The year is 1799, the place Dejima, the Japanese Empire's single port and sole window to the world. It is also the farthest-flung outpost of the powerful Dutch East Indies Company. To this place comes Jacob de Zoet. The young clerk must spend five years in the East to earn enough money to deserve the hand of his wealthy fiancée. But Jacob's intentions are shifted when he meets Orito Aibagawa, the beautiful and scarred daughter of a Samurai, midwife to the island's powerful magistrate. Magnificently written, THE THOUSAND AUTUMNS OF JACOB DE ZOET is a big and unforgettable book.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.201235. Dieser Roman kann teuer werden
Wenn man in englische Buchgeschäfte geht und sich die Klappentexte der feilgebotenen Ware durchliest, wird man schnell ganz aufgeregt und auch verwirrt. Es ist alles so verlockeeeendddd! "Mesmerizing" steht da, oder "A dazzling work of fiction", oder "A true page turner", oder "The best book I have read in years". Gezeichnet: "New York Review of Books", "International Herald Tribune". Es wird im Akkord phantastische Literatur produziert in der englischsprachigen Welt, denkt man. Und stellt dann enttäuscht fest, dass dort eher einfach nur gelobt wird wie Sau.
Auf der Rückseite der englischen Ausgabe von "Jacob de Zoet" stand nun im Namen der "New York Times", dass der Autor, David Mitchell, "eindeutig ein Genie" sei. Wow!!! Bei so viel Lob ist erst recht Vorsicht geboten. Zumal Mitchell wegen der Verfilmung seines Buchs "Cloud Atlas" ohnehin gerade auf dem Gipfel der Hysterie steht. In den Filmrezensionen des McDonald's-Magazins oder ähnlichen Blättern unseres Vertrauens steht zum Beispiel, dass "Cloud Atlas" so gut wie unmöglich zu verfilmen gewesen sei, weil, total Avantgarde, wie da verschachtelt wird in der Chronologie, pyramidale Erzählstruktur oder so. Dann aber, wenn man trotz aller Vorsicht mit "Jacob de Zoet" anfängt und plötzlich auch fertig ist, fragt man sich doch: Was ist eigentlich los mit diesen Engländern und Amerikanern, dass die so gut sind darin, Geschichten zu erzählen? Dass die irgendwie noch so an die Geschichte an sich glauben, statt nur elenden Metascheiß zu produzieren? Und was ist los mit Mitchell, dass er das so extra gut kann, dass man selbst hingerissen ist zu sagen: "mesmerizing, a true page-turner"? Ist der vielleicht wirklich ein Genie?
In "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" gibt es eine Passage, in der zwei japanische Mönche, die einem unsagbar bösen Shinto-Kult des frühen 19. Jahrhunderts angehören und nachts auf den Fluren eines tief in den Bergen gelegenen, eingeschneiten Klosters gerade von einer entführten Samuraitochter belauscht werden, über die Frage reden, was gutes Erzählen ausmache. Am Ende erklärt der ältere Mönch, der hervorragende Geschichten schreibt, das sei im Grunde bloßes Handwerk. Sicherlich beherrscht David Mitchell sein Handwerk. Held, Bösewicht, Ziel, Widerstand und so weiter. Aber das kennt man ja von anderen Autoren auch und ist bei denen doch gelangweilt. Mitchells Geschichte, die damit beginnt, dass ein niederländischer Pfarrerssohn im Jahr 1799 auf einen Handelsposten vor Nagasaki kommt, ist in ihrer ständigen Folge von Enthüllungen und Wenden, in ihrer immer weiter wachsenden Geschwindigkeit, in der Art, in der der Blick in den Kopf einer neuen, wieder superlebendigen Figur alles vorher Geschehene in ein neues Licht taucht, aber so gut gebaut, dass man an die These vom Handwerker nicht so recht glauben kann. Der Autor ist vielmehr wohl wirklich begnadet.
Als Warnung sei noch gesagt, dass das Buch sehr, sehr teuer ist, denn nach der Lektüre zückt man sofort die Kreditkarte und bucht den nächsten Flieger nach Japan, so eindrücklich beschreibt der Autor, wie dort alles anders, vor allem aber besser ist als bei uns.
Alard von Kittlitz
David Mitchell: "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet". Rowohlt, 720 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn man in englische Buchgeschäfte geht und sich die Klappentexte der feilgebotenen Ware durchliest, wird man schnell ganz aufgeregt und auch verwirrt. Es ist alles so verlockeeeendddd! "Mesmerizing" steht da, oder "A dazzling work of fiction", oder "A true page turner", oder "The best book I have read in years". Gezeichnet: "New York Review of Books", "International Herald Tribune". Es wird im Akkord phantastische Literatur produziert in der englischsprachigen Welt, denkt man. Und stellt dann enttäuscht fest, dass dort eher einfach nur gelobt wird wie Sau.
