Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2010Liebe unter dem Minuszeichen
Scheiternde Wahlverwandtschaften: Paolo Giordanos subtiles Debüt war ein Überraschungserfolg in Italien
Am Erfolg hängt, zum Erfolg drängt doch alles. Heißt dies nicht, literarisch gewendet: Gib dem Leser, was des Lesers ist. Was aber will er? Bestsellerlisten, Stückzahlen beantworten es mit einem ganz neues Genre: dem Designerroman. Er ist ein Produkt der Medienkonkurrenz. Gewonnen hat den Kampf um die freie Zeit des Publikums zwar der Kino- und Fernsehfilm. Doch in seinem Rücken scheint der langsame, selbstlose Buchstabe der Literatur einen ganz neuen, alternativen Genuss zu bieten: eine Diät gegen die Fresslust schneller, gieriger Bilder.
Anschauung kann ein eklatanter Fall aus Italien geben. Es ist der Debütroman von Paolo Giordano, sechundzwanzig, Doktorand der Physik. Er trägt den Titel "Die Einsamkeit der Primzahlen", erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million, beherrschte Bestsellerlisten und Kritik und erhielt den "Premio Strega", den angesehensten Literaturpreis Italiens.
Erfolge haben Gründe. Zwei erstaunliche spielen hier zusammen. Giordano ist nicht naiv. Er hat die "Scuola Holden", die Schreibschule des Medienartisten Alessandro Barrico (F.A.Z. von 9. Mai 2008), besucht - und offensichtlich seine Lektion gelernt. Schreiben für Publikum heißt demnach, dessen Sehgewohnheiten entgegenzukommen. Der Text muss leichtgängig sein, braucht einen Erzähler, der alles in der Hand hat, ohne dass er es zeigt; kurze Kapitel, knappe Sätze; Stil ja, doch kaum Ballast; präzise Figuren, biographisch geordnet; Mattia und Alice, die Protagonisten, schicksalhaft füreinander bestimmt; und überm Horizont der Regenbogen einer Liebesgeschichte mit ausreichend emotionalem Niederschlag. Alles ist angerichtet für einen schönen Abend im Sprachkino.
Und dann das: Giordano bedient zwar all diese Erwartungen, doch nur, um durch sie hindurch ein ebenso berührendes wie subtiles Drama von Einsamkeit und Entsagung aufzuführen. Es folgt einer klassischen, geradezu mathematisch strengen Linienführung: zwei unabhängige Adoleszenzgeschichten, die sich nahekommen, doch unvereinbar bleiben, wie Zwillingsprimzahlen, die der Titel meint. Ihre unerfüllte Liebe nimmt den Leser mit, um ihm zu eröffnen, warum sie unerfüllt bleiben musste.
Erste Szene: Alice sollte, nach dem Willen des Vaters, es im Skifahren zu etwas bringen. Sie verunglückt; ihr Bein versteift. Mit dem Bewusstsein eines Krüppels tritt sie ins Leben ein; es ist zugleich der Anfang ihres Austritts. Parallel dazu die zweite Szene: Mattia, eingeladen zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden, lässt, um dem Spott der anderen zu entgehen, seine behinderte Schwester im Park zurück. Man wird sie nie mehr finden; er geht sich darüber selbst verloren. Zwei verfehlte Initiationen ins Leben - und eine effektvolle Vorlage, um belletristisch für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch Giordano ist unerbittlich. Von den Erniedrigungen der Schulzeit über die Nöte erwachender Sexualität, über versagte Freundschaften, verlorene Beziehungen zu den Eltern bis zu den Selbstüberlassenheiten in Ausbildung und Beruf legt er einen Stationenweg an, der mit jedem Schritt nur den verfehlten Anfang weiter entfaltet, streng wie ein analytisches Schicksalsdrama. Je länger sie am Leben teilnehmen, desto tiefer gräbt sich ihnen ein, dass sie nicht dazugehören. An einer Stelle lässt die Geschichte einen Durchblick auf ihre Beweggründe zu: "Er lehnte die Welt ab, sie fühlte sich von der Welt abgelehnt." Von Beginn an treten sie deshalb den Rückzug in sich selbst an und liefern sich ihren schadhaften Seelen aus. Folgt man Freud, kehrt das Verdrängte freilich entstellt wieder: beide übertragen die Ablehnung ihrer selbst auf ihren Körper. Sie verfolgt ihn mit Bulimie; er verkrüppelt sich Hände und Haut.
