Die Geschichte Marias, wie sie die Bibel nicht erzählt: Lange Jahre, nachdem Christus am Kreuz gestorben ist, will die Mutter Jesu von der Heiligkeit ihres Sohnes noch immer nichts wissen. Seinen Wundern gegenüber ist sie skeptisch und den Schmerz über seinen Verlust hat sie nie überwunden. Dann erzählt sie ihre eigene Version von der Passion Christi von ihrer ganz persönlichen Trauer, ihrer fehlenden Frömmigkeit und ihrem Eigensinn. Es ist die Geschichte einer Frau, die nicht verstehen will, weshalb ihr Sohn sich von ihr abwandte, und die auch nicht an den christlichen Gott glaubt. Durch ihre Augen eröffnet Colm Tóibín einen völlig neuen Blick auf das Christentum und erschafft ein ungeahnt menschliches Porträt der Ikone Maria.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungDer Schrecken ist ein giftiges Tier
Maria ist bei Colm Tóibín nicht die Mutter Gottes, sondern die Mutter eines Sohnes, der einen fürchterlichen Tod stirbt, eine Frau, die an Erlösung nicht glaubt.
Von Verena Lueken
Keine Frau, von der wir ein deutlicheres Bild haben als von Maria. Keine Frau, die häufiger dargestellt wurde als sie, die Mutter Gottes, wie die Christen sagen, in Verkündigungsszenen, mit dem Jesuskind, bei Grababnahmen und in der Pietà. Sie ist die Ikone eines Glaubenssystems, aber wir wissen nahezu nichts von ihr.
Wer war sie? Das ist die Frage, die Colm Tóibín in "Marias Testament" umtreibt. Nicht, weil er Gott eine Mutter mit deutlicheren Konturen geben möchte, sondern weil er wissen will: Wo ist die Mutter in der Geschichte des Sohnes?
Auf einer Strecke von nur 127 Seiten erschafft Tóibín eine Frau, von der wir trotz all der Darstellungen keine Vorstellung hatten. Wer dieses Buch gelesen hat, wird auf ihre Bildnisse mit anderem Blick schauen. Hier ist sie eine alte Frau, die den Tod erwartet, nicht ungeduldig, aber ohne Furcht und am Ende mit der Sehnsucht, "in der trockenen Erde zu schlafen, mit geschlossenen Augen friedvoll zu Staub zu zerfallen". Eine ungeheure Müdigkeit liegt in diesem Satz.
Maria lebt in Ephesus in einem Haus, in dem sie von zwei Männern bewacht und ausgefragt wird, ehemaligen Jüngern zweifellos, möglicherweise Matthäus und Johannes, aber das spielt keine Rolle. Die beiden stellen Fragen, um das Leben des Sohnes und vor allem sein Sterben in eine Form zu bringen, die unmittelbar ist und mythenfähig. Maria hat sie vollkommen durchschaut. Und sie erzählt ihnen nicht, was sie wissen wollen. Weil es ganz anders war.
"Du warst da", sagen die beiden. Aber Maria war nicht da, als ihr Sohn starb. Nicht in Tóibíns Version der Geschichte. Da floh Maria, bevor ihr Sohn tot war, um sich zu retten. Sie spürte in ihrem Kummer, ihrem Entsetzen genau, dass es seine Schmerzen waren, die er am Kreuz herausschrie, und dass sie die ihm nicht nehmen konnte. Sie ertrug andere Schmerzen. Und sie ging, solange dafür noch Zeit war. Sie wundert sich, wie beherrscht sie war. Sie nahm ihn nicht vom Kreuz, und sie wusch ihn nicht. Auch bei der Auferstehung war sie nicht dabei. Von ihr hat sie später geträumt, wie die andere Maria auch, die mit ihr geflohen war.
In Tóibíns Sätzen spürt man die Landschaft, die Hitze, den Staub und auch die Zeit, die zwischen uns und der Welt liegt, in der diese Frau lebte, mehr als zweitausend Jahre von uns entfernt. Es sind einfache Wörter, einfache Sätze, in denen Tóibín erzählt, und man ist versucht, sie biblisch zu nennen, wenn das nicht fromm hieße, sondern: seit langem vorbei.
Wir spüren die Zeit in den Metaphern, die er wählt, darin, wie er die Angst beschreibt, mit der Maria sich auf den Weg zu ihrem Sohn macht, der, wie sie weiß, gekreuzigt werden wird, eine Art zu sterben, die sie einmal beobachtet hatte, als die Römer einen der Ihren ans Kreuz hängten. Sie hatte gehofft zu sterben, ehe sie noch einmal eine derart "düstere Grausamkeit" erleben musste. Es gibt Augenblicke, in denen Maria entfällt, was bevorsteht, aber dann bemerkt sie, "dass das, worauf ich mich zubewegte, nur darauf wartetete, mich anzuspringen, so wie ein erschrecktes Tier einen anspringt.
Genauso kam es, in plötzlichen Sätzen und Sprüngen. Und dann wieder langsamer, heimtückischer. Es drang in mein Bewusstsein, schlich sich in mich ein, so wie ein giftiges Tier auf einen zukriecht." Giftige Tiere, erschreckte Viecher - das könnte in der Wüste sein, in dem Marktgewimmel in Jerusalem, in das Menschen ihre Tiere mitbringen, sie mit anderen Tieren füttern, schlachten, verspeisen, so wie der Mann, der einen Raubvogel in einem Käfig bei sich hat, den er aus einem Sack voller lebendiger Kaninchen füttert.
Dies ist ein unglaubliches Buch. Es erzählt eine Geschichte, die wir noch nie gehört haben, obwohl die Markierungspunkte uns sämtlich bekannt sind. Die Gier der Menschen nach Blut, als Pilatus einen der Verurteilten begnadigt, Barabas. Die Heimtücke der Verräter, die am Rand stehen und Maria beobachten. Die Gleichgültigen, die Würfel spielen - es ist, als beschriebe Tóibín auf besonders luzide Weise (und ebenso übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini) alle Details auf einem besonders grausigen Kreuzigungsbild etwa von Lucas Cranach, und zwar in Bewegung gesetzt, in einer ungeheuren Dynamik, in der das Keuchen der Menge, das Geschiebe, das Ansteckende der Blutgeilheit, all dieses spürbar wird im atemlosen Weiterpreschen der Wörter und Sätze, so weit, bis die aufgepeitschte Menge selbst Pilatus in Schrecken versetzt.
Maria erzählt diese Geschichte, als ihr Sohn, dessen Namen sie nie ausspricht längst tot ist. Sie verlangt noch etwas von der Welt. "Nicht viel, aber mehr." Die Zeit zurückzudrehen: "Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignete." So einfach ist das. Die Welt unerlöst zu lassen. Es war die Sache nicht wert. Wer ist die Welt, dass sie durch den Tod des Sohns erlöst werden will?
Erlösung - dieses Wort, um das die ganze Geschichte, wie sie sonst immer erzählt wird, kreist und an das Maria nicht glaubt, fällt zum ersten Mal auf Seite 82. Maria ist keine Gläubige, keine Anhängerin der Lehren ihres Sohnes, von dem sie wünschte, er hätte sich nicht mit dieser "Bande" von Männern umgeben, die an seinen Lippen hingen und ihrerseits mit hochtrabenden Sprüchen nicht sparten, einer "Horde", die wie in einem Karnevalszug mit ihm durchs Land reiste. Sie erlebt die Macht, die ihr Sohn auf die Menschen hat, auch wenn sie diese selbst nicht spürt, weil in ihr ein anderes Gefühl stärker ist.
Denn sie stellt fest, dass sie diesen Sohn, der sie bei der Hochzeit in Kana nicht beachtet, der sie wegstößt, als sie ihn vor seinen Häschern warnen, mit ihm fliehen will, dass sie diesen Sohn mehr liebt als zuvor - "einen Mann voller Macht, einer Macht, die scheinbar keinerlei Erinnerung an frühere Jahre zuließ, da er die Milch meiner Brust brauchte, meine Hand, die ihm beim Laufenlernen half, das Gleichgewicht zu bewahren, oder meine Stimme, die ihn in den Schlaf wiegte. Und das Seltsame an der Macht, die er ausstrahlte, war die Tatsache, dass durch sie meine Liebe zu ihm und mein Wunsch, ihn zu beschützen, tiefer wurde als zu der Zeit, als er noch keine Macht besessen hatte." Tóibín erzählt von der Tragödie, dass sie ihn nicht beschützen konnte.
Colm Tóibín: "Marias Testament". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2014. 127 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maria ist bei Colm Tóibín nicht die Mutter Gottes, sondern die Mutter eines Sohnes, der einen fürchterlichen Tod stirbt, eine Frau, die an Erlösung nicht glaubt.
Von Verena Lueken
Keine Frau, von der wir ein deutlicheres Bild haben als von Maria. Keine Frau, die häufiger dargestellt wurde als sie, die Mutter Gottes, wie die Christen sagen, in Verkündigungsszenen, mit dem Jesuskind, bei Grababnahmen und in der Pietà. Sie ist die Ikone eines Glaubenssystems, aber wir wissen nahezu nichts von ihr.
Wer war sie? Das ist die Frage, die Colm Tóibín in "Marias Testament" umtreibt. Nicht, weil er Gott eine Mutter mit deutlicheren Konturen geben möchte, sondern weil er wissen will: Wo ist die Mutter in der Geschichte des Sohnes?
Auf einer Strecke von nur 127 Seiten erschafft Tóibín eine Frau, von der wir trotz all der Darstellungen keine Vorstellung hatten. Wer dieses Buch gelesen hat, wird auf ihre Bildnisse mit anderem Blick schauen. Hier ist sie eine alte Frau, die den Tod erwartet, nicht ungeduldig, aber ohne Furcht und am Ende mit der Sehnsucht, "in der trockenen Erde zu schlafen, mit geschlossenen Augen friedvoll zu Staub zu zerfallen". Eine ungeheure Müdigkeit liegt in diesem Satz.
Maria lebt in Ephesus in einem Haus, in dem sie von zwei Männern bewacht und ausgefragt wird, ehemaligen Jüngern zweifellos, möglicherweise Matthäus und Johannes, aber das spielt keine Rolle. Die beiden stellen Fragen, um das Leben des Sohnes und vor allem sein Sterben in eine Form zu bringen, die unmittelbar ist und mythenfähig. Maria hat sie vollkommen durchschaut. Und sie erzählt ihnen nicht, was sie wissen wollen. Weil es ganz anders war.
"Du warst da", sagen die beiden. Aber Maria war nicht da, als ihr Sohn starb. Nicht in Tóibíns Version der Geschichte. Da floh Maria, bevor ihr Sohn tot war, um sich zu retten. Sie spürte in ihrem Kummer, ihrem Entsetzen genau, dass es seine Schmerzen waren, die er am Kreuz herausschrie, und dass sie die ihm nicht nehmen konnte. Sie ertrug andere Schmerzen. Und sie ging, solange dafür noch Zeit war. Sie wundert sich, wie beherrscht sie war. Sie nahm ihn nicht vom Kreuz, und sie wusch ihn nicht. Auch bei der Auferstehung war sie nicht dabei. Von ihr hat sie später geträumt, wie die andere Maria auch, die mit ihr geflohen war.
In Tóibíns Sätzen spürt man die Landschaft, die Hitze, den Staub und auch die Zeit, die zwischen uns und der Welt liegt, in der diese Frau lebte, mehr als zweitausend Jahre von uns entfernt. Es sind einfache Wörter, einfache Sätze, in denen Tóibín erzählt, und man ist versucht, sie biblisch zu nennen, wenn das nicht fromm hieße, sondern: seit langem vorbei.
Wir spüren die Zeit in den Metaphern, die er wählt, darin, wie er die Angst beschreibt, mit der Maria sich auf den Weg zu ihrem Sohn macht, der, wie sie weiß, gekreuzigt werden wird, eine Art zu sterben, die sie einmal beobachtet hatte, als die Römer einen der Ihren ans Kreuz hängten. Sie hatte gehofft zu sterben, ehe sie noch einmal eine derart "düstere Grausamkeit" erleben musste. Es gibt Augenblicke, in denen Maria entfällt, was bevorsteht, aber dann bemerkt sie, "dass das, worauf ich mich zubewegte, nur darauf wartetete, mich anzuspringen, so wie ein erschrecktes Tier einen anspringt.
Genauso kam es, in plötzlichen Sätzen und Sprüngen. Und dann wieder langsamer, heimtückischer. Es drang in mein Bewusstsein, schlich sich in mich ein, so wie ein giftiges Tier auf einen zukriecht." Giftige Tiere, erschreckte Viecher - das könnte in der Wüste sein, in dem Marktgewimmel in Jerusalem, in das Menschen ihre Tiere mitbringen, sie mit anderen Tieren füttern, schlachten, verspeisen, so wie der Mann, der einen Raubvogel in einem Käfig bei sich hat, den er aus einem Sack voller lebendiger Kaninchen füttert.
Dies ist ein unglaubliches Buch. Es erzählt eine Geschichte, die wir noch nie gehört haben, obwohl die Markierungspunkte uns sämtlich bekannt sind. Die Gier der Menschen nach Blut, als Pilatus einen der Verurteilten begnadigt, Barabas. Die Heimtücke der Verräter, die am Rand stehen und Maria beobachten. Die Gleichgültigen, die Würfel spielen - es ist, als beschriebe Tóibín auf besonders luzide Weise (und ebenso übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini) alle Details auf einem besonders grausigen Kreuzigungsbild etwa von Lucas Cranach, und zwar in Bewegung gesetzt, in einer ungeheuren Dynamik, in der das Keuchen der Menge, das Geschiebe, das Ansteckende der Blutgeilheit, all dieses spürbar wird im atemlosen Weiterpreschen der Wörter und Sätze, so weit, bis die aufgepeitschte Menge selbst Pilatus in Schrecken versetzt.
Maria erzählt diese Geschichte, als ihr Sohn, dessen Namen sie nie ausspricht längst tot ist. Sie verlangt noch etwas von der Welt. "Nicht viel, aber mehr." Die Zeit zurückzudrehen: "Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignete." So einfach ist das. Die Welt unerlöst zu lassen. Es war die Sache nicht wert. Wer ist die Welt, dass sie durch den Tod des Sohns erlöst werden will?
Erlösung - dieses Wort, um das die ganze Geschichte, wie sie sonst immer erzählt wird, kreist und an das Maria nicht glaubt, fällt zum ersten Mal auf Seite 82. Maria ist keine Gläubige, keine Anhängerin der Lehren ihres Sohnes, von dem sie wünschte, er hätte sich nicht mit dieser "Bande" von Männern umgeben, die an seinen Lippen hingen und ihrerseits mit hochtrabenden Sprüchen nicht sparten, einer "Horde", die wie in einem Karnevalszug mit ihm durchs Land reiste. Sie erlebt die Macht, die ihr Sohn auf die Menschen hat, auch wenn sie diese selbst nicht spürt, weil in ihr ein anderes Gefühl stärker ist.
Denn sie stellt fest, dass sie diesen Sohn, der sie bei der Hochzeit in Kana nicht beachtet, der sie wegstößt, als sie ihn vor seinen Häschern warnen, mit ihm fliehen will, dass sie diesen Sohn mehr liebt als zuvor - "einen Mann voller Macht, einer Macht, die scheinbar keinerlei Erinnerung an frühere Jahre zuließ, da er die Milch meiner Brust brauchte, meine Hand, die ihm beim Laufenlernen half, das Gleichgewicht zu bewahren, oder meine Stimme, die ihn in den Schlaf wiegte. Und das Seltsame an der Macht, die er ausstrahlte, war die Tatsache, dass durch sie meine Liebe zu ihm und mein Wunsch, ihn zu beschützen, tiefer wurde als zu der Zeit, als er noch keine Macht besessen hatte." Tóibín erzählt von der Tragödie, dass sie ihn nicht beschützen konnte.
Colm Tóibín: "Marias Testament". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2014. 127 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungDie Mutter aller Mütter
Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“ schildert das Leben Jesu als Leidensgeschichte
ohne Erlösung. Das neue Buch des irischen Erzählers handelt von der Häresie des Humanen
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als ihr Sohn am Kreuz gestorben ist, lässt Colm Tóibín dessen Mutter Maria sich mit folgenden Worten erklären: „,Ich war dort‘, sagte ich. ,Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.‘“ Maria stand ihm nicht bei in seiner letzten Stunde, sie überließ es anderen, seinen Leichnam zu waschen und zu bestatten. Bedroht von Verschleppung und Tod, ergriff sie die Flucht, um sich selbst zu retten, und trotz des Schmerzes, den sie empfand, kommt sie zu der Einsicht, „dass es sein Schmerz war und nicht meiner“, auch wenn diese Erkenntnis keine Linderung bringt.
Im Gegenteil: Zum Schlimmsten, was einer Mutter passieren kann, den Tod des eigenen Kindes zu erleben, schleicht sich noch ein anderes Gefühl, das des Verrats, der vereitelten Mutterliebe und des kränkenden Zweifels, ob dieses Sterben als unwiderrufliche Zerstörung der Mutter-Kind-Symbiose, als tödliche Abnabelung, notwendig war. Denn, so sagt sie: „Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann und die Toten zurückgeholt werden können, dann will ich, dass sich die Zeit zurückdreht. Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignet, oder bevor er wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab.“
Der 1955 geborene Colm Tóibín, einer der wandlungsfähigsten und formbewusstesten Schriftsteller der Gegenwart, hat vor einigen Jahren bereits einen ganzen Band mit Geschichten über Mütter und Söhne geschrieben. Jetzt aber hat er die Mutter-Sohn-Geschichte schlechthin neu erzählt, sozusagen die Mutter aller Mutter-Sohn-Geschichten, die Geschichte von Maria und Jesus. „Marias Testament“ heißt sein schlanker Roman, der im vergangenen Jahr für den Booker Prize nominiert war.
Bei Tóibín ist es Maria, die von ihrer Sicht auf die Dinge spricht, und auch diese Geschichte ist eine Passionsgeschichte, aus der hervorgeht, dass das Leiden Jesu zugleich das seiner Mutter war. Denn wie soll eine Mutter damit umgehen, wenn das eigene Kind ihr mitteilt, es sei Gottes Sohn, wenn dieses Kind also seine Herkunft verleugnet? Es ist die Geschichte einer Entfremdung, die Colm Tóibín erzählt – als Ire bringt er nicht nur die nötige Reizbarkeit in Fragen der Religion mit, sondern auch die Erfahrung eines christlichen Bürgerkrieges. Seine Maria ist eine einfache Frau und selbst keine Urchristin, sie huldigt vielmehr den verordneten römischen Göttern, und am sagenhaften Ruhm ihres Sohnes hat sie nur insofern teil, als auch ihre Sicherheit gefährdet ist. Sie ist eine von ihrem Wunderkind verstoßene Helikopter-Mama im Blindflug, die in Verkehrung der Rollen nun selbst zum Opfer von freilich sektiererischer Überprotektion wird.
Maria muss abtauchen, in Verstecken leben, versorgt und bewacht von rätselhaften Männern, heimatlos und entrechtet, eine doppelt Ausgestoßene. Obwohl keine Anhängerin des Glaubens, den ihr Sohn lehrt, aber eben doch seine Mutter, repräsentiert sie eine verfolgte Minderheit, die genau aus einer Person besteht: ihr selbst. Bei der Hochzeit zu Kana, als sie ihn warnen will vor den Spitzeln der Geheimpolizei, weist er sie schroff zurück mit den Worten „Weib, was geht’s dich an, was ich tue“, um danach in „seltsamen, anmaßenden Wendungen von sich und seiner Aufgabe in der Welt“ zu sprechen.
Was Colm Tóbín mit seiner biblischen Kontrafaktur im Sinn hat, ist alles andere als blasphemische Travestie oder ketzerische Ikonenmalerei, es geht ihm vielmehr um eine humane Häresie, darum, der orthodoxen Überlieferung der Evangelisten eine unterdrückte Gegenerzählung an die Seite zu stellen. Die Mittel der Übermalung dienen dazu, die vertraute Wahrheit befragbar werden zu lassen. Dass man bei der Lektüre trotzdem etwas hadert mit dem Roman, hat nichts mit inhaltlichen Einwänden zu tun, sondern mit literarischen. Man merkt dieser Rollenprosa noch an, dass sie aus einem Theaterstück hervorgegangen ist, das mit großem Erfolg am Broadway lief – die Atemwölkchen der Bühnenrede sind nicht vollständig verdunstet aus dem Text. Vieles bleibt da bloße Rhetorik, anstatt szenisch suggestiv gemacht zu werden, vorgetragen in einem archaisierenden hohen Ton. Was Tóibín indes hervorragend gelingt, ist, eine Atmosphäre latenter Bedrohung zu erzeugen, die frühen Christen als illegales Netzwerk einer Untergrundorganisation verstehbar zu machen. Da denkt man eher an IRA als an INRI.
