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Produktdetails
  • Kodak Professional
  • Verlag: Schirmer/Mosel
  • Seitenzahl: 235
  • Abmessung: 330mm x 260mm x 27mm
  • Gewicht: 2074g
  • ISBN-13: 9783888146053
  • ISBN-10: 3888146054
  • Artikelnr.: 24643706
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2000

Leuchtendes Ego
Avedons Blick auf die sechziger Jahre · Von Karl Markus Michel

Die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind sicher das Dezennium der Nachkriegszeit, das sich am deutlichsten in die Geschichte eingezeichnet hat. Aber mit welchem Lineament? Der Eindruck, den wir der Erinnerung oder einer Chronik verdanken, ist verwirrend. Die Sechziger waren so manches. Zunächst aber waren sie das Jahrzehnt des Vietnamkrieges und des Protests gegen ihn. Was schleichend unter Kennedy begann, hatte in den folgenden zehn Jahren, unter Johnson und Nixon, die Vereinigten Staaten fast zerrissen.

Die Sechziger waren zugleich das Jahrzehnt der Pop-Revolution. Durch sie wurde 1964 das Zentrum des Kunstbetriebs handstreichartig von Paris nach New York verlegt, wo früher vor allem Warhol die Konsumierbarkeit aller Mythen besorgte. Noch wichtiger für das Jahrzehnt war die Popmusik (1961 erschien Bob Dylans erstes Album, 1970 starben kurz hintereinander Jimi Hendrix und Janis Joplin an Heroin). Ohne den neuen Beat, ohne die Drogen und die Antibabypille (seit 1960) hätte es die Hippie-Bewegung vielleicht gar nicht gegeben, und ohne ihre "Flower Power" (Allen Ginsberg 1965) wären die Antikriegskampagnen kaum so exaltiert geraten, wäre womöglich auch die neue Gläubigkeit, diese Drugstore-Spiritualität, nicht entstanden. (Der Supreme Court entschied 1965, dass jeder, der an ein höheres Wesen glaubt, egal an welches, sich vom Kriegsdienst befreien lassen kann.)

Die Sechziger waren aber auch das Jahrzehnt der Weltraumfahrt (auf Gagarins Erdumkreisung folgte 1962 die von John Glenn und 1969 die Mondlandung; Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" kam 1968 in die Kinos). Und sie waren, nachdem 1960 der neue Civil Rights Act in Kraft getreten war, das Jahrzehnt der heftigsten Kämpfe um diese Bürgerrechte - mittels Demonstrationen, Blockaden und Märschen, blumigen und blutigen. Einen ersten Höhepunkt bildete der Marsch auf Washington von 1963: Bob Dylan und Joan Baez traten auf, Martin Luther King hielt seine Rede "I have a dream". Der Traum endete mit den von der Nationalgarde niedergeschlagenen Getto-Unruhen in Newark und Detroit (1967).

Die sechziger Jahre bescherten uns noch manches andere, zum Beispiel politisch oder kulturell motivierte Mordanschläge - gegen John F. Kennedy, Robert Kennedy, Martin Luther King, Malcolm X, Sharon Tate und andere; die Frauen- und die Schwulenbewegung (die seit 1968 - dank dem Attentat der Valery Solanas auf Andy Warhol - innig miteinander verbunden sind); die Lust auf Erlösung, sei's durch eine modische Therapie (1960 erschien Laings "Geteiltes Selbst", 1970 Janovs "Urschrei"), sei's durch Polit-Fantasy (1967 bis 1969 wurde in der westlichen Welt die Mao-Bibel dreihundertfünfzig Millionen Mal verkauft, die Che-Ikone mindestens ebenso oft).

Insgesamt war es ein amerikanisch geprägtes Jahrzehnt - welches europäische Gegenkulturphänomen jener Zeit wäre nicht einem amerikanischen Muster gefolgt! Jedenfalls sind es vornehmlich diese Muster, die Originale der Dissidenz, denen der vorliegende Band seine Reverenz erweist. Er verbindet die ins Mikrofon von Doon Arbus gesprochenen Konfessionen von etwa sechzig mehr oder weniger bekannten Dezenniumsgenossen mit fotografischen Aufnahmen dieser und anderer Personen. Die Statements wirken um nichts lebendiger als andere O-Ton-Zeugnisse, wenn sie in die Jahre gekommen sind. Was uns heute, nach mehr als dreißig Jahren, am meisten beeindruckt, ist ihre hilflose Maßlosigkeit, ihre geborgte Authentizität.

