This volume describes the content and discusses the history and origins of the three core commitments of Darwinism, examines the three critiques that challenge this Darwinian edifice and proposes a system for integrating these commitments and critiques into a structure of evolutionary thought.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2002Als es bei Muscheln und Schnecken hoch herging
Vor einer Woche verstarb der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould: Er hinterlässt sein letztes Wort zur Evolutionslehre
Mit all ihren sinnreichen Details – seien es die Schwingen eines Schwans oder die Krallen einer Katze – schien die Natur nach göttlichem Plan erschaffen. Als Charles Darwin eine ganz andere Erklärung präsentierte, stieß er bei den meisten Zeitgenossen auf Unverständnis. Seine Evolutionstheorie sieht keinen tatkräftigen Schöpfer vor. Stattdessen geht sie davon aus, dass sich die Lebewesen von selbst verändern und neue Formen entwickeln. Als treibende Kraft bringt Darwin die „natürliche Auslese”, auch Selektion genannt, ins Spiel: So wie ein Taubenzüchter bestimmte Varianten auswählt, haben auch in der Natur manche Individuen bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Wenn sie ihre vorteilhaften Eigenschaften an die Nachkommen vererben, wandelt sich das Erscheinungsbild im Laufe der Generationen. So können neue Tier- und Pflanzenarten entstehen, ohne dass höhere Mächte gestaltend eingreifen.
Wer die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich nimmt, wird solche Gedankengänge wohl nie akzeptieren. Dass der Mensch, Ebenbild Gottes, dem Geschlecht der Affen entstammen soll, löst in diesen Kreisen Entrüstung aus. In den Vereinigten Staaten versuchen religiöse Fundamentalisten immer mal wieder, derlei aus den Lehrplänen zu verbannen. Hierzulande sind solche Stimmen rar. Darwins Vorstellungen gehören längst zur Allgemeinbildung. Sich den Details zu widmen bleibt Sache der Fachleute. Ihnen stellt sich die Evolutionstheorie keineswegs so simpel dar, wie uns die Schulbücher glauben machen. Stephen Jay Gould, Professor an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, war der prominenteste Befürworter einer tiefgreifenden Renovierung. Das vorliegende Opus spiegelt das Lebenswerk des letzte Woche verstorbenen Wissenschaftlers wider.
Einst selbst orthodoxer Darwinist, kam Gould allmählich zu der Überzeugung, dass die klassische Evolutionstheorie zu kurz greife. Nach Darwins Überlegungen setzt die natürliche Auslese stets an den einzelnen Organismen an. Dabei ist sie nicht nur im Kleinen der Motor der Evolution, die gesamte Entwicklungsgeschichte des Lebens wird auf den elementaren Mechanismus der Selektion zurückgeführt. Dem mag Gould nicht vorbehaltlos zustimmen. Gründliche Um- und Ausbaumaßnahmen scheinen ihm unumgänglich. Dabei betrachtet er die Evolutionstheorie nicht als starres Gedankengebäude, das keinerlei Veränderung verträgt. Als Metapher wählt er lieber etwas organisch Gewachsenes: eine fossile Koralle, deren Hauptäste für Darwins zentrale Thesen stehen. Porträtiert wurde das dekorative Stück im siebzehnten Jahrhundert von Agostino Scilla, einem sizilianischen Künstler und Naturforscher.
Gar so weit geht es selten zurück in die Vergangenheit, doch die historische Dimension nimmt stets breiten Raum ein. Um die Struktur der Evolutionstheorie in all ihren Facetten erfassen zu können, vertieft sich Gould mit Hingabe in die Wissenschaftsgeschichte. Dabei studiert er nicht nur die Gedankenwelt Charles Darwins. Meriten um die Evolutionstheorie billigt er auch etlichen Gelehrten zu, die Darwins Ideen eher skeptisch gegenüberstanden. Die etablierten Darwinisten des zwanzigsten Jahrhunderts kommen minder gut weg. Ihnen wirft der Autor Dogmatismus vor: Sie hätten verhindert, dass die Evolutionstheorie sich weiterentwickeln konnte. Manche Fachkollegen betrachten Gould als Ketzer, der – wenn auch ungewollt – Darwins bibeltreuen Gegnern in die Hände spielte.
Seit der Aufregung in den achtziger Jahren haben sich die Wogen allerdings etwas geglättet. Auch wenn sich zahlreiche Evolutionsforscher nicht mit Goulds Vorstellungen anfreunden mögen, viele gestehen ihm immerhin zu, fruchtbare Diskussionen angestoßen zu haben.
Doch worüber wird in Biologenkreisen so eifrig debattiert? Im Gegensatz zur gängigen Lehrmeinung sieht Gould die Evolution als vielschichtigen Prozess: Die Selektion wirke auf jedes Individuum, das sich vermehren, seine Eigenarten weitervererben und neue Varianten hervorbringen kann. Diese Kriterien treffen seiner Ansicht nach nicht nur auf den einzelnen Organismus zu, sondern – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch auf die gesamte Spezies oder einzelne Gene. Folglich sollte die natürliche Auslese auf solch unterschiedlichen Ebenen zum Zug kommen.
Was Biologen aufregt
Charles Darwin erörterte seinerzeit nur die Selektion von Organismen, nicht zuletzt, so vermutet Gould, aus taktischen Gründen: Indem er die Mechanismen der Evolution auf dieser niedrigstmöglichen Ebene ansiedelte – von Genen konnte er noch nichts wissen – ging er auf größtmögliche Distanz zu der herrschenden Meinung, dass höhere Mächte im Spiel sein müssten.