Wie in einem (guten) Drama wird die Falllinie zur rechten Zeit jedoch von einem sensiblen retardierenden Moment unterbrochen. Es kommt, wie die Sympathie des Lesers es sich wünscht: Die beiden lernen sich kennen; die bisher parallelen Handlungen gehen ineinander auf. Es hätte die Peripetie ihres Lebens werden können. Doch auch sie war unter falschem Vorzeichen zustande gekommen. Die anderen, die Mitschüler, die Normalen, waren es, die meinten, die Unzugehörigen müssten doch zusammengehören. Eine raffinierte Pointe Giordanos. Er wendet die sentimentale Mathematik des Unterhaltungsgenres an: minus mal minus ergibt ein Plus des Lebensgefühls.
Und tatsächlich, der eine erkennt sich im anderen. Sie verbringen viel Zeit zusammen, innerlich nahe, körperlich aber fern. Höhepunkt ist - gut klassisch - ein Stück im Stück: In den vergilbten Kleidern der Eltern spielen sie Hochzeit. Im Grunde ist damit bereits alles gesagt: Sie mussten sich im Gewand der Vergangenheit inszenieren, weil eine (gemeinsame) Zukunft ausgeschlossen war. Mit einer alten Polaroid hielten sie wenigstens im Bild eine Möglichkeit fest, die sie in Wirklichkeit nie hatten. Allzu sehr war das, was sie verbindet, von dem bestimmt, was sie von den anderen trennt, eben Liebe unterm Minuszeichen. Immerhin, wenn sie sich trafen, trat eine Stille ein, wo jeder durch den anderen Ruhe vor sich selbst hatte. Aber es blieb eine "Leere" zwischen quälender Einsamkeit und verwehrter Alltäglichkeit. So, als ob sie ein Loch in der Seele hätten, durch das alles verschwindet, was als Erfüllung hätte eintreten können. Mit der Konsequenz, dass das Trennende schließlich zur Trennung führt. Es folgt ein - paralleler - Versuch, ein Leben der anderen zu leben; Scheitern; ein Wiedersehen; abermals vergeblich. Sie bleiben aussichtslos unverbunden verbunden - eine Geschichte ohne Ende. Sie bricht deshalb (rechtzeitig) ab.
Und hinterlässt die eigentlich brisante Frage, warum sie aus ihren Höhlen der Schuld, Scham und Angst keinen Ausgang gefunden haben. Eröffnet wird kaum etwas. Giordanos Roman verwandelt sich dadurch vordergründig wie hintergründig in eine Geschichte des Schweigens und Verschweigens. Es gibt eine Schlüsselszene in ihrer lädierten Biographie, wo sich alles hätte wenden können, wenn sie geredet hätten. Stattdessen verstummen sie hinter Nichtssagendem. "Eine gigantische Sprechblase, gefüllt mit Dingen, die sie sich zu sagen hatten, schwebte über ihnen; doch beide mühten sich, sie zu übersehen, indem sie starr vor sich hinblickten." Wie sich selbst hielten sie auch ihre Sprache unter Verschluss. Um ihrer autistischen Einsperrung zu entkommen, flüchten sie - vergeblich - in Ersatzsprachen: Mattia, der Mathematiker, versucht, alles um sich herum nach Zahlenverhältnissen zu ordnen. Alice macht sich mit ihren Fotos ein Bild von der Welt. Wahrhaft authentisch aber äußern sie sich nur in ihren Narben. So "zubetoniert", wie Giordano seine Figuren agieren lässt, übt er verdeckt Kulturkritik an der zeitgenössischen Video- und Logosphäre.
