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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.1999

Theater der Grausamkeit
Die Männer neben dem Mann am Kreuz haben es sich nicht bequem gemacht: Mitchell Merback betrachtet die beiden Schächer

Die Kreuzigung Jesu war das am häufigsten dargestellte Thema in der mittelalterlichen Kunst. Doch in seinem faszinierenden, umsichtig argumentierenden und reich bebilderten Buch untersucht der Kunsthistoriker Mitchell Merback weniger die Darstellung Christi als vielmehr das Motiv der beiden mit ihm gekreuzigten Diebe. Er will das Verständnis der Todesstrafe sowie der öffentlichen Zurschaustellung von Schmerz und Leiden besser verstehen.

Merback verfolgt die Entwicklung des Motivs der beiden Schächer von der kurzen Erwähnung in den Evangelien über die patristischen Texte bis ins sechste Jahrhundert, als beide endlich Namen, Lebensläufe und symbolische Bedeutung erhalten hatten. Dysmas war der "gute Schächer", ein populärer Outlaw, der zur Rechten Christi (dem Ehrenplatz) gekreuzigt wurde; er erkannte die Göttlichkeit Christi an, bereute seine Verbrechen und erhielt das Versprechen seiner Erlösung im Paradies. Gestas war der "böse Schächer", ein Psychopath, der zur Linken Christi gekreuzigt wurde; er verspottete und verhöhnte Jesus und starb ohne Reue.

Wenn Maler, Bildhauer und Skulpturenschnitzer die Kreuzigung darstellten, unterschieden sie die beiden Diebe stets durch bestimmte Darstellungsmittel: Bei der Analyse seines breit angelegten Bildkorpus geht Merback diesen Differenzen im Einzelnen nach. Form und Konstruktion der Kreuze waren verschieden: Das Kruzifix Christi war ein sorgfältig bearbeitetes und zusammengesetztes Holzkreuz; die Diebe hingegen wurden an grob behauenen Baumstümpfen gekreuzigt. Christus wurde aufrecht ans Kreuz genagelt; die Diebe waren nur festgebunden, die Arme um das Kreuz geschlungen und die Körper in grotesken Verrenkungen verbogen.

In allen diesen Details erkennt Merback symbolische Bedeutungen. Er weist die Idee zurück, dass die mittelalterlichen Menschen besonders roh und Gefühlen der Abscheu oder des Entsetzens nicht zugänglich waren. Hinter der Praxis, Einzelnen in der Öffentlichkeit Schmerzen zuzufügen, und der Darstellung des Leidens in der Kunst sieht er religiöse Absicht am Werk. Die Betrachter sollten durch das Leiden auf die Notwendigkeit von Reue und Erlösung hingewiesen werden. Die mittelalterlichen Exekutionsmethoden des Hängens, Vierteilens und Räderns und ihr symbolisches Pendant in der Kunst, die Kreuzigung, waren nicht bloß als drastische Warnungen oder Lektionen für das Volk gedacht, sondern gaben den Zuschauern auch die Gelegenheit, sich mit den Erfahrungen und Gefühlen der Leidenden zu identifizieren. In einer Epoche, die so viele Handbücher der "ars moriendi" hervorbrachte, wurden der "gute Schächer" und der "böse Schächer" zu Paradebeispielen dafür, wie ein Sünder entweder ein gutes oder ein schlechtes Ende finden konnte.

Der historische Kontext, in dem öffentliche Exekutionen wahrgenommen und in dem Kreuzigungsbilder und -skulpturen interpretiert wurden, ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis beider Phänomene und wird von Merback gründlich und überzeugend untersucht. Seit dem Laterankonzil von 1215 war die jährliche Beichte obligatorisch für alle Gläubigen. Die Buße wurde zu einem Hauptthema der Volkspredigt, zumal bei den Franziskanern. Viele Minoritenbrüder waren fesselnde Redner, die die Emotionen ihrer Zuhörer aufzupeitschen und auf die Themen von Reue und Buße hinzulenken wussten.

Ein weiterer Impuls zur Beschäftigung mit der Buße ging auch von jenen riesigen Nachbildungen aus, in denen die Passion oder Kreuzigung Christi als "tableau vivant" und mit lebensgroßen Figuren dargestellt wurde. In Varallo (Piemont) erstreckte sich ein solches Kunstwerk über 45 Kapellen und umfasste 4000 gemalte Figuren. Merback sieht diese Ensembles als mittelalterliche Vorläufer der modernen Themenparks, nur dass sie zum Ziel von Wallfahrten wurden. Predigten vor jeder Szene hatten die Aufgabe, den Besuchern die symbolische Bedeutung des Gesehenen zu vermitteln. Unablässig wurden die Gläubigen ermahnt, sich in erster Linie um ihr Seelenheil und ihre Erlösung zu bemühen. Öffentliche Exekutionen, die bisweilen die Beichte und Buße des Übeltäters auf dem Schafott einschlossen, hatten eine ähnliche Funktion.

Die protestantische Reformation führte zu schockartigen Veränderungen, die der mittelalterlichen Denkweise den Garaus machten. Wo sich Theologie, Sozialpolitik und Ikonoklasmus der Lutheraner behaupteten, wurde die Religion ihres magischen Elements entkleidet. Das kontemplative Mitleiden vor Schmerzensbildern wurde durch eine stärker allegorische Interpretation von Sünde und Bestrafung ersetzt. Öffentliche Exekutionen, so zeigt Merback, wurden zu Spektakeln, die den Betrachter nicht länger zum introspektiven Blick auf ihre eigenen Sünden, sondern nach außen lenken sollten. Die Ausübung einer staatlich-offiziellen Rachejustiz musste bei den Zuschauern nunmehr eher Gefühle des Sadismus oder der Schadenfreude wecken, die auf einem Sündenbock-Mechanismus basierten.

Freilich scheint es unwahrscheinlich, dass solche Gefühle nicht schon vor der Reformation existierten und auch neben einer stärker religiösen Mentalität bestehen konnten. Immerhin besteht jede Menschenmasse aus Dutzenden von Individuen mit je eigenen Motivationen. Doch zweifellos ist es Merback bei seiner gelehrten Analyse eines breiten Spektrums von Bildern überzeugend gelungen, jene religiöse Dimension des Spektakels der Todesstrafe herauszuarbeiten, die unser moderner Blick leicht übersieht.

Sein Buch ist ein bewundernswertes Beispiel einer "neuen Kunstgeschichte", die sich nicht mit rein werkimmanenten, am Detail orientierten Bildanalysen begnügt, sondern Kunstwerke in ihren sozialen und historischen Zusammenhängen erforscht, also Bildinhalte und Bildkontexte interpretativ zu vermitteln sucht. Und in der Tat gelingt es ihm, "ein Kontinuum von religiöser Frömmigkeit, öffentlichem Spektakel, Strafjustiz und Kunst" herauszuarbeiten. Das ist Kunstgeschichte, wie man sie gerne liest: breit angelegt, zugänglich, lehrreich und spannend.

JEFFREY RICHARDS.

Aus dem Englischen von Matthias Grässlin.

Mitchell B. Merback: "The Thief, the Cross and the Wheel". Pain and the Spectacle of Punishment in Medieval and Renaissance Europe. Reaktion Books, London 1999. 352 S., 119 Farb- u. S/W-Abb., geb., 25,- brit. Pfund.

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