Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2013Zwischen Unglück und Glück liegt ein weites Feld
Jeannette Walls erzählt in "Die andere Seite des Himmels" von Schul-Mobbing, Helikopter-Eltern und einer kindlichen Selbstbehauptung unter widrigen Umständen
Eine Frau, teuer gekleidet, fährt im Taxi durch New York. Sie ist auf eine Party eingeladen. Da sieht sie am Straßenrand jemanden im Müll wühlen - ihre Mutter, die unter Hausbesetzern lebt, in einem selbstgewählten Alltag, mit der dazugehörigen Armut. Soll die Tochter eingreifen?
Die Frau im Taxi ist Jeannette Walls. Lange Zeit ist sie Journalistin mit Schwerpunkt Boulevard. Eine Kolumne muss sie regelmäßig bestücken, über Reiche. Es dauert, bis sie erstmals übers eigene Leben schreibt, in "Schloss aus Glas" im Jahr 2005. Der erfolgreiche Roman, der mit der Taxiszene beginnt, wird derzeit verfilmt, und er ist wie fürs Kino erfunden: über exaltierte Eltern, die mit ihren vier Kindern quer durch Amerika ziehen, getrieben, weil sie Struktur hassen, der Job missfällt, der Vater sich vom FBI verfolgt fühlt. Die Mutter ist Künstlerin. Vielleicht auch krank. "Mutter" ist Rose Mary nur peripher. Jeannette verbrennt als Dreijährige fast am Herd, während Rose Mary beim Malen gerade sich selbst verwirklicht. Trotzdem lesen und schreiben die Kinder noch vor der Schule. Bücher werden verschlungen. Sie lernen, die Löcher in ihrer Kleidung zu verbergen und andere Dinge, die gegen Stigmatisierung nützlich sind. Die Hippieeltern finden Selbständigkeit gut. Man muss nicht ständig aneinanderkleben. Die Kinder durchschauen zwar längst, dass Vaters "Schloss aus Glas", das er liebevoll skizziert, ein Traumhaus bleiben wird. Aber eben weil sie Kinder sind, schützen sie dieses Wackelgebäude Familie, so gut es geht. Älter geworden, brechen sie zusammen, verleugnen die Mutter, befreien sich selbst.
Jeannette Walls, deren Mutter inzwischen bei ihr in der Nähe wohnt, ist Letzteres gelungen. Genau deshalb muss man ihre Romane lesen, um zu verstehen, wie das gehen kann. Sie lebt mit ihrem Mann John Taylor, selbst Romanautor, in Virginia - "krankhaft unabhängig", wie sie sagt. Vielleicht, denkt man schamhaft in Zeiten von "Helikopter-Eltern", die ihre überbehüteten Kinder nie ins eigene Leben entlassen, waren es neben Charakterstärke auch die aufgezwungenen Werkzeuge dieser so anderen Eltern, die sie stählten. Nach der Romanbiographie über ihre Großmutter ("Ein ungezähmtes Leben", 2009) legt die Dreiundfünfzigjährige jetzt ihr erstes ausdrücklich fiktives Buch vor. Aber ist das Kerngeschäft von Fiktion nicht ohnehin die Realität?
"Die andere Seite des Himmels" wird von Bean erzählt. Sie ist zwölf, hat aber viel mehr erlebt, als in diese Jahre hineinpassen, weshalb sie mit starker Stimme spricht. Je schlimmer die Lage, desto reifer ihr Ton. Am Anfang des Romans steht sie noch unter dem Schutz ihrer älteren Schwester Liz. Die sorgt dafür, dass die Mädchen, nachdem die Mutter wieder einmal für längere Zeit verschwunden ist und das Jugendamt schon anläutete, den langen Weg zum Onkel nach Virginia bewältigen. Sie hängen sogar einen aufdringlichen Mann ab, unter Applaus der Mitreisenden, die offenbar nicht helfen. So wird es bleiben. Die mit untrüglichem Gerechtigkeitssinn ausgestatteten Kinder, die man nicht Kinder nennen will, verhalten sich wie Erwachsene. Und die Erwachsenen schauen ihnen bestenfalls dabei zu. Wüsste man nicht vom Hintergrund Jeannette Walls, könnte man diesen Roman in der Tradition solcher amerikanischer Romane sehen, die noch das ärgste Schicksal zum Guten wenden. Da gibt es mit Onkel Tinsley einen weltfremden Einsiedler, der die Schwestern unbeholfen, aber liebevoll bei sich aufnimmt; und mit seinen Sammelstücken, alten Landkarten und Glaskolben voller Erdproben, eine zu entdeckende, geheimnisvolle und hoffnungsfrohe Welt.
Vogeltapeten im verwinkelten, weitläufigen Haus beflügeln die Phantasie der Mädchen über das Leben ihrer Mutter, die hier aufwuchs. Wenn sie mit den neuentdeckten Verwandten selbstvergessen nachmittagelang Obst einmachen, weht Country-Romantik durch diese Prosa. Der Mut, den die beiden Schwestern im Kampf gegen den verschlagenen Mister Maddox entwickeln, ist eines Huckleberry Finn würdig. Die Kleinstadt kuscht vor dem mächtigen Mann, der die Mädchen betatscht und seine Arbeiter in der Weberei wie Sklaven behandelt. Für Liz ist diese Welt irgendwann zu schwer. So lebenstauglich sie anfangs wirkt, so zart ist sie gebaut. Man versteht am Ende, warum Jeannette Walls nicht Liz, die Sprachbegeisterte, diese Geschichte erzählen lässt. Sondern die jüngere Bean, die wenig liest, aber viel wahrnimmt. Ihre Mutter, findet sie, könnte sich ruhig besser um sie kümmern - wenn sie das Zeugs dazu hätte. Schneit sie mal herein, ist da aber nur noch eine Verzweifelte mehr, um die man sich kümmern muss. Bean sagt selten, was ihr fehlt. Das macht ihre Not um so greifbarer.
Der Roman ist mit seinem Sujet auch ein Nachhall auf Harper Lees Klassiker "Wer die Nachtigall stört". Die Geschichte der Rassentrennung spielt nicht nur hinein in dem Referat, das Bean halten muss, an der neuen Schule, die gerade erste Schritte in Richtung Integration macht. Die Ausgrenzung ist permanent spürbar. Mobbing gehört zum Schulalltag, die Lehrer schauen weg. Eine positive Kraft entsteht allein durch die Art, wie Bean von diesen Menschen erzählt, so, als wären sie ungezogene Kinder, die man durch ein bisschen gute Führung hinbiegen könnte. Klappt das nicht, wählt sie Plan B, weil man sich nicht zu lang mit Jammern aufhalten sollte. Liz hingegen setzt die Maddox-Geschichte derart zu, dass sie in ihrer Innenwelt zu verschwinden droht. Die Geschichte einer Selbstbehauptung inmitten widriger Umstände entwickelt sich aber dann doch ganz anders als erwartet.
"Die andere Seite des Himmels" ist zügig aus einer starken Figur heraus erzählt. Manchmal merkt man, dass die Handlung vorangetrieben und Informationsblöcke nachgetragen werden müssen, was mechanisch wirkt. Die alten Themen, die Jeannette Walls umtreiben, sind noch da, nur in neue Geschichten verwandelt. Das Besondere ist, wie schon in "Schloss aus Glas", der vorurteilsfreie Blick auf diese Kindheit, die so anders verläuft.
Zwischen Unglück und Glück ist eben ein weites Feld. Und man hört in diesem Roman, wie es überall knirscht. Auch und gerade in den reichen, vermeintlich glücklichen Familien. Das mag manchmal etwas überzeichnet sein. Der schnörkellose, saloppe Erzählgestus dieses authentischen Mädchens hat aber nun mal die Übertreibung als Begleiterscheinung. Vielleicht auch als Überlebensstrategie, um nicht all zu genau hinschauen zu müssen. Das macht Bean dafür wieder wett mit eisklarem Blick an anderer Stelle. Etwa über Emus, seltsame Riesenvögel, die auch dort wohnen und wie Beans Schwester und Mutter hoch hinaus wollen. "Sie hatten nur nicht die Flügel, die sie dafür bräuchten", stellt Bean einmal trocken fest. In diesen knappen, prägnanten Diagnosen liegt einiges Potential.
ANJA HIRSCH
Jeannette Walls: "Die andere Seite des Himmels". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jeannette Walls erzählt in "Die andere Seite des Himmels" von Schul-Mobbing, Helikopter-Eltern und einer kindlichen Selbstbehauptung unter widrigen Umständen
Eine Frau, teuer gekleidet, fährt im Taxi durch New York. Sie ist auf eine Party eingeladen. Da sieht sie am Straßenrand jemanden im Müll wühlen - ihre Mutter, die unter Hausbesetzern lebt, in einem selbstgewählten Alltag, mit der dazugehörigen Armut. Soll die Tochter eingreifen?
Die Frau im Taxi ist Jeannette Walls. Lange Zeit ist sie Journalistin mit Schwerpunkt Boulevard. Eine Kolumne muss sie regelmäßig bestücken, über Reiche. Es dauert, bis sie erstmals übers eigene Leben schreibt, in "Schloss aus Glas" im Jahr 2005. Der erfolgreiche Roman, der mit der Taxiszene beginnt, wird derzeit verfilmt, und er ist wie fürs Kino erfunden: über exaltierte Eltern, die mit ihren vier Kindern quer durch Amerika ziehen, getrieben, weil sie Struktur hassen, der Job missfällt, der Vater sich vom FBI verfolgt fühlt. Die Mutter ist Künstlerin. Vielleicht auch krank. "Mutter" ist Rose Mary nur peripher. Jeannette verbrennt als Dreijährige fast am Herd, während Rose Mary beim Malen gerade sich selbst verwirklicht. Trotzdem lesen und schreiben die Kinder noch vor der Schule. Bücher werden verschlungen. Sie lernen, die Löcher in ihrer Kleidung zu verbergen und andere Dinge, die gegen Stigmatisierung nützlich sind. Die Hippieeltern finden Selbständigkeit gut. Man muss nicht ständig aneinanderkleben. Die Kinder durchschauen zwar längst, dass Vaters "Schloss aus Glas", das er liebevoll skizziert, ein Traumhaus bleiben wird. Aber eben weil sie Kinder sind, schützen sie dieses Wackelgebäude Familie, so gut es geht. Älter geworden, brechen sie zusammen, verleugnen die Mutter, befreien sich selbst.
Jeannette Walls, deren Mutter inzwischen bei ihr in der Nähe wohnt, ist Letzteres gelungen. Genau deshalb muss man ihre Romane lesen, um zu verstehen, wie das gehen kann. Sie lebt mit ihrem Mann John Taylor, selbst Romanautor, in Virginia - "krankhaft unabhängig", wie sie sagt. Vielleicht, denkt man schamhaft in Zeiten von "Helikopter-Eltern", die ihre überbehüteten Kinder nie ins eigene Leben entlassen, waren es neben Charakterstärke auch die aufgezwungenen Werkzeuge dieser so anderen Eltern, die sie stählten. Nach der Romanbiographie über ihre Großmutter ("Ein ungezähmtes Leben", 2009) legt die Dreiundfünfzigjährige jetzt ihr erstes ausdrücklich fiktives Buch vor. Aber ist das Kerngeschäft von Fiktion nicht ohnehin die Realität?
"Die andere Seite des Himmels" wird von Bean erzählt. Sie ist zwölf, hat aber viel mehr erlebt, als in diese Jahre hineinpassen, weshalb sie mit starker Stimme spricht. Je schlimmer die Lage, desto reifer ihr Ton. Am Anfang des Romans steht sie noch unter dem Schutz ihrer älteren Schwester Liz. Die sorgt dafür, dass die Mädchen, nachdem die Mutter wieder einmal für längere Zeit verschwunden ist und das Jugendamt schon anläutete, den langen Weg zum Onkel nach Virginia bewältigen. Sie hängen sogar einen aufdringlichen Mann ab, unter Applaus der Mitreisenden, die offenbar nicht helfen. So wird es bleiben. Die mit untrüglichem Gerechtigkeitssinn ausgestatteten Kinder, die man nicht Kinder nennen will, verhalten sich wie Erwachsene. Und die Erwachsenen schauen ihnen bestenfalls dabei zu. Wüsste man nicht vom Hintergrund Jeannette Walls, könnte man diesen Roman in der Tradition solcher amerikanischer Romane sehen, die noch das ärgste Schicksal zum Guten wenden. Da gibt es mit Onkel Tinsley einen weltfremden Einsiedler, der die Schwestern unbeholfen, aber liebevoll bei sich aufnimmt; und mit seinen Sammelstücken, alten Landkarten und Glaskolben voller Erdproben, eine zu entdeckende, geheimnisvolle und hoffnungsfrohe Welt.
