verstümmelungen, von Suiziden und Morden bereit (Letztere sind nicht immer zu unterscheiden, was die wohl größte Spannung des Romans erzeugt). Gesteigert werden soll der Horror offenbar noch dadurch, dass der Erzähler immer wieder große Ähnlichkeit mit dem Autor aufweist, sogar von der Entstehung anderer Romane erzählt, die Bret Easton Ellis geschrieben hat. Und selbst der dicke Hinweis ganz am Ende des Buches, es handle sich bei diesem um ein fiktionales Werk, soll doch wieder Zweifel streuen, wenn es darin heißt: "Abgesehen vom Autor selbst ist jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen größtenteils zufällig und nicht real." Aber bevor man auf diesen Trick hereinfällt oder gar anfängt, nach den Fakten hinter der Erzählung zu googeln, sollte man sie lieber als das nehmen, was sie ist: eben kein "Total Recall", sosehr der Erzähler das auch glauben machen will, sondern ein explodierter Traum, dessen Scherben (daher der Titel "The Shards") man als Leser rätselnd, manchmal auch hingerissen und oft erschüttert betrachtet.
So spannend er ist, erschöpft sich der Roman aber nicht in der Krimihandlung. Er ist vielmehr ein Fanal der Melancholie. Sich noch einmal erinnernd an den Soundtrack seines Aufbruchs mit Liedtiteln wie "Time for Me to Fly", klingen dem Erzähler am Ende "viele der Stücke nach verzweifelter Begierde und Zurückweisung und Flucht. Handelten die Lieder, wie ich einmal geglaubt hatte, von einem Kind, das zum Mann wurde, so handelten sie für mich als Sechsundfünfzigjährigen auch von einem Mann, der ein Kind geblieben war." JAN WIELE
Bret Easton Ellis: "The Shards". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 736 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Total Recall: "The Shards", der
neue Roman von Bret
Easton Ellis, verdichtet seine Werk- und Lebensthemen in der Form eines Albtraums.
Im Herbst 2005 saß Bret Easton Ellis auf dem Podium einer Stadtbibliothek in Neuengland und las aus seinem Roman "Lunar Park". Nach der Lesung fragte jemand, wie autobiographisch das alles sei. Ellis gab sich genervt. Bis vor ein paar Jahren verbot es sich geradezu, Schriftsteller nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Werke zu fragen. Heute beantworten sie die Frage oft freiwillig - und sogar in den Werken selbst, die zunehmend unter Betonung ihres autobiographischen Charakters vermarktet werden.
Der neue Roman von Bret Easton Ellis hat ein Vorwort, in dem offenbar der Autor seine Annäherung an dessen Stoff beschreibt. Es gehe um seine eigenen Erfahrungen als Jugendlicher an einer Privatschule in Los Angeles, erzählt dort jemand namens Bret, um eine Gruppe von Freunden und deren Verhältnis zu einem Serienmörder im "Schreckensjahr 1981". Er berichtet vierzig Jahre später von Panikattacken bei dem Versuch, sich an diese Zeit bewusst zu erinnern, und spricht von einem "düsteren Tunnel, den ich als Siebzehnjähriger durchquerte", bevor er sich für den Rest des Buches zurück in diesen Tunnel begibt.
Ist Bret Easton Ellis also inzwischen auch auf jenen Zug der Unterhaltungsindustrie aufgesprungen, der mit dem abgeschmackten Slogan "based on a true story" Dringlichkeit und Relevanz behauptet? Vordergründig ja. Aber wenn dann im ersten Kapitel die vermeintlich wahre Erinnerung einsetzt mit dem Sprung zu einem kalifornischen Küstenhighway im Jahr 1981, auf dem der Icherzähler in einer Corvette einem befreundeten Paar hinterherfährt und ein Lied namens "Dangerous Type" hört, wirkt das wie eine Warnung vor ihm, und dass er die folgenden Sätze verdächtig oft mit den Worten "Ich weiß noch" beginnt, weckt Zweifel, ob das stimmt. Schon bald wird klar, dass diese Erzählung kein Memoir, sondern im emphatischen Sinne ein Roman ist - und noch dazu einer, der das Lebensthema von Bret Easton Ellis, eine dekadente Jugend in Kalifornien zu Beginn der Achtzigerjahre, nach dessen Verarbeitung in Romanen wie "Unter Null" (1985) und "Die Informanten" (1994) noch einmal neu angeht und albtraumhaft verdichtet.
Bei diesem Vorgang spielt Musik eine besondere Rolle. Romane von Bret Easton Ellis bringen ja oft ihren eigenen Soundtrack mit, im Text sind ständig Verweise auf Popmusik und deren Abspielung in ganz bestimmten Situationen. Die Feststellung, dass, was bei Proust die Madeleines tun, bei Ellis die Musik macht: Erinnerungen unwillkürlich zu triggern, ist wohl nicht sehr originell und längst gängiges Prinzip der Popliteratur; aber zum einen hat Ellis diese Popliteratur maßgeblich selbst geprägt (die deutschsprachige Popliteratur seit den Neunzigern wäre ohne sein Vorbild undenkbar), und zum anderen ist die Art, wie das in seinen Texten passiert, eben doch immer wieder originell - oder es ist einfach sehr gut gemacht (siehe auch "American Psycho"). Musik erklingt bei ihm nie zufällig, sie ist immer der Spiegel der Figuren, wenn sie "mit beiläufiger Schönheit", wie es hier heißt, in Sportwagen mit Designersonnenbrillen an den Klippen des Lebens entlangfahren oder herunterstürzen. Oder zumindest will es den Erzählern von Bret Easton Ellis so erscheinen, dass Musik diese Bedeutung hat. Manchmal wirkt es gar, als seien seine Romane ganz aus dieser Musik heraus entwickelt, als schreibe er Fiktionen entlang von Liedtexten und ihren Evokationen.
Ein aus dem Radio dringender Refrain des Liedes "Vienna" von Ultravox auf einem Sender namens "Totally 80s" löst die siebenhundertseitige Erinnerung und Traumabewältigung maßgeblich aus, und das Lied rahmt deren Erzählung, wenn es kurz vor Schluss in einer dramatischen Szene wieder zitiert wird. "It means nothing to me": Das stimmt schon kaum für den Siebzehnjährigen; für den älter gewordenen Mann ist das Gegenteil der Fall. Er wird auf grausame Weise immer wieder eingeholt von seinen Erinnerungen, und sie bedeuten ihm wohl eher alles als nichts.
Die Geschichte hat dann über weite Strecken etwas von einem Kriminalroman oder auch Kriminalfilm - denn Ellis' Erzählen ist auch stark geprägt vom Kino. Was beginnt, wie man es aus seinen anderen Werken schon kennt: also mit Luxus und Langeweile, Sex und Drogen, abwesenden Eltern und deren noch nicht ganz erwachsenen Kindern, deren Leben einzig dem Hedonismus gewidmet ist, wird durch dunkle Vorausdeutungen und schließlich drastische Schilderungen von Gewalt bald zu einem Thriller, der wiederum aus allerlei kulturellen Vorbildern schöpft. Es fallen einem sowohl Bezüge zu L.A.-Krimis wie "Black Dahlia" als auch zu Filmen von David Lynch wie "Mulholland Drive" auf. Die Vorbilder und Referenzen gelangen auch immer wieder explizit in den Roman, weil er äußerst detailreich schildert, welche Filme die Jugendlichen sich ansehen und welche Bücher sie lesen. Dieser archivarisch-nostalgische Zug, mit dem Ellis oft auch ein heute nicht mehr existierendes Los Angeles mit seinen Jugendstil-Kinosälen und Taschenbuchläden heraufbeschwören will, nimmt dennoch der Spannung nichts weg, die er gezielt zu erzeugen und immer stärker zu steigern weiß.