Ein paar Beispiele: ". . . ich habe das immense Bedürfnis, eine Barrikade zu finden, auf der ich sterben kann", sagte die Filmemacherin Shirley Clarke. "Mein Ego ist immens. Weißt du, das ist . . . das ist die Haupt . . . die Hauptmotivation, die man äh . . . die man zu beherrschen lernen muss", sagte beim Prozess gegen die "Chicago Seven" (1969) der Yippie Jerry Rubin. Der gleichfalls bei diesem Prozess angeklagte Rennie Davis, Mitbegründer des SDS, sagte: "Und dieses . . . dieses vage Gefühl . . . gut zu sein . . . ist irgendwie herangereift. Der neue Mensch als solcher in einer revolutionären Gesellschaft - das ist für mich ganz echt." Oder die Blues-Sängerin Janis Joplin: "Beinahe könnt's total gut sein und richtig und ganz offen und amorph, und dass jeder gibt und alles . . ." Ja, damals begann das: Gemäß McLuhans Diktum "The medium is the message" (1964) bezeugten eher die kaputten als die korrekten Äußerungen die Authentizität, die einer vom anderen erwartete. Überall häuft sich seitdem der Schrott dieser Echtheit, das "irgendwie", das "ich meine" oder "wenn du verstehst, was ich meine" und so fort.

Und wie sahen sie aus, die echten Menschen? Richard Avedon ist berühmt für den Glanz, den Schmelz, den Zauber, den seine Fotos ebenso wie der Haut eines Models der Haut eines Napalmopfers oder eines Elefanten abgewinnen können. Auch diesmal gibt es viel nackte Haut zu sehen, weiße und schwarze, glatte und runzlige oder vernarbte; wir bekommen auch Unmengen von Haaren gezeigt, sie wuchern und wallen, wie vom Kult-Musical "Hair" (1967) verordnet. Aber es ist ein anderes Detail, das sofort auffällt, wenn man den Band durchblättert: die Augen. Nicht die Augen der offiziellen Vertreter der Vereinigten Staaten und der US-Army in Vietnam - die sind ziemlich verkniffen. Noch weniger die Schlitze, aus denen die Mitglieder der "American Nazi Party" uns ansehen. Sondern die Augen im Milieu der Alternativkultur: dieses merkwürdige Leuchten, geschürt von Hoffnung oder Trotz oder Zorn; diese Zukunft im Blick, ob bei Mitgliedern von Warhols Factory oder des Living Theatre; ob bei Popmusikern wie Janis Joplin, Joan Baez, Tina Turner, Frank Zappa, den Beatles und anderen Bands oder bei Models wie Twiggy, Penelope Tree, Ingrid Boulting, die hier nur sich selbst präsentieren. Selbst Mitglieder von radikalen Gruppen wie den Weathermen oder den Young Lords zeigen diesen Blick. Oder die "Chicago Seven" in Erwartung einer Gefängnisstrafe für ihren Protest gegen den Krieg in Vietnam.

Fotos können nicht beweisen, nur demonstrieren. Und wenn man noch so viele Beispiele für ein bestimmtes Phänomen zusammentrüge - es gibt eine Kehrseite, die vielleicht das Gegenteil bezeugt. Die Schauseite wird dadurch nicht entwertet. Selbst wenn sie sich, wie in unserem Fall, dem Interesse eines einzelnen Fotografen verdankt, bleibt doch bezeichnend, dass dieser Fotograf in den sechziger Jahren immer wieder jenen besonderen Augenaufschlag wahrnahm. Wir wissen heute, wie viel von dem Blick in die Zukunft damals Illusion war. Wir wissen aber auch und können es uns durch Avedos Bilder bestätigen lassen: Humbug war er nicht.

Richard Avedon und Doon Arbus: "The Sixties". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ursula Wulfekamp. Schirmer/Mosel Verlag, München 1999. 238 S., 160 Abb. in Farbe und Duatone, geb., 148,- DM.

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