Vogeltapeten im verwinkelten, weitläufigen Haus beflügeln die Phantasie der Mädchen über das Leben ihrer Mutter, die hier aufwuchs. Wenn sie mit den neuentdeckten Verwandten selbstvergessen nachmittagelang Obst einmachen, weht Country-Romantik durch diese Prosa. Der Mut, den die beiden Schwestern im Kampf gegen den verschlagenen Mister Maddox entwickeln, ist eines Huckleberry Finn würdig. Die Kleinstadt kuscht vor dem mächtigen Mann, der die Mädchen betatscht und seine Arbeiter in der Weberei wie Sklaven behandelt. Für Liz ist diese Welt irgendwann zu schwer. So lebenstauglich sie anfangs wirkt, so zart ist sie gebaut. Man versteht am Ende, warum Jeannette Walls nicht Liz, die Sprachbegeisterte, diese Geschichte erzählen lässt. Sondern die jüngere Bean, die wenig liest, aber viel wahrnimmt. Ihre Mutter, findet sie, könnte sich ruhig besser um sie kümmern - wenn sie das Zeugs dazu hätte. Schneit sie mal herein, ist da aber nur noch eine Verzweifelte mehr, um die man sich kümmern muss. Bean sagt selten, was ihr fehlt. Das macht ihre Not um so greifbarer.
Der Roman ist mit seinem Sujet auch ein Nachhall auf Harper Lees Klassiker "Wer die Nachtigall stört". Die Geschichte der Rassentrennung spielt nicht nur hinein in dem Referat, das Bean halten muss, an der neuen Schule, die gerade erste Schritte in Richtung Integration macht. Die Ausgrenzung ist permanent spürbar. Mobbing gehört zum Schulalltag, die Lehrer schauen weg. Eine positive Kraft entsteht allein durch die Art, wie Bean von diesen Menschen erzählt, so, als wären sie ungezogene Kinder, die man durch ein bisschen gute Führung hinbiegen könnte. Klappt das nicht, wählt sie Plan B, weil man sich nicht zu lang mit Jammern aufhalten sollte. Liz hingegen setzt die Maddox-Geschichte derart zu, dass sie in ihrer Innenwelt zu verschwinden droht. Die Geschichte einer Selbstbehauptung inmitten widriger Umstände entwickelt sich aber dann doch ganz anders als erwartet.
"Die andere Seite des Himmels" ist zügig aus einer starken Figur heraus erzählt. Manchmal merkt man, dass die Handlung vorangetrieben und Informationsblöcke nachgetragen werden müssen, was mechanisch wirkt. Die alten Themen, die Jeannette Walls umtreiben, sind noch da, nur in neue Geschichten verwandelt. Das Besondere ist, wie schon in "Schloss aus Glas", der vorurteilsfreie Blick auf diese Kindheit, die so anders verläuft.
Zwischen Unglück und Glück ist eben ein weites Feld. Und man hört in diesem Roman, wie es überall knirscht. Auch und gerade in den reichen, vermeintlich glücklichen Familien. Das mag manchmal etwas überzeichnet sein. Der schnörkellose, saloppe Erzählgestus dieses authentischen Mädchens hat aber nun mal die Übertreibung als Begleiterscheinung. Vielleicht auch als Überlebensstrategie, um nicht all zu genau hinschauen zu müssen. Das macht Bean dafür wieder wett mit eisklarem Blick an anderer Stelle. Etwa über Emus, seltsame Riesenvögel, die auch dort wohnen und wie Beans Schwester und Mutter hoch hinaus wollen. "Sie hatten nur nicht die Flügel, die sie dafür bräuchten", stellt Bean einmal trocken fest. In diesen knappen, prägnanten Diagnosen liegt einiges Potential.
ANJA HIRSCH
Jeannette Walls: "Die andere Seite des Himmels". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"At heart Walls is a wonderful yarn-spinner...This is a page-turner, built for hammock or beach reading." Karen Valby Entertainment Weekly