Was dieser unaufgelösten Gleichung jedoch Rang verleiht: Giordano hat Stil. Er überträgt die Schweigsamkeit seiner Figuren auf seinen Roman selbst. Kein Wort zu viel; keine blumigen metaphorischen Girlanden; karge, einfache Sätze, die keinen Widerstand leisten. Solchen Minimalismus schätzt der Autor an Raymond Carver. Es entsteht so eine sentimentale Geschichte, die weitgehend unsentimental erzählt wird. Sie gewinnt die Gunst des Publikums auf andere Weise. Darin besteht die Kunst Paolo Giordanos. Da große Worte fehlen, muss sich der Blick an die kleinen Dinge halten. Sie verlieren dadurch ihren Charakter als Werkstoff und verwandeln sich in beziehungsreiche Symptome dessen, was verschwiegen wird. In einer unauffällig eingefügten Regieanweisung heißt es: "Die Dinge wirkten ... wie Waren, die nach exaktem Kalkül in einem Schaufenster ausgestellt waren." Als die beiden einmal zusammen Auto fahren, hören sie Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung". Unmerklich eröffnet der Text auf diese Weise eine Sehschule. Dadurch kann nicht nur die Hand Mattias viel mehr offenbaren, "als er es mit seiner Stimme hätte tun können". Alles auf der Oberfläche, mit der er sich umgibt, übernimmt es für ihn - allerdings erst, wenn der Leser es übersetzt.
Das ist das eigentlich Erstaunliche dieses Romans der gescheiterten Wahlverwandtschaften. Er offeriert seine Geschichte weithin im Modus der Enthaltsamkeit und findet doch üppigen Zuspruch - durchaus ein Kompliment an die Leserschaft. Deutet sich darin eine neue Sensibilität an, die am Ufer selbstbeherrschter Schriftlichkeit Erholung von medialen Überschwemmungen in Wort, Bild und Ton sucht?
WINFRIED WEHLE.
Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen". Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Karl Blessing Verlag, München 2009. 363 S., geb., 19,80 [Euro].
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Scheiternde Wahlverwandtschaften: Paolo Giordanos subtiles Debüt war ein Überraschungserfolg in Italien
Am Erfolg hängt, zum Erfolg drängt doch alles. Heißt dies nicht, literarisch gewendet: Gib dem Leser, was des Lesers ist. Was aber will er? Bestsellerlisten, Stückzahlen beantworten es mit einem ganz neues Genre: dem Designerroman. Er ist ein Produkt der Medienkonkurrenz. Gewonnen hat den Kampf um die freie Zeit des Publikums zwar der Kino- und Fernsehfilm. Doch in seinem Rücken scheint der langsame, selbstlose Buchstabe der Literatur einen ganz neuen, alternativen Genuss zu bieten: eine Diät gegen die Fresslust schneller, gieriger Bilder.
Anschauung kann ein eklatanter Fall aus Italien geben. Es ist der Debütroman von Paolo Giordano, sechundzwanzig, Doktorand der Physik. Er trägt den Titel "Die Einsamkeit der Primzahlen", erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million, beherrschte Bestsellerlisten und Kritik und erhielt den "Premio Strega", den angesehensten Literaturpreis Italiens.
Erfolge haben Gründe. Zwei erstaunliche spielen hier zusammen. Giordano ist nicht naiv. Er hat die "Scuola Holden", die Schreibschule des Medienartisten Alessandro Barrico (F.A.Z. von 9. Mai 2008), besucht - und offensichtlich seine Lektion gelernt. Schreiben für Publikum heißt demnach, dessen Sehgewohnheiten entgegenzukommen. Der Text muss leichtgängig sein, braucht einen Erzähler, der alles in der Hand hat, ohne dass er es zeigt; kurze Kapitel, knappe Sätze; Stil ja, doch kaum Ballast; präzise Figuren, biographisch geordnet; Mattia und Alice, die Protagonisten, schicksalhaft füreinander bestimmt; und überm Horizont der Regenbogen einer Liebesgeschichte mit ausreichend emotionalem Niederschlag. Alles ist angerichtet für einen schönen Abend im Sprachkino.