Auf der Rückseite der englischen Ausgabe von "Jacob de Zoet" stand nun im Namen der "New York Times", dass der Autor, David Mitchell, "eindeutig ein Genie" sei. Wow!!! Bei so viel Lob ist erst recht Vorsicht geboten. Zumal Mitchell wegen der Verfilmung seines Buchs "Cloud Atlas" ohnehin gerade auf dem Gipfel der Hysterie steht. In den Filmrezensionen des McDonald's-Magazins oder ähnlichen Blättern unseres Vertrauens steht zum Beispiel, dass "Cloud Atlas" so gut wie unmöglich zu verfilmen gewesen sei, weil, total Avantgarde, wie da verschachtelt wird in der Chronologie, pyramidale Erzählstruktur oder so. Dann aber, wenn man trotz aller Vorsicht mit "Jacob de Zoet" anfängt und plötzlich auch fertig ist, fragt man sich doch: Was ist eigentlich los mit diesen Engländern und Amerikanern, dass die so gut sind darin, Geschichten zu erzählen? Dass die irgendwie noch so an die Geschichte an sich glauben, statt nur elenden Metascheiß zu produzieren? Und was ist los mit Mitchell, dass er das so extra gut kann, dass man selbst hingerissen ist zu sagen: "mesmerizing, a true page-turner"? Ist der vielleicht wirklich ein Genie?
In "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" gibt es eine Passage, in der zwei japanische Mönche, die einem unsagbar bösen Shinto-Kult des frühen 19. Jahrhunderts angehören und nachts auf den Fluren eines tief in den Bergen gelegenen, eingeschneiten Klosters gerade von einer entführten Samuraitochter belauscht werden, über die Frage reden, was gutes Erzählen ausmache. Am Ende erklärt der ältere Mönch, der hervorragende Geschichten schreibt, das sei im Grunde bloßes Handwerk. Sicherlich beherrscht David Mitchell sein Handwerk. Held, Bösewicht, Ziel, Widerstand und so weiter. Aber das kennt man ja von anderen Autoren auch und ist bei denen doch gelangweilt. Mitchells Geschichte, die damit beginnt, dass ein niederländischer Pfarrerssohn im Jahr 1799 auf einen Handelsposten vor Nagasaki kommt, ist in ihrer ständigen Folge von Enthüllungen und Wenden, in ihrer immer weiter wachsenden Geschwindigkeit, in der Art, in der der Blick in den Kopf einer neuen, wieder superlebendigen Figur alles vorher Geschehene in ein neues Licht taucht, aber so gut gebaut, dass man an die These vom Handwerker nicht so recht glauben kann. Der Autor ist vielmehr wohl wirklich begnadet.
Als Warnung sei noch gesagt, dass das Buch sehr, sehr teuer ist, denn nach der Lektüre zückt man sofort die Kreditkarte und bucht den nächsten Flieger nach Japan, so eindrücklich beschreibt der Autor, wie dort alles anders, vor allem aber besser ist als bei uns.
Alard von Kittlitz
David Mitchell: "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet". Rowohlt, 720 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2012Das Geheimnis der Hühnerleber
Der britische Autor David Mitchell schreibt dicke Bücher. Seinem gerade verfilmten Roman
„Cloud Atlas“ folgt nun „Die tausend Herbste des Jacob Zoet“ – ein schwerer Brocken Retro-Realismus
VON CHRISTOPH BARTMANN
Wenn man die vielen, vor allem die amerikanischen Hymnen auf David Mitchell liest, kann man den Eindruck gewinnen, der britische Autor sei so etwas wie der amtierende Literatur-Weltmeister. „Phänomenal talentiert“ findet ihn sein Kollege David Eggers, und „fähig, Wunder auf die Buchseiten zu katapultieren“. Im New Yorker ging der Kritiker James Wood anhand von Mitchells letztem Roman, „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, der Frage nach, ob mit Mitchell der Gegenwartsroman in ein neues, „postpostmodernes“ Stadium eingetreten sei. Es ist nicht einmal so, dass die Geister sich an Mitchell schieden. Alle loben seine überbordende Erzählfreude, sein profundes Wissen und die Kraft zur Welterschließung, und wenn einmal etwas bemängelt wird, dann allenfalls der Umstand, dass Mitchell in der Fülle seiner Möglