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Produktdetails
  • Yale-Hoover Series on Authoritarian Regimes
  • Verlag: Yale University Press
  • Seitenzahl: 352
  • Erscheinungstermin: 18. Juni 2012
  • Englisch
  • Abmessung: 264mm
  • Gewicht: 812g
  • ISBN-13: 9780300169522
  • ISBN-10: 0300169523
  • Artikelnr.: 33375723
Autorenporträt
Jan Plamper, geboren 1970, ist Neuzeithistoriker mit Schwerpunkt Russland. Nach dem Studium an der Brandeis University und der Promotion in Berkeley war er Wissenschaftlicher Assistent am Tübinger Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde. Seit 2008 ist er Dilthey Fellow im Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2012

Ein göttlicher Führer für das Weltproletariat

Als Wahrheit hinstellen, was als Lüge erkennbar ist: Jan Plamper erklärt, warum und wie es zum Kult um den Dikator Stalin kam.

Als Stalin im März 1953 einen tödlichen Schlaganfall erlitt, schien es, als seien die Götter sterblich. Der polnische Student Janusz Bardach, der damals in Moskau lebte, erinnerte sich, verstörte und verunsicherte Menschen auf den Straßen gesehen zu haben. Es war, als hätten sie die Apokalypse erwartet. Konnte denn Stalin ein sterbliches Wesen sein? So sehr hatten sich die Untertanen an die Allgegenwart des Allmächtigen gewöhnt, dass sie sich eine Welt ohne ihn nicht mehr vorstellen konnten.

Aber Stalin war nicht als Gott zur Welt gekommen. In den ersten Jahren nach der Revolution war er in der politischen Führung nichts weiter als einer unter Gleichen gewesen. Zehn Jahre später konnte man über ihn nur noch im Modus der Bewunderung sprechen. Er war zum "Vater der Völker" geworden. Sein Wort war Gesetz, seine Person die Verkörperung der neuen Ordnung. Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet in der Sowjetunion entstand, was im Heilsplan des Marxismus nicht vorgesehen war? Wie verband sich der Personenkult mit dem Kollektivismus und den unsichtbaren Mächten der Geschichte, in deren Namen die Bolschewiki die Macht beanspruchten?

Jan Plamper gibt auf diese Fragen klare und überzeugende Antworten. So wie alle Personenkulte des zwanzigsten Jahrhunderts, schreibt er, müsse auch der Stalinkult als Möglichkeit der Moderne gesehen werden. Ohne die Sakralisierung des Menschen, die Idee der Volkssouveränität und ohne die technischen Möglichkeiten der Massenmobilisierung wäre der Kult Anspruch geblieben und wirkungslos gewesen. Und dennoch verstand sich der Kult um Hitler und Mussolini von selbst, weil es einen Faschismus ohne Führer nicht geben konnte.

Wozu aber benötigten die Bolschewiki einen Führerkult? Plamper weiß auf diese Frage auch keine Antwort. Aber er erklärt, wie der Kult entstehen konnte. Fast alle prominenten Bolschewiki seien vor der Revolution in Untergrundzirkeln sozialisiert worden und hätten sich Anführern untergeordnet. Der Kult müsse als Fortsetzung, nicht als Bruch mit der Tradition verstanden werden.

"Majesty is made, not born", hat der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz behauptet. So war es auch in der Sowjetunion. Stalins Vergöttlichung begann im Jahr 1929, als die Redaktion der "Prawda" seinen fünfzigsten Geburtstag zum Anlass nahm, einen Kult um seine Person zu inszenieren. Plamper lässt keinen Zweifel daran, dass Stalin diesen Kult nicht nur wollte, sondern ihn auch kontrollierte. Kein Porträt des Führers konnte ohne seine Zustimmung veröffentlicht werden. Es kam allerdings darauf an, Stalins Rolle im Ungewissen zu lassen, weil der Kult um den Führer nur im Modus der Bescheidenheit auftreten konnte. Plamper spricht von Stalins "unbescheidener Bescheidenheit". Öffentlich ironisierte der Diktator die Verherrlichung seiner Person, hinter verschlossenen Türen aber steuerte er sie.

Sein Sekretär Poskrjobyschow erteilte Photographen, Malern und Zeitungsredakteuren Anweisungen, welche Porträts veröffentlicht werden durften und wie sie zu retuschieren waren. Die Künstler mussten Signale, die aus dem Kreml kamen, zu deuten verstehen. Nach und nach entstand ein kanonisches Bild vom Führer als Mittelpunkt des imperialen Herrschaftssystems. Lenin musste dynamisch, in revolutionärer Pose präsentiert werden, Stalin war nichts als ruhender Pol und Zentrum, von dem alle Kraft ausging. Wie immer der Diktator auch dargestellt wurde, ob als Vater der Völker, als Freund der Kinder oder Führer des Weltproletariats - stets befand er sich in der Mitte, alle anderen Personen rückten an den Rand. Für den Betrachter wurde Stalin zum strahlenden Mittelpunkt von allem, selbst auf solchen Bildern, auf denen er gar nicht zu sehen war. Denn in seinen letzten Lebensjahren reichte es aus, Menschen zu porträtieren, die Stalin "gesehen" hatten. Man schaute in ihre erleuchteten Gesichter und spürte die Anwesenheit des Unsichtbaren.

Ohne Vermittlung hätten die Künstler niemals erfahren, auf welche Weise Stalin im Bild dargestellt werden musste. Sie erfuhren aus Erzählungen, wie der Diktator über Kultprodukte geurteilt hatte, sie erhielten Instruktionen seines Sekretärs und bekamen Besuch von Funktionären aus dem Zentralkomitee, die ihnen mitteilten, welche Darstellungen erwünscht und welche inakzeptabel waren. Vor allem aber, so Plamper, hätten die Gefolgsleute Stalins enge Beziehungen zu den Künstlern unterhalten, die für die Produktion der Kultobjekte verantwortlich waren. Stalins Kriegsminister Woroschilow förderte und protegierte Maler und verschaffte ihnen Zugang zum Arkanbereich der Macht.

Sie erfuhren, was ein Maler im Dienst des Kultes wissen musste. Und sie wussten, dass der treue Woroschilow am Hof des Despoten niemals in Ungnade fallen würde. Denn niemand außer ihm war so oft mit Stalin auf Bildern zu sehen gewesen. Man hätte ihn nicht nur physisch beseitigen, sondern auch von allen kanonischen Porträts entfernen müssen. Man könnte mit Plamper auch sagen, dass der Stalinkult Woroschilows Lebensversicherung war.

Der Stalin-Kult konnte sich nur in einer geschlossenen Gesellschaft entfalten, in der es keine alternativen Quellen der Information gab. Niemand konnte über Stalin anders sprechen als im Modus des Kultes. In Plampers Buch kommen Enthusiasten, Erleuchtete und Begeisterte zu Wort, die über Stalin sprechen, als habe der Kult ihre Seelen und Körper ergriffen. Wie aber hätten Häftlinge, Gefolterte, Vertriebene und Stigmatisierte über den Mann gesprochen, der auf Bildern wie ein göttliches Wesen verehrt wurde? Wir wissen es nicht, weil die Propaganda diesen Menschen keine Stimme verlieh.

Und dennoch: Kann man die Wirkungen des Kultes vom Terror trennen, dem mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen? Wozu benötigte das Regime Terror und Gewalt, wenn sein Kult Zustimmung scheinbar ohne Zwang erzeugen konnte? Die Macht der stalinistischen Diktatur beruhte auf ihrer Fähigkeit, Menschen dazu zu zwingen, öffentlich als Wahrheit auszusprechen, was für jedermann als Lüge erkennbar war. Das öffentliche Bekenntnis zur Diktatur ist in einer Diktatur nichts anderes als eine Überlebensstrategie, die über den Glauben eines Menschen keine Auskunft gibt. Das weiß auch Plamper, der über die Wirkungsmacht des Kultes wenig mitteilt, weil die Quellen, auf die er sich beruft, über sie nicht sprechen. Nicht auf die Wirkung, sondern auf die Produktion des Kultes kommt es ihm an. Und darüber hat dieses gelehrte und geistreiche Buch zweifellos das letzte Wort gesprochen.

JÖRG BABEROWSKI

Jan Plamper: "The Stalin Cult". A Study in the Alchemy of Power.

Yale University Press, New Haven 2012. 310 S., geb., 45,99 [Euro].

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