Colm Tóibín gehört nicht zu den Autoren, die ihren Büchern die immergleiche Strumpfmaske eines Individualstils überstreifen. Er passt vielmehr seine Mittel dem jeweiligen Stoff an, betreibt literarische Mimikry. Und das ist würdig und recht. Allerdings hat er einen gewissen Hang zur Form der Parabel, der sich auch in „Marias Testament“ bemerkbar macht. Allzu abstrakt gerät dann sein Erzählen, und die Ästhetik der Bilderaustreibung schlägt um in eine höhere Form von dekorativer Redundanz, eine negative Opulenz. Auch Reduktionismus kann eine Rüsche sein. Um diesen Mangel auszugleichen, fehlt es „Marias Testament“ an der intellektuellen Schärfe und sprachlichen Brillanz etwa eines J.M. Coetzee. Colm Tóibín ist ein großartiger Autor, der es versteht, in die verschiedensten Sprachgewänder zu schlüpfen. Das härene Hemd der Gleichnisrede jedoch – es kleidet ihn nicht am vorteilhaftesten.
Maria gehört zu einer verfolgten
Minderheit, die aus einer einzigen
Person besteht: ihr selbst
„Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohne Tod ereignet,
oder bevor er von zu Hause wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab.“ Foto: Getty Images
Colm Tóibín: Marias Testament. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2014.
128 Seiten, 14,90 Euro, E-Book 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“ schildert das Leben Jesu als Leidensgeschichte
ohne Erlösung. Das neue Buch des irischen Erzählers handelt von der Häresie des Humanen
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als ihr Sohn am Kreuz gestorben ist, lässt Colm Tóibín dessen Mutter Maria sich mit folgenden Worten erklären: „,Ich war dort‘, sagte ich. ,Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.‘“ Maria stand ihm nicht bei in seiner letzten Stunde, sie überließ es anderen, seinen Leichnam zu waschen und zu bestatten. Bedroht von Verschleppung und Tod, ergriff sie die Flucht, um sich selbst zu retten, und trotz des Schmerzes, den sie empfand, kommt sie zu der Einsicht, „dass es sein Schmerz war und nicht meiner“, auch wenn diese Erkenntnis keine Linderung bringt.
Im Gegenteil: Zum Schlimmsten, was einer Mutter passieren kann, den Tod des eigenen Kindes zu erleben, schleicht sich noch ein anderes Gefühl, das des Verrats, der vereitelten Mutterliebe und des kränkenden Zweifels, ob dieses Sterben als unwiderrufliche Zerstörung der Mutter-Kind-Symbiose, als tödliche Abnabelung, notwendig war. Denn, so sagt sie: „Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann und die Toten zurückgeholt werden können, dann will ich, dass sich die Zeit zurückdreht. Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignet, oder bevor er wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab.“
Der 1955 geborene Colm Tóibín, einer der wandlungsfähigsten und formbewusstesten Schriftsteller der Gegenwart, hat vor einigen Jahren bereits einen ganzen Band mit Geschichten über Mütter und Söhne geschrieben. Jetzt aber hat er die Mutter-Sohn-Geschichte schlechthin neu erzählt, sozusagen die Mutter aller Mutter-Sohn-Geschichten, die Geschichte von Maria und Jesus. „Marias Testament“ heißt sein schlanker Roman, der im vergangenen Jahr für den Booker Prize nominiert war.