Und dann das: Giordano bedient zwar all diese Erwartungen, doch nur, um durch sie hindurch ein ebenso berührendes wie subtiles Drama von Einsamkeit und Entsagung aufzuführen. Es folgt einer klassischen, geradezu mathematisch strengen Linienführung: zwei unabhängige Adoleszenzgeschichten, die sich nahekommen, doch unvereinbar bleiben, wie Zwillingsprimzahlen, die der Titel meint. Ihre unerfüllte Liebe nimmt den Leser mit, um ihm zu eröffnen, warum sie unerfüllt bleiben musste.
Erste Szene: Alice sollte, nach dem Willen des Vaters, es im Skifahren zu etwas bringen. Sie verunglückt; ihr Bein versteift. Mit dem Bewusstsein eines Krüppels tritt sie ins Leben ein; es ist zugleich der Anfang ihres Austritts. Parallel dazu die zweite Szene: Mattia, eingeladen zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden, lässt, um dem Spott der anderen zu entgehen, seine behinderte Schwester im Park zurück. Man wird sie nie mehr finden; er geht sich darüber selbst verloren. Zwei verfehlte Initiationen ins Leben - und eine effektvolle Vorlage, um belletristisch für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch Giordano ist unerbittlich. Von den Erniedrigungen der Schulzeit über die Nöte erwachender Sexualität, über versagte Freundschaften, verlorene Beziehungen zu den Eltern bis zu den Selbstüberlassenheiten in Ausbildung und Beruf legt er einen Stationenweg an, der mit jedem Schritt nur den verfehlten Anfang weiter entfaltet, streng wie ein analytisches Schicksalsdrama. Je länger sie am Leben teilnehmen, desto tiefer gräbt sich ihnen ein, dass sie nicht dazugehören. An einer Stelle lässt die Geschichte einen Durchblick auf ihre Beweggründe zu: "Er lehnte die Welt ab, sie fühlte sich von der Welt abgelehnt." Von Beginn an treten sie deshalb den Rückzug in sich selbst an und liefern sich ihren schadhaften Seelen aus. Folgt man Freud, kehrt das Verdrängte freilich entstellt wieder: beide übertragen die Ablehnung ihrer selbst auf ihren Körper. Sie verfolgt ihn mit Bulimie; er verkrüppelt sich Hände und Haut.
Wie in einem (guten) Drama wird die Falllinie zur rechten Zeit jedoch von einem sensiblen retardierenden Moment unterbrochen. Es kommt, wie die Sympathie des Lesers es sich wünscht: Die beiden lernen sich kennen; die bisher parallelen Handlungen gehen ineinander auf. Es hätte die Peripetie ihres Lebens werden können. Doch auch sie war unter falschem Vorzeichen zustande gekommen. Die anderen, die Mitschüler, die Normalen, waren es, die meinten, die Unzugehörigen müssten doch zusammengehören. Eine raffinierte Pointe Giordanos. Er wendet die sentimentale Mathematik des Unterhaltungsgenres an: minus mal minus ergibt ein Plus des Lebensgefühls.
Und tatsächlich, der eine erkennt sich im anderen. Sie verbringen viel Zeit zusammen, innerlich nahe, körperlich aber fern. Höhepunkt ist - gut klassisch - ein Stück im Stück: In den vergilbten Kleidern der Eltern spielen sie Hochzeit. Im Grunde ist damit bereits alles gesagt: Sie mussten sich im Gewand der Vergangenheit inszenieren, weil eine (gemeinsame) Zukunft ausgeschlossen war. Mit einer alten Polaroid hielten sie wenigstens im Bild eine Möglichkeit fest, die sie in Wirklichkeit nie hatten. Allzu sehr war das, was sie verbindet, von dem bestimmt, was sie von den anderen trennt, eben Liebe unterm Minuszeichen. Immerhin, wenn sie sich trafen, trat eine Stille ein, wo jeder durch den anderen Ruhe vor sich selbst hatte. Aber es blieb eine "Leere" zwischen quälender Einsamkeit und verwehrter Alltäglichkeit. So, als ob sie ein Loch in der Seele hätten, durch das alles verschwindet, was als Erfüllung hätte eintreten können. Mit der Konsequenz, dass das Trennende schließlich zur Trennung führt. Es folgt ein - paralleler - Versuch, ein Leben der anderen zu leben; Scheitern; ein Wiedersehen; abermals vergeblich. Sie bleiben aussichtslos unverbunden verbunden - eine Geschichte ohne Ende. Sie bricht deshalb (rechtzeitig) ab.