Darwin hat die kreative Funktion der Selektion erstmals schlüssig nachgewiesen. Daneben, so gibt Gould zu bedenken, seien jedoch noch andere Kräfte am Werk. Was bei der Evolution herauskommt, hängt nicht nur von der selektierenden Wirkung der Außenwelt ab. Wie weit Anpassung gehen kann, wird zum einen durch die Gesetze der Physik und Chemie bestimmt. Zum anderen werden die Entwicklungsmöglichkeiten von Lebewesen auch durch interne Faktoren eingeschränkt. Die jeweiligen Vorbedingungen lenken die Evolution in bestimmte Bahnen.
Wie das Vorhandene weiterentwickelt wird, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Embryonalentwicklung: Bei grundlegenden Differenzierungsprozessen greifen ganz verschiedenartige Organismen auf ein gemeinsames Erbe zurück. So zum Beispiel, wenn der Embryo Augen ausbildet. Nicht nur bei Mäusen spielt dann das so genannte Pax6-Gen eine Schlüsselrolle. Auch bei Fliegen und Tintenfischen, ja sogar bei Strudelwürmern findet sich ein vergleichbares Gen, obwohl diese Tiere grundverschiedene Augen entwickeln. Mit den Methoden der Gentechnik ließ sich sogar zeigen, dass das Pax6-Gen einer Maus auch in einer Taufliege seine Funktion erfüllen kann. Auch dort lässt es Augen entstehen. Fliegenaugen, denn das Mäuse-Gen aktiviert eine Fülle von Fliegen-Genen, die beim Aufbau funktionsfähiger Augen mitwirken.
Von solchen Erkenntnissen der Molekulargenetik konnte Charles Darwin noch nichts ahnen. Er musste auf dem Wissensstand des neunzehnten Jahrhunderts aufbauen und erweist sich auch unverkennbar als Kind seiner Zeit. So etwa, wenn er eine stete Entwicklung in kleinsten Schritten postuliert und zugleich von kontinuierlichen Fortschritten ausgeht. Mittlerweile wurde nicht nur der viktorianische Fortschrittsglaube beträchtlich gedämpft. Es zeigte sich auch, dass die Entwicklungsgeschichte des Lebens weniger glatt verlief, als Darwin annahm. Man denke nur an die globale Katastrophe, mit der die Kreidezeit zu Ende ging. Dass damals ein gewaltiger Meteorit auf Mittelamerika herabstürzte, war für eine Vielzahl von Tiergruppen ein vernichtender Schicksalsschlag.
Letztlich profitierten jene, die während des gesamten Erdmittelalters im Schatten der Dinosaurier und anderer imposanter Echsen gestanden hatten. Das Ende der erfolgreichen Reptilien gab den Säugetieren endlich eine Chance. Müßig die Frage, wie die Geschichte anderenfalls weitergegangen wäre. Womöglich würden sich noch heute Dinosaurier auf der Erde tummeln.
Selbst wenn man von katastrophalen Einschnitten absieht – die Erdgeschichte kennt etliche Katastrophen von globalen Ausmaßen – verläuft die Evolution nicht immer fließend. Wie die Fossilien bezeugen, tauchten neue Arten oft ziemlich abrupt auf, um dann über lange Zeit unverändert zu bleiben. Unter dem Schlagwort „Unterbrochenes Gleichgewicht” ist dieses Phänomen inzwischen auch in Lehrbüchern zu finden. Vor dreißig Jahren, als Stephen Jay Gould und Niles Eldredge erstmals darüber berichteten, reagierten die meisten Fachleute noch mit strikter Ablehnung. Millionen Jahre Stillstand an der Entwicklungsfront – das passte nicht ins Konzept. Dabei haben Gould und Eldredge nie behauptet, dass es in solchen Phasen keine natürliche Auslese gab. Vielleicht ging es zu Lebzeiten der fossilen Muscheln und Schnecken ebenso hoch her wie heutzutage bei den Darwinfinken auf den Galapagos-Inseln. Evolutionsforscher beobachteten dort, dass sich die Vögel binnen weniger Jahre merklich verändern. Durch natürliche Auslese passen sich Dicke und Länge ihrer Schnäbel stets umgehend an das Nahrungsangebot an. Auf einer geologischen Zeitskala wäre von solch einem Hin und Her freilich nicht mehr zu sehen als eine gewisse Streuung um einen gleichbleibenden Mittelwert.
Wo sich Gould als Paläontologe am meisten zu Hause fühlt, das will und kann er nicht verhehlen. Für den Leser sind diese Passagen nicht unbedingt die ergiebigsten – es sei denn man weiß einen minutiösen Einblick in die Streitkultur der Evolutionsforscher zu schätzen. Gewiss, strittige Fragen lassen sich nicht in wenigen Sätzen abhandeln. Wie ausführlich man dabei werden muss, ist eine andere Frage. Den Zwang zu essayistischer Kürze hat sich Gould nirgends auferlegt. Trotzdem ist die Lektüre oft kurzweilig, denn der Autor zählte zu jener seltenen Spezies von Wissenschaftlern, die über den Tellerrand ihres Spezialgebiets hinausschauen und dabei überraschende Ein blicke gewinnen. Aufgeschlossen für alle Aspekte der Evolution, bezieht er neben einem breiten Spektrum biologischer Fachrichtungen auch die Philosophenzunft in sein Teamwork ein.
Darwinfinken auf Dienstflug
Dank seiner historischen Studien weiß Gould durchaus, dass auch er ein Kind seiner Zeit ist, vom „Zeitgeist” nicht nur inspiriert, sondern bisweilen wohl auch irregeleitet. Doch wenngleich er Goethe zitiert: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt”, gibt er sich zuversichtlich, einen wesentlichen Beitrag zu einer erneuerten Evolutionstheorie geleistet zu haben. Dass er mit seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein im Kollegenkreis auch post mortem kräftig anecken wird, ist vorhersehbar. In epischer Breite, aber flüssig geschrieben, dürfte sein Buch indes nicht nur für Insider interessant sein. Schließlich reicht der Einfluss der Evolutionstheorie weit über die Biologie hinaus. Wer mitreden will, sollte vor der Lektüre nicht zurückschrecken, sondern den Appell beherzigen, mit dem der Autor seine Zusammenfassung beendet: „Dieser Wurmfortsatz ist die jämmerliche Restform einer viel längeren und, wie ich hoffe, subtileren Entwicklung. Bitte, lesen Sie das Buch!”
DIEMUT KLÄRNER
STEPHEN JAY GOULD: The Structure of Evolutionary Theory. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2002. 1433 Seiten, 39,95 US–Dollar.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Vor einer Woche verstarb der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould: Er hinterlässt sein letztes Wort zur Evolutionslehre
Mit all ihren sinnreichen Details – seien es die Schwingen eines Schwans oder die Krallen einer Katze – schien die Natur nach göttlichem Plan erschaffen. Als Charles Darwin eine ganz andere Erklärung präsentierte, stieß er bei den meisten Zeitgenossen auf Unverständnis. Seine Evolutionstheorie sieht keinen tatkräftigen Schöpfer vor. Stattdessen geht sie davon aus, dass sich die Lebewesen von selbst verändern und neue Formen entwickeln. Als treibende Kraft bringt Darwin die „natürliche Auslese”, auch Selektion genannt, ins Spiel: So wie ein Taubenzüchter bestimmte Varianten auswählt, haben auch in der Natur manche Individuen bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Wenn sie ihre vorteilhaften Eigenschaften an die Nachkommen vererben, wandelt sich das Erscheinungsbild im Laufe der Generationen. So können neue Tier- und Pflanzenarten entstehen, ohne dass höhere Mächte gestaltend eingreifen.
Wer die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich nimmt, wird solche Gedankengänge wohl nie akzeptieren. Dass der Mensch, Ebenbild Gottes, dem Geschlecht der Affen entstammen soll, löst in diesen Kreisen Entrüstung aus. In den Vereinigten Staaten versuchen religiöse Fundamentalisten immer mal wieder, derlei aus den Lehrplänen zu verbannen. Hierzulande sind solche Stimmen rar. Darwins Vorstellungen gehören längst zur Allgemeinbildung. Sich den Details zu widmen bleibt Sache der Fachleute. Ihnen stellt sich die Evolutionstheorie keineswegs so simpel dar, wie uns die Schulbücher glauben machen. Stephen Jay Gould, Professor an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, war der prominenteste Befürworter einer tiefgreifenden Renovierung. Das vorliegende Opus spiegelt das Lebenswerk des letzte Woche verstorbenen Wissenschaftlers wider.
Einst selbst orthodoxer Darwinist, kam Gould allmählich zu der Überzeugung, dass die klassische Evolutionstheorie zu kurz greife. Nach Darwins Überlegungen setzt die natürliche Auslese stets an den einzelnen Organismen an. Dabei ist sie nicht nur im Kleinen der Motor der Evolution, die gesamte Entwicklungsgeschichte des Lebens wird auf den elementaren Mechanismus der Selektion zurückgeführt. Dem mag Gould nicht vorbehaltlos zustimmen. Gründliche Um- und Ausbaumaßnahmen scheinen ihm unumgänglich. Dabei betrachtet er die Evolutionstheorie nicht als starres Gedankengebäude, das keinerlei Veränderung verträgt. Als Metapher wählt er lieber etwas organisch Gewachsenes: eine fossile Koralle, deren Hauptäste für Darwins zentrale Thesen stehen. Porträtiert wurde das dekorative Stück im siebzehnten Jahrhundert von Agostino Scilla, einem sizilianischen Künstler und Naturforscher.
Gar so weit geht es selten zurück in die Vergangenheit, doch die historische Dimension nimmt stets breiten Raum ein. Um die Struktur der Evolutionstheorie in all ihren Facetten erfassen zu können, vertieft sich Gould mit Hingabe in die Wissenschaftsgeschichte. Dabei studiert er nicht nur die Gedankenwelt Charles Darwins. Meriten um die Evolutionstheorie billigt er auch etlichen Gelehrten zu, die Darwins Ideen eher skeptisch gegenüberstanden. Die etablierten Darwinisten des zwanzigsten Jahrhunderts kommen minder gut weg. Ihnen wirft der Autor Dogmatismus vor: Sie hätten verhindert, dass die Evolutionstheorie sich weiterentwickeln konnte. Manche Fachkollegen betrachten Gould als Ketzer, der – wenn auch ungewollt – Darwins bibeltreuen Gegnern in die Hände spielte.
Seit der Aufregung in den achtziger Jahren haben sich die Wogen allerdings etwas geglättet. Auch wenn sich zahlreiche Evolutionsforscher nicht mit Goulds Vorstellungen anfreunden mögen, viele gestehen ihm immerhin zu, fruchtbare Diskussionen angestoßen zu haben.
Doch worüber wird in Biologenkreisen so eifrig debattiert? Im Gegensatz zur gängigen Lehrmeinung sieht Gould die Evolution als vielschichtigen Prozess: Die Selektion wirke auf jedes Individuum, das sich vermehren, seine Eigenarten weitervererben und neue Varianten hervorbringen kann. Diese Kriterien treffen seiner Ansicht nach nicht nur auf den einzelnen Organismus zu, sondern – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch auf die gesamte Spezies oder einzelne Gene. Folglich sollte die natürliche Auslese auf solch unterschiedlichen Ebenen zum Zug kommen.
Was Biologen aufregt
Charles Darwin erörterte seinerzeit nur die Selektion von Organismen, nicht zuletzt, so vermutet Gould, aus taktischen Gründen: Indem er die Mechanismen der Evolution auf dieser niedrigstmöglichen Ebene ansiedelte – von Genen konnte er noch nichts wissen – ging er auf größtmögliche Distanz zu der herrschenden Meinung, dass höhere Mächte im Spiel sein müssten.
Darwin hat die kreative Funktion der Selektion erstmals schlüssig nachgewiesen. Daneben, so gibt Gould zu bedenken, seien jedoch noch andere Kräfte am Werk. Was bei der Evolution herauskommt, hängt nicht nur von der selektierenden Wirkung der Außenwelt ab. Wie weit Anpassung gehen kann, wird zum einen durch die Gesetze der Physik und Chemie bestimmt. Zum anderen werden die Entwicklungsmöglichkeiten von Lebewesen auch durch interne Faktoren eingeschränkt. Die jeweiligen Vorbedingungen lenken die Evolution in bestimmte Bahnen.
Wie das Vorhandene weiterentwickelt wird, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Embryonalentwicklung: Bei grundlegenden Differenzierungsprozessen greifen ganz verschiedenartige Organismen auf ein gemeinsames Erbe zurück. So zum Beispiel, wenn der Embryo Augen ausbildet. Nicht nur bei Mäusen spielt dann das so genannte Pax6-Gen eine Schlüsselrolle. Auch bei Fliegen und Tintenfischen, ja sogar bei Strudelwürmern findet sich ein vergleichbares Gen, obwohl diese Tiere grundverschiedene Augen entwickeln. Mit den Methoden der Gentechnik ließ sich sogar zeigen, dass das Pax6-Gen einer Maus auch in einer Taufliege seine Funktion erfüllen kann. Auch dort lässt es Augen entstehen. Fliegenaugen, denn das Mäuse-Gen aktiviert eine Fülle von Fliegen-Genen, die beim Aufbau funktionsfähiger Augen mitwirken.
Von solchen Erkenntnissen der Molekulargenetik konnte Charles Darwin noch nichts ahnen. Er musste auf dem Wissensstand des neunzehnten Jahrhunderts aufbauen und erweist sich auch unverkennbar als Kind seiner Zeit. So etwa, wenn er eine stete Entwicklung in kleinsten Schritten postuliert und zugleich von kontinuierlichen Fortschritten ausgeht. Mittlerweile wurde nicht nur der viktorianische Fortschrittsglaube beträchtlich gedämpft. Es zeigte sich auch, dass die Entwicklungsgeschichte des Lebens weniger glatt verlief, als Darwin annahm. Man denke nur an die globale Katastrophe, mit der die Kreidezeit zu Ende ging. Dass damals ein gewaltiger Meteorit auf Mittelamerika herabstürzte, war für eine Vielzahl von Tiergruppen ein vernichtender Schicksalsschlag.
Letztlich profitierten jene, die während des gesamten Erdmittelalters im Schatten der Dinosaurier und anderer imposanter Echsen gestanden hatten. Das Ende der erfolgreichen Reptilien gab den Säugetieren endlich eine Chance. Müßig die Frage, wie die Geschichte anderenfalls weitergegangen wäre. Womöglich würden sich noch heute Dinosaurier auf der Erde tummeln.
Selbst wenn man von katastrophalen Einschnitten absieht – die Erdgeschichte kennt etliche Katastrophen von globalen Ausmaßen – verläuft die Evolution nicht immer fließend. Wie die Fossilien bezeugen, tauchten neue Arten oft ziemlich abrupt auf, um dann über lange Zeit unverändert zu bleiben. Unter dem Schlagwort „Unterbrochenes Gleichgewicht” ist dieses Phänomen inzwischen auch in Lehrbüchern zu finden. Vor dreißig Jahren, als Stephen Jay Gould und Niles Eldredge erstmals darüber berichteten, reagierten die meisten Fachleute noch mit strikter Ablehnung. Millionen Jahre Stillstand an der Entwicklungsfront – das passte nicht ins Konzept. Dabei haben Gould und Eldredge nie behauptet, dass es in solchen Phasen keine natürliche Auslese gab. Vielleicht ging es zu Lebzeiten der fossilen Muscheln und Schnecken ebenso hoch her wie heutzutage bei den Darwinfinken auf den Galapagos-Inseln. Evolutionsforscher beobachteten dort, dass sich die Vögel binnen weniger Jahre merklich verändern. Durch natürliche Auslese passen sich Dicke und Länge ihrer Schnäbel stets umgehend an das Nahrungsangebot an. Auf einer geologischen Zeitskala wäre von solch einem Hin und Her freilich nicht mehr zu sehen als eine gewisse Streuung um einen gleichbleibenden Mittelwert.
Wo sich Gould als Paläontologe am meisten zu Hause fühlt, das will und kann er nicht verhehlen. Für den Leser sind diese Passagen nicht unbedingt die ergiebigsten – es sei denn man weiß einen minutiösen Einblick in die Streitkultur der Evolutionsforscher zu schätzen. Gewiss, strittige Fragen lassen sich nicht in wenigen Sätzen abhandeln. Wie ausführlich man dabei werden muss, ist eine andere Frage. Den Zwang zu essayistischer Kürze hat sich Gould nirgends auferlegt. Trotzdem ist die Lektüre oft kurzweilig, denn der Autor zählte zu jener seltenen Spezies von Wissenschaftlern, die über den Tellerrand ihres Spezialgebiets hinausschauen und dabei überraschende Ein blicke gewinnen. Aufgeschlossen für alle Aspekte der Evolution, bezieht er neben einem breiten Spektrum biologischer Fachrichtungen auch die Philosophenzunft in sein Teamwork ein.
Darwinfinken auf Dienstflug
Dank seiner historischen Studien weiß Gould durchaus, dass auch er ein Kind seiner Zeit ist, vom „Zeitgeist” nicht nur inspiriert, sondern bisweilen wohl auch irregeleitet. Doch wenngleich er Goethe zitiert: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt”, gibt er sich zuversichtlich, einen wesentlichen Beitrag zu einer erneuerten Evolutionstheorie geleistet zu haben. Dass er mit seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein im Kollegenkreis auch post mortem kräftig anecken wird, ist vorhersehbar. In epischer Breite, aber flüssig geschrieben, dürfte sein Buch indes nicht nur für Insider interessant sein. Schließlich reicht der Einfluss der Evolutionstheorie weit über die Biologie hinaus. Wer mitreden will, sollte vor der Lektüre nicht zurückschrecken, sondern den Appell beherzigen, mit dem der Autor seine Zusammenfassung beendet: „Dieser Wurmfortsatz ist die jämmerliche Restform einer viel längeren und, wie ich hoffe, subtileren Entwicklung. Bitte, lesen Sie das Buch!”
DIEMUT KLÄRNER
STEPHEN JAY GOULD: The Structure of Evolutionary Theory. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2002. 1433 Seiten, 39,95 US–Dollar.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2002Darwins Testament
Ein Ereignis: Stephen Jay Goulds Ende der Naturgeschichte
Eines der beeindruckendsten Beispiele dafür, wie ein wissenschaftshistorischer Einzelfall durch die Erhellung seiner Möglichkeitsbedingungen verstehen lehrt, was das Zeitalter, in dem er stattfand, über sich selbst wissen konnte und wollte, ist der Werdegang des 1941 geborenen Stephen Jay Gould.
Der als Geologe, Paläontologe und Philosoph ausgebildete Gelehrte hat soeben sein 1400 Seiten umfassendes wissenschaftliches Hauptwerk vorgelegt: "The Structure of Evolutionary Theory". Es behandelt die Entstehung, Wirkung und von Gould erwartete baldige Ablösung des Darwinismus. Das geistige Gebäude, das Generationen von Forschern, Philosophen und metaphysischen Grundstücksspekulanten auf Charles Darwins Darlegungen über den Mechanismus "natürliche Auslese" errichtet haben, ist bei allen Versuchen Goulds, aus dessen teils blind gewordenen, teils nur zu klaren Fenstern einen Blick auf die umliegenden Landschaften der Wirklichkeit zu werfen, immer sein intellektuelles Zuhause geblieben.
Er kann es nicht verlassen - sosehr er auch darauf besteht, daß in Darwins Haus nur Menschen und deren Ideen hausen, keine Fakten oder gar ewige Wahrheiten. Weil er es schon so lange bewohnt - Goulds erste wissenschaftliche Veröffentlichung datiert aus dem Jahr 1965, sein erster großer darwinistischer Revisionsansatz, die zusammen mit Niles Eldredge erdachte Theorie des löchrigen Gleichgewichts der Arten, aus dem Jahr 1972 -, liebt er inzwischen auch die schiefen Treppenstufen und die Löcher im Dach. Indem er nun in Form eines Abschlußberichts prophezeit, das alte Haus werde bald bis in die Fundamente hinunter erneuert, damit aber auch beseitigt und so im berühmten Hegelschen Sinn "aufgehoben" werden, erklärt er nicht zuletzt, wie er selbst darin aufgewachsen ist und sich darin zu orientieren gelernt hat. Das Buch ist gerade an jenen Stellen, wo die Auseinandersetzung mit den vermuteten Denkfaulheiten der neodarwinistischen Orthodoxie in eine Apologie von Goulds eigenem Werk umschlägt, eine besonders aufschlußreiche, weil unverstellt parteiliche Besichtigung unseres wissenschaftlichen Zeitalters.
"The Structure of Evolutionary Theory" zeugt bei aller Spitzfindigkeit und Detailmanie sehr grundsätzlich von den oft übersehenen Glücksangeboten ebendieses Zeitalters für Kompilatoren und Schöpfer altmodisch mühsamer Sammler-Lebenswerke. Daß am absehbaren Ende des Darwinschen Zeitalters ein Akademiker wie Gould, dessen Belesenheit, Beredtheit und Neigung zu muschelkammerhaft spiralförmigen Sätzen seine charakteristischen Eigenschaften sind, in der angelsächsischen Welt eine solche Berühmtheit werden konnte, sagt viel Gutes über eine Öffentlichkeit, der man viel zu häufig unheilbaren Stumpfsinn unterstellt.
Goulds schriftstellerische Strategie der Wahrheitsfindung via Erstellung langer Exzerpte aus den Werken der Großen seines Fachs nebst genüßlich-eleganter Kommentierung derselben hat ihn im Hauptwerk dazu verführt, sich kokett als "den arrogantesten aller Literaten" zu bezeichnen. Gleichzeitig jedoch ist er eine Art volkstümlicher Weltweiser, nämlich der in den Vereinigten Staaten bekannteste Naturwissenschaftler: Seine aus konzisen Kolumnen und blitzartig riesige Ideenfelder erhellenden kurzen Artikeln zusammengestellten Aufsatzbände wie "Bravo, Brontosaurus" oder "Der Dinosaurier im Heuhaufen" sind Bestseller; in einer Folge der Zeichentrickserie "Die Simpsons" durfte er gar neben Stephen Hawking als Retter der hochbegabten kleinen Lisa Simpson auftreten.
Was Gould zur Sache vorbringt, ist für einen Naturwissenschaftler ungewöhnlich stark abhängig von der Kontrastwirkung gegenüber dem, was andere geschrieben haben. Während die landläufige Vorstellung des Unterschieds zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften ihre präziseste Formulierung in der These des Philosophen Cornelius Castoriadis gefunden hat, Geisteswissenschaftler studierten Texte, Naturwissenschaftler aber Sachverhalte, zeigt Goulds Arbeit und deren öffentliche Aufnahme, daß Texte und Sachverhalte einander beim wissenschaftlichen Arbeiten gleich welcher Art nichts nehmen und ihre Abhängigkeiten zahlreicher und verwickelter sind, als selbst das ausuferndste wissenssoziologische Gemälde zeigen kann.
Wie im Roman "Darwinia" von Robert Charles Wilson aus dem Jahr 1998 Europa plötzlich verschwindet und einer albtraumhaften, von einem unerforschbar menschenfeindlichen Dschungel überwucherten Landschaft Platz macht, so zeigt Goulds akribische Lektüre von Darwins "Entstehung der Arten", die das Herzstück seines Hauptwerks bildet, daß man sich nach der Durchsetzung einer starken Theorie mit ausgeformter logischer Geographie fast keine sinnvollen, begreifbaren Alternativlandschaften mehr vorstellen kann, die von anderem Licht erleuchtet würden als dem einmal gefundenen. Und doch, sagt Gould, gibt es Alternativen. Die sind fast immer aus literarischen Quellen geborgen: Ob Goethes Morphologie und deren "strukturalistisches" Bild vom "Ur-Blatt", in dem die Baupläne aller Pflanzenblätter eingefaltet sind, Texte von Lamarck und Saint-Hilaire, Francis Bacons Warnung davor, den "Theater-Idolen" des Diskurses aufzusitzen, oder Ideen aus Nietzsches "Genealogie der Moral"- wo Gould grundsätzlich wird, ruft er die Literatur in den Zeugenstand.
Die rein argumentativen Passagen, die daneben Platz finden, suggerieren oft, Gould glaube wohl, die Evolutionisten des neunzehnten Jahrhunderts wie Alfred Russel Wallace, Charles Darwin und Ernst Haeckel seien seine Zeitgenossen. Jener Gelehrtentyp wurde damals geschichtsfähig, weil "das Lebendige", um dessen Woher und Wohin es ihm ging, dem Zugriff mathematisch-physikalischer Theoretisierung entzogen zu sein schien. Es war die Zeit, als das Reich "Bios" Freiwildgehege für Philosophen war und "die Biologie" sowohl den prokapitalistischen Sozialdarwinismus als auch Friedrich Engels' paradarwinistische Schrift über den "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" inspirieren konnte. Den Grund dafür beschreibt der indische Physiker Apoorva Patel: "Organismen bestehen weder aus völlig regulären, festkörperhaften noch aus restlos freibeweglich-gasförmigen Arrangements. Dadurch werden die üblichen Werkzeuge der Physik - Gleichgewichtsdynamiken, axiomatisches Schließen, periodische Strukturen und Störungstheorien - weitgehend nutzlos."
Nur deshalb konnte das schriftstellerische Modell des "Lebenserzählers" aufkommen, der die Historisierung von Sexualität und Tod leisten mußte, als die Geschichte gerade fortschrittsbedingt zu erkennen begann, daß es sie gibt. Der bedeutendste dieser Erzähler war Darwin, die wichtigste entsprechende Erzählung ist die von der natürlichen Auslese, von der Konkurrenz der einzelnen Organismen als deren Schauplatz, von ihrem Vermögen, das Neue zu schaffen, und von ihrer Reichweite bis zurück an die Schranke des Anorganischen.
An allen drei Teilen der Erzählung arbeitet Gould sich ab als der neben dem Engländer Richard Dawkins vielleicht letzte Erfüller jenes Lebenserzähler-Programms. Goulds Erzählung ist eine der Abweichungen: Nicht der Organismus, sondern die Art sei der aufschlußreichste Schauplatz der Auslese, die Entstehung von Arten aber, die "Speziation", geschehe nicht notwendig graduell, sondern oft auch abrupt, Anpassung sei nicht gleich Verbesserung, Zufall und Katastrophen spielten eine größere Rolle, als bei Darwin zugelassen wurde.
Wie falsch oder richtig das alles sein mag - literarisch betrachtet zieht hier ein Schriftsteller für den modernen Roman und gegen die neuen Teleologien zu Felde, wie sie eines Tages auch aus der Informatiknähe neuer Lebenswissenschaften wie der Genomik entstehen könnten. Goulds Gegner Dawkins, der Erfinder der Formel vom "egoistischen Gen", der noch unter die Organismenebene auf die des Genoms als wíchtigsten Ort der Auslese verfällt, ist womöglich der einsichtsvollere, auch bescheidenere Naturerzähler, der gerade auf den robustesten Darwinschen Ideen beharrt.
Denn er hat die mikrobiologische Lektion gründlicher gelernt, sich ihr williger ergeben als sein amerikanischer Widersacher und wird schon durch die unverwüstliche Schärfe seiner Polemik der Idee gerecht, ein Entwicklungsgang sei auch ohne "Fortschritt" im emphatischen Sinn immer noch etwas "nach vorn" gerichtetes. Gould bleibt demgegenüber zu Ornament, Digression und folgenloser Sehnsucht nach besseren, redseligeren Gelehrtenzeiten verurteilt. So muß er sich schließlich, wie die englischsprachigen Medien aus Anlaß des Erscheinens von "The Structure of Evolutionary Theory" berichten, sogar mit Mißverständnissen auseinandersetzen, die ihn gerade wegen der Vielstimmigkeit seiner Schreibweisen ereilen: Auf die "plötzliche Entstehung von Arten", eine Kernidee der von ihm und Eldredge formulierten Theorie des löchrigen Gleichgewichts, berufen sich inzwischen sehr zu Goulds Verdruß auch Anhänger der buchstäblich genommenen Schöpfungslehre. Das könnte Dawkins nie passieren. In der nun anbrechenden Ära der durch Computermodellierung erschlossenen Großdynamiken ist beinah jeder Dissens mit Darwin, den Gould in seinem Buch austrägt, eine vernachlässigbare Größe, ein Streit um Darwins Bart. So mag Dawkins denn eines Tages besser dastehen, weil er Darwin heute nicht verfeinern und aufheben, sondern seine Ideen den Nachgeborenen in mikrogenetischer Sprache erläutern will, bevor sie sich in Rechenanweisungen aufzulösen beginnen.
Der literarischen Schönheit von Goulds "Structure of Evolutionary Theory" tut das keinen Abbruch. Was die Literatur weiß, mag der Fortschritt ruhig vergessen; dieses Wissen ist bei ihr in Sicherheit. Alternde Wissenschaft wird zu Kunst nicht kraft ihrer Erkenntnisse, sondern da, wo sie kurz vor Torschluß ästhetisches Glück spendet und jemand bereitsteht, davon zu berichten.
DIETMAR DATH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Ereignis: Stephen Jay Goulds Ende der Naturgeschichte
Eines der beeindruckendsten Beispiele dafür, wie ein wissenschaftshistorischer Einzelfall durch die Erhellung seiner Möglichkeitsbedingungen verstehen lehrt, was das Zeitalter, in dem er stattfand, über sich selbst wissen konnte und wollte, ist der Werdegang des 1941 geborenen Stephen Jay Gould.
Der als Geologe, Paläontologe und Philosoph ausgebildete Gelehrte hat soeben sein 1400 Seiten umfassendes wissenschaftliches Hauptwerk vorgelegt: "The Structure of Evolutionary Theory". Es behandelt die Entstehung, Wirkung und von Gould erwartete baldige Ablösung des Darwinismus. Das geistige Gebäude, das Generationen von Forschern, Philosophen und metaphysischen Grundstücksspekulanten auf Charles Darwins Darlegungen über den Mechanismus "natürliche Auslese" errichtet haben, ist bei allen Versuchen Goulds, aus dessen teils blind gewordenen, teils nur zu klaren Fenstern einen Blick auf die umliegenden Landschaften der Wirklichkeit zu werfen, immer sein intellektuelles Zuhause geblieben.
Er kann es nicht verlassen - sosehr er auch darauf besteht, daß in Darwins Haus nur Menschen und deren Ideen hausen, keine Fakten oder gar ewige Wahrheiten. Weil er es schon so lange bewohnt - Goulds erste wissenschaftliche Veröffentlichung datiert aus dem Jahr 1965, sein erster großer darwinistischer Revisionsansatz, die zusammen mit Niles Eldredge erdachte Theorie des löchrigen Gleichgewichts der Arten, aus dem Jahr 1972 -, liebt er inzwischen auch die schiefen Treppenstufen und die Löcher im Dach. Indem er nun in Form eines Abschlußberichts prophezeit, das alte Haus werde bald bis in die Fundamente hinunter erneuert, damit aber auch beseitigt und so im berühmten Hegelschen Sinn "aufgehoben" werden, erklärt er nicht zuletzt, wie er selbst darin aufgewachsen ist und sich darin zu orientieren gelernt hat. Das Buch ist gerade an jenen Stellen, wo die Auseinandersetzung mit den vermuteten Denkfaulheiten der neodarwinistischen Orthodoxie in eine Apologie von Goulds eigenem Werk umschlägt, eine besonders aufschlußreiche, weil unverstellt parteiliche Besichtigung unseres wissenschaftlichen Zeitalters.
"The Structure of Evolutionary Theory" zeugt bei aller Spitzfindigkeit und Detailmanie sehr grundsätzlich von den oft übersehenen Glücksangeboten ebendieses Zeitalters für Kompilatoren und Schöpfer altmodisch mühsamer Sammler-Lebenswerke. Daß am absehbaren Ende des Darwinschen Zeitalters ein Akademiker wie Gould, dessen Belesenheit, Beredtheit und Neigung zu muschelkammerhaft spiralförmigen Sätzen seine charakteristischen Eigenschaften sind, in der angelsächsischen Welt eine solche Berühmtheit werden konnte, sagt viel Gutes über eine Öffentlichkeit, der man viel zu häufig unheilbaren Stumpfsinn unterstellt.
Goulds schriftstellerische Strategie der Wahrheitsfindung via Erstellung langer Exzerpte aus den Werken der Großen seines Fachs nebst genüßlich-eleganter Kommentierung derselben hat ihn im Hauptwerk dazu verführt, sich kokett als "den arrogantesten aller Literaten" zu bezeichnen. Gleichzeitig jedoch ist er eine Art volkstümlicher Weltweiser, nämlich der in den Vereinigten Staaten bekannteste Naturwissenschaftler: Seine aus konzisen Kolumnen und blitzartig riesige Ideenfelder erhellenden kurzen Artikeln zusammengestellten Aufsatzbände wie "Bravo, Brontosaurus" oder "Der Dinosaurier im Heuhaufen" sind Bestseller; in einer Folge der Zeichentrickserie "Die Simpsons" durfte er gar neben Stephen Hawking als Retter der hochbegabten kleinen Lisa Simpson auftreten.
Was Gould zur Sache vorbringt, ist für einen Naturwissenschaftler ungewöhnlich stark abhängig von der Kontrastwirkung gegenüber dem, was andere geschrieben haben. Während die landläufige Vorstellung des Unterschieds zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften ihre präziseste Formulierung in der These des Philosophen Cornelius Castoriadis gefunden hat, Geisteswissenschaftler studierten Texte, Naturwissenschaftler aber Sachverhalte, zeigt Goulds Arbeit und deren öffentliche Aufnahme, daß Texte und Sachverhalte einander beim wissenschaftlichen Arbeiten gleich welcher Art nichts nehmen und ihre Abhängigkeiten zahlreicher und verwickelter sind, als selbst das ausuferndste wissenssoziologische Gemälde zeigen kann.
Wie im Roman "Darwinia" von Robert Charles Wilson aus dem Jahr 1998 Europa plötzlich verschwindet und einer albtraumhaften, von einem unerforschbar menschenfeindlichen Dschungel überwucherten Landschaft Platz macht, so zeigt Goulds akribische Lektüre von Darwins "Entstehung der Arten", die das Herzstück seines Hauptwerks bildet, daß man sich nach der Durchsetzung einer starken Theorie mit ausgeformter logischer Geographie fast keine sinnvollen, begreifbaren Alternativlandschaften mehr vorstellen kann, die von anderem Licht erleuchtet würden als dem einmal gefundenen. Und doch, sagt Gould, gibt es Alternativen. Die sind fast immer aus literarischen Quellen geborgen: Ob Goethes Morphologie und deren "strukturalistisches" Bild vom "Ur-Blatt", in dem die Baupläne aller Pflanzenblätter eingefaltet sind, Texte von Lamarck und Saint-Hilaire, Francis Bacons Warnung davor, den "Theater-Idolen" des Diskurses aufzusitzen, oder Ideen aus Nietzsches "Genealogie der Moral"- wo Gould grundsätzlich wird, ruft er die Literatur in den Zeugenstand.
Die rein argumentativen Passagen, die daneben Platz finden, suggerieren oft, Gould glaube wohl, die Evolutionisten des neunzehnten Jahrhunderts wie Alfred Russel Wallace, Charles Darwin und Ernst Haeckel seien seine Zeitgenossen. Jener Gelehrtentyp wurde damals geschichtsfähig, weil "das Lebendige", um dessen Woher und Wohin es ihm ging, dem Zugriff mathematisch-physikalischer Theoretisierung entzogen zu sein schien. Es war die Zeit, als das Reich "Bios" Freiwildgehege für Philosophen war und "die Biologie" sowohl den prokapitalistischen Sozialdarwinismus als auch Friedrich Engels' paradarwinistische Schrift über den "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" inspirieren konnte. Den Grund dafür beschreibt der indische Physiker Apoorva Patel: "Organismen bestehen weder aus völlig regulären, festkörperhaften noch aus restlos freibeweglich-gasförmigen Arrangements. Dadurch werden die üblichen Werkzeuge der Physik - Gleichgewichtsdynamiken, axiomatisches Schließen, periodische Strukturen und Störungstheorien - weitgehend nutzlos."
Nur deshalb konnte das schriftstellerische Modell des "Lebenserzählers" aufkommen, der die Historisierung von Sexualität und Tod leisten mußte, als die Geschichte gerade fortschrittsbedingt zu erkennen begann, daß es sie gibt. Der bedeutendste dieser Erzähler war Darwin, die wichtigste entsprechende Erzählung ist die von der natürlichen Auslese, von der Konkurrenz der einzelnen Organismen als deren Schauplatz, von ihrem Vermögen, das Neue zu schaffen, und von ihrer Reichweite bis zurück an die Schranke des Anorganischen.
An allen drei Teilen der Erzählung arbeitet Gould sich ab als der neben dem Engländer Richard Dawkins vielleicht letzte Erfüller jenes Lebenserzähler-Programms. Goulds Erzählung ist eine der Abweichungen: Nicht der Organismus, sondern die Art sei der aufschlußreichste Schauplatz der Auslese, die Entstehung von Arten aber, die "Speziation", geschehe nicht notwendig graduell, sondern oft auch abrupt, Anpassung sei nicht gleich Verbesserung, Zufall und Katastrophen spielten eine größere Rolle, als bei Darwin zugelassen wurde.
Wie falsch oder richtig das alles sein mag - literarisch betrachtet zieht hier ein Schriftsteller für den modernen Roman und gegen die neuen Teleologien zu Felde, wie sie eines Tages auch aus der Informatiknähe neuer Lebenswissenschaften wie der Genomik entstehen könnten. Goulds Gegner Dawkins, der Erfinder der Formel vom "egoistischen Gen", der noch unter die Organismenebene auf die des Genoms als wíchtigsten Ort der Auslese verfällt, ist womöglich der einsichtsvollere, auch bescheidenere Naturerzähler, der gerade auf den robustesten Darwinschen Ideen beharrt.
Denn er hat die mikrobiologische Lektion gründlicher gelernt, sich ihr williger ergeben als sein amerikanischer Widersacher und wird schon durch die unverwüstliche Schärfe seiner Polemik der Idee gerecht, ein Entwicklungsgang sei auch ohne "Fortschritt" im emphatischen Sinn immer noch etwas "nach vorn" gerichtetes. Gould bleibt demgegenüber zu Ornament, Digression und folgenloser Sehnsucht nach besseren, redseligeren Gelehrtenzeiten verurteilt. So muß er sich schließlich, wie die englischsprachigen Medien aus Anlaß des Erscheinens von "The Structure of Evolutionary Theory" berichten, sogar mit Mißverständnissen auseinandersetzen, die ihn gerade wegen der Vielstimmigkeit seiner Schreibweisen ereilen: Auf die "plötzliche Entstehung von Arten", eine Kernidee der von ihm und Eldredge formulierten Theorie des löchrigen Gleichgewichts, berufen sich inzwischen sehr zu Goulds Verdruß auch Anhänger der buchstäblich genommenen Schöpfungslehre. Das könnte Dawkins nie passieren. In der nun anbrechenden Ära der durch Computermodellierung erschlossenen Großdynamiken ist beinah jeder Dissens mit Darwin, den Gould in seinem Buch austrägt, eine vernachlässigbare Größe, ein Streit um Darwins Bart. So mag Dawkins denn eines Tages besser dastehen, weil er Darwin heute nicht verfeinern und aufheben, sondern seine Ideen den Nachgeborenen in mikrogenetischer Sprache erläutern will, bevor sie sich in Rechenanweisungen aufzulösen beginnen.
Der literarischen Schönheit von Goulds "Structure of Evolutionary Theory" tut das keinen Abbruch. Was die Literatur weiß, mag der Fortschritt ruhig vergessen; dieses Wissen ist bei ihr in Sicherheit. Alternde Wissenschaft wird zu Kunst nicht kraft ihrer Erkenntnisse, sondern da, wo sie kurz vor Torschluß ästhetisches Glück spendet und jemand bereitsteht, davon zu berichten.
DIETMAR DATH
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