Bei Tóibín ist es Maria, die von ihrer Sicht auf die Dinge spricht, und auch diese Geschichte ist eine Passionsgeschichte, aus der hervorgeht, dass das Leiden Jesu zugleich das seiner Mutter war. Denn wie soll eine Mutter damit umgehen, wenn das eigene Kind ihr mitteilt, es sei Gottes Sohn, wenn dieses Kind also seine Herkunft verleugnet? Es ist die Geschichte einer Entfremdung, die Colm Tóibín erzählt – als Ire bringt er nicht nur die nötige Reizbarkeit in Fragen der Religion mit, sondern auch die Erfahrung eines christlichen Bürgerkrieges. Seine Maria ist eine einfache Frau und selbst keine Urchristin, sie huldigt vielmehr den verordneten römischen Göttern, und am sagenhaften Ruhm ihres Sohnes hat sie nur insofern teil, als auch ihre Sicherheit gefährdet ist. Sie ist eine von ihrem Wunderkind verstoßene Helikopter-Mama im Blindflug, die in Verkehrung der Rollen nun selbst zum Opfer von freilich sektiererischer Überprotektion wird.
Maria muss abtauchen, in Verstecken leben, versorgt und bewacht von rätselhaften Männern, heimatlos und entrechtet, eine doppelt Ausgestoßene. Obwohl keine Anhängerin des Glaubens, den ihr Sohn lehrt, aber eben doch seine Mutter, repräsentiert sie eine verfolgte Minderheit, die genau aus einer Person besteht: ihr selbst. Bei der Hochzeit zu Kana, als sie ihn warnen will vor den Spitzeln der Geheimpolizei, weist er sie schroff zurück mit den Worten „Weib, was geht’s dich an, was ich tue“, um danach in „seltsamen, anmaßenden Wendungen von sich und seiner Aufgabe in der Welt“ zu sprechen.
Was Colm Tóbín mit seiner biblischen Kontrafaktur im Sinn hat, ist alles andere als blasphemische Travestie oder ketzerische Ikonenmalerei, es geht ihm vielmehr um eine humane Häresie, darum, der orthodoxen Überlieferung der Evangelisten eine unterdrückte Gegenerzählung an die Seite zu stellen. Die Mittel der Übermalung dienen dazu, die vertraute Wahrheit befragbar werden zu lassen. Dass man bei der Lektüre trotzdem etwas hadert mit dem Roman, hat nichts mit inhaltlichen Einwänden zu tun, sondern mit literarischen. Man merkt dieser Rollenprosa noch an, dass sie aus einem Theaterstück hervorgegangen ist, das mit großem Erfolg am Broadway lief – die Atemwölkchen der Bühnenrede sind nicht vollständig verdunstet aus dem Text. Vieles bleibt da bloße Rhetorik, anstatt szenisch suggestiv gemacht zu werden, vorgetragen in einem archaisierenden hohen Ton. Was Tóibín indes hervorragend gelingt, ist, eine Atmosphäre latenter Bedrohung zu erzeugen, die frühen Christen als illegales Netzwerk einer Untergrundorganisation verstehbar zu machen. Da denkt man eher an IRA als an INRI.
Colm Tóibín gehört nicht zu den Autoren, die ihren Büchern die immergleiche Strumpfmaske eines Individualstils überstreifen. Er passt vielmehr seine Mittel dem jeweiligen Stoff an, betreibt literarische Mimikry. Und das ist würdig und recht. Allerdings hat er einen gewissen Hang zur Form der Parabel, der sich auch in „Marias Testament“ bemerkbar macht. Allzu abstrakt gerät dann sein Erzählen, und die Ästhetik der Bilderaustreibung schlägt um in eine höhere Form von dekorativer Redundanz, eine negative Opulenz. Auch Reduktionismus kann eine Rüsche sein. Um diesen Mangel auszugleichen, fehlt es „Marias Testament“ an der intellektuellen Schärfe und sprachlichen Brillanz etwa eines J.M. Coetzee. Colm Tóibín ist ein großartiger Autor, der es versteht, in die verschiedensten Sprachgewänder zu schlüpfen. Das härene Hemd der Gleichnisrede jedoch – es kleidet ihn nicht am vorteilhaftesten.
Maria gehört zu einer verfolgten
Minderheit, die aus einer einzigen
Person besteht: ihr selbst
„Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohne Tod ereignet,
oder bevor er von zu Hause wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab.“ Foto: Getty Images
Colm Tóibín: Marias Testament. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2014.
128 Seiten, 14,90 Euro, E-Book 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Beguiling and deeply intelligent...In a single passage - and in a rendition, furthermore, of one of the most famous passages of western literature - Tóibín shows how the telling and the details are all-important. Robert Collins Sunday Times