Und hinterlässt die eigentlich brisante Frage, warum sie aus ihren Höhlen der Schuld, Scham und Angst keinen Ausgang gefunden haben. Eröffnet wird kaum etwas. Giordanos Roman verwandelt sich dadurch vordergründig wie hintergründig in eine Geschichte des Schweigens und Verschweigens. Es gibt eine Schlüsselszene in ihrer lädierten Biographie, wo sich alles hätte wenden können, wenn sie geredet hätten. Stattdessen verstummen sie hinter Nichtssagendem. "Eine gigantische Sprechblase, gefüllt mit Dingen, die sie sich zu sagen hatten, schwebte über ihnen; doch beide mühten sich, sie zu übersehen, indem sie starr vor sich hinblickten." Wie sich selbst hielten sie auch ihre Sprache unter Verschluss. Um ihrer autistischen Einsperrung zu entkommen, flüchten sie - vergeblich - in Ersatzsprachen: Mattia, der Mathematiker, versucht, alles um sich herum nach Zahlenverhältnissen zu ordnen. Alice macht sich mit ihren Fotos ein Bild von der Welt. Wahrhaft authentisch aber äußern sie sich nur in ihren Narben. So "zubetoniert", wie Giordano seine Figuren agieren lässt, übt er verdeckt Kulturkritik an der zeitgenössischen Video- und Logosphäre.
Was dieser unaufgelösten Gleichung jedoch Rang verleiht: Giordano hat Stil. Er überträgt die Schweigsamkeit seiner Figuren auf seinen Roman selbst. Kein Wort zu viel; keine blumigen metaphorischen Girlanden; karge, einfache Sätze, die keinen Widerstand leisten. Solchen Minimalismus schätzt der Autor an Raymond Carver. Es entsteht so eine sentimentale Geschichte, die weitgehend unsentimental erzählt wird. Sie gewinnt die Gunst des Publikums auf andere Weise. Darin besteht die Kunst Paolo Giordanos. Da große Worte fehlen, muss sich der Blick an die kleinen Dinge halten. Sie verlieren dadurch ihren Charakter als Werkstoff und verwandeln sich in beziehungsreiche Symptome dessen, was verschwiegen wird. In einer unauffällig eingefügten Regieanweisung heißt es: "Die Dinge wirkten ... wie Waren, die nach exaktem Kalkül in einem Schaufenster ausgestellt waren." Als die beiden einmal zusammen Auto fahren, hören sie Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung". Unmerklich eröffnet der Text auf diese Weise eine Sehschule. Dadurch kann nicht nur die Hand Mattias viel mehr offenbaren, "als er es mit seiner Stimme hätte tun können". Alles auf der Oberfläche, mit der er sich umgibt, übernimmt es für ihn - allerdings erst, wenn der Leser es übersetzt.
Das ist das eigentlich Erstaunliche dieses Romans der gescheiterten Wahlverwandtschaften. Er offeriert seine Geschichte weithin im Modus der Enthaltsamkeit und findet doch üppigen Zuspruch - durchaus ein Kompliment an die Leserschaft. Deutet sich darin eine neue Sensibilität an, die am Ufer selbstbeherrschter Schriftlichkeit Erholung von medialen Überschwemmungen in Wort, Bild und Ton sucht?
WINFRIED WEHLE.
Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen". Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Karl Blessing Verlag, München 2009. 363 S., geb., 19,80 [Euro].
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