Entscheidend wird dabei auch die Rolle des Erzählers, der maßgeblich in die grausamen Ereignisse verwickelt ist, die zu mehreren Toten und an Leib und Seele Verletzten führen (vorher allerdings gibt es sehr viele Poolpartys mit nackten, obszönen, bemitleidenswerten und verrückten Menschen zwischen Bergen von Kokain und Quaaludes). Die Ähnlichkeit zu F. Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby" mit dessen unzuverlässigem Erzähler Nick Carraway springt geradezu ins Auge, schon wenn der Erzähler hier zu Beginn das befreundete Paar beschreibt: Susan ist die Schönheitskönigin des Jahrgangs, und Thom ist ebenso mühelos begehrenswert und sexy, dass es wehtut: Bret gibt dann zu, dass er in beide verliebt ist. In die ohnehin schon vertrackten, von Eifersucht und unterdrückter, weil stigmatisierter Homosexualität geprägten Beziehungen der Figuren bricht dann das absolut Böse in Gestalt eines Serienmörders ein, der als "der Trawler" bezeichnet wird. Seine Figur ist ein Amalgam aus fiktiven und leider auch sehr realen Vorbildern. Das ist die Horror-Kehrseite der Vorstellung, wild und frei an der Westküste herumzukurven: Überall könnte ein Ted Bundy, ein Zodiac-Killer, ein Charles Manson lauern.
Ellis spürt immer auch der Frage nach, wann und wie amerikanische und speziell kalifornische Träume eigentlich gekippt sind. Er unterscheidet dabei, wie nachzulesen in seinem Essayband "Weiß", aber auch stellenweise im vorliegenden Roman, das Zeitalter eines "Empire" von dem des "Post-Empire": Die von ihm beschriebenen Teenager um 1980 seien am Ende des Empire "zugleich deprimiert und cool und kreditwürdig gewesen", hätten aber die Versprechen des Aufschwungs bald als leer entlarvt und dagegen "mit Ironie und negativer Grundhaltung" rebelliert. Auch hierin mag man eine Parallele oder farcehafte Wiederholung jenes nicht nur von Fitzgerald beschriebenen rauschhaften "Jazz-Age" der Zwanzigerjahre und seines Niedergangs sehen.
Im desillusionierten Post-Empire jedenfalls lebt und schreibt Ellis seit 1985, und es ist symptomatisch, dass sich sein neues Werk darüber dezidiert dem Horror-Genre annähert (mit dem er auch als Drehbuchschreiber vertraut ist). Während im Mittelteil des Buches viel Raum für explizit geschilderten homo- und heterosexuellen Verkehr ist, hält es gegen Ende detaillierte Beschreibungen von Verstümmelungen, von Suiziden und Morden bereit (Letztere sind nicht immer zu unterscheiden, was die wohl größte Spannung des Romans erzeugt). Gesteigert werden soll der Horror offenbar noch dadurch, dass der Erzähler immer wieder große Ähnlichkeit mit dem Autor aufweist, sogar von der Entstehung anderer Romane erzählt, die Bret Easton Ellis geschrieben hat. Und selbst der dicke Hinweis ganz am Ende des Buches, es handle sich bei diesem um ein fiktionales Werk, soll doch wieder Zweifel streuen, wenn es darin heißt: "Abgesehen vom Autor selbst ist jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen größtenteils zufällig und nicht real." Aber bevor man auf diesen Trick hereinfällt oder gar anfängt, nach den Fakten hinter der Erzählung zu googeln, sollte man sie lieber als das nehmen, was sie ist: eben kein "Total Recall", sosehr der Erzähler das auch glauben machen will, sondern ein explodierter Traum, dessen Scherben (daher der Titel "The Shards") man als Leser rätselnd, manchmal auch hingerissen und oft erschüttert betrachtet.
So spannend er ist, erschöpft sich der Roman aber nicht in der Krimihandlung. Er ist vielmehr ein Fanal der Melancholie. Sich noch einmal erinnernd an den Soundtrack seines Aufbruchs mit Liedtiteln wie "Time for Me to Fly", klingen dem Erzähler am Ende "viele der Stücke nach verzweifelter Begierde und Zurückweisung und Flucht. Handelten die Lieder, wie ich einmal geglaubt hatte, von einem Kind, das zum Mann wurde, so handelten sie für mich als Sechsundfünfzigjährigen auch von einem Mann, der ein Kind geblieben war." JAN WIELE
Bret Easton Ellis: "The Shards". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 736 S., geb., 28,- Euro.
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