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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2004

Rebellions-Opfer
William Trevors dunkler Roman „Die Geschichte der Lucy Gault”
In der Welt des irischen Autors William Trevor herrscht Vergeblichkeit. Selten wehren sich seine Figuren gegen die Verhältnisse, meist finden sie sich klaglos ab mit ihrem Leid. Im besten Fall ziehen sie sich zurück, in ein anderes Land, in die Ruhe einer geschlossenen Anstalt oder sie verschließen sich in den Tiefen der eigenen Psyche. Davon erzählt Trevor immer wieder; in seinen Romanen, in „Turgenjews Schatten” zum Beispiel, oder in „Felicias Reise” sind es vor allem Frauen, die durch ihre Sensibilität den Schicksalsschlägen des Lebens, in aller Regel ausgelöst von Männern, hoffnungslos unterlegen sind.
Immer wieder berichtet Trevor von späten Mädchen, hoffnungslosen Bräuten und unglücklichen Ehefrauen. Seine jüngeren Figuren sind oft Voll- oder Halbwaisen, der Verlust mindestens eines Elternteils wird sie ein Leben lang benachteiligen. Auch Lucy Gault kommt nicht darüber hinweg und versäumt damit ihr eigenes Leben. Mit dem Ausgangspunkt ihrer Tragödie streift Trevor eines der letzten Tabus der irischen Gegenwartsliteratur: Die Familie der Gaults wird zum unschuldigen Opfer dumpfen irischen Rebellentums.
Im Sommer 1921, kurz nach der politischen Teilung der Insel, wehrt sich Captain Everard Gault auf seinem kleinen Anwesen mit der Waffe gegen nächtliche Brandstifter. Seine englischen Vorfahren sind vor Jahrhunderten nach Irland gekommen, seine Frau ist Engländerin – Grund genug für die fanatische Patrioten, den Mann vertreiben zu wollen. Die Gaults planen die Abreise ins Exil; nur die neunjährige Lucy will ihre Heimat nicht verlieren, reißt aus und bleibt verschwunden. Ihre Eltern warten lange, bis sie vom Tod ihrer Tochter überzeugt sind, verlassen den Ort und irren jahrzehntelang, als „Invaliden des Schicksals”, im Süden Europas herum – unerreichbar für die wiedergefundene Lucy und alle anderen, die den Captain und seine Frau von der Wendung des Schicksals in Kenntnis setzen wollen. Mag der Fall selbst marginal sein, so betreibt Trevor im Hintergrund seines Romans doch eine bittere Abrechnung mit dem irischen Nationalismus, so in den beiläufigen Hinweise auf eine Reihe anderer vertriebener Familien.
„Die Geschichte der Lucy Gault” ist ein zutiefst unmodischer Roman, eher dem literarischen 19. Jahrhundert verpflichtet als dem folgenden. Trevor, der große, ungewöhnliche Melancholiker der irischen Literatur, ist ein sehr leiser, behutsamer Autor; in seinem Werk gibt es kein Gelächter, keine ausgelassene Fröhlichkeit; den heiteren, gelösten Momenten ist nicht zu trauen, sie dienen nur der Steigerung der Fallhöhe. Gänzlich untypisch für irische Schriftsteller oder besser, für das Klischee vom irischen Schriftsteller, ist Trevors profunde Aversion gegen den Alkohol. Jeder Griff zum Glas kann bei ihm der erste Schritt zum Elend des Säufers sein, der straffreie und folgenlose Drink ist seiner Weltsicht zutiefst fremd.
Auch darin ist er von Roman zu Roman konsequenter und gleichzeitig sublimer geworden. Wo andere irische Autoren, etwa Patrick McCabe oder auch Roddy Doyle, ihre Szenen lustvoll und virtuos ausreizen, erweist sich Trevor als Meister der Andeutung; er lässt die verzweifelte Heloise Gault zurückhaltend fragen: „Wollen wir den Wein heute Abend ein bisschen früher öffnen?” Hinterher muss er nicht mehr berichten, dass und wie sie sich in ihrem Schmerz betrinken wird.
Wenn der greise und verwitwete Heimkehrer Everard endlich seiner ahnungslosen, ihn nicht erkennenden Tochter gegenübersteht, schneidet Trevor unverzüglich auf eine andere Szene. Er muss das Wiedersehen nicht ausmalen, weil er seine Figuren längst so intensiv zum Leben erweckt hat, dass in diesem Augenblick die intensivste Form des Erzählens nur die Ellipse, das Zurücknehmen und Verstummen sein kann.
Seit vielen Jahren scheint der irische, in England lebende Autor nach der vollkommenen Askese des Schreibens zu suchen; in diesem Buch ist er ihr näher gekommen als je zuvor.
H.G. PFLAUM
WILLIAM TREVOR: Die Geschichte der Lucy Gault. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakubeit. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 303 Seiten, 22,90 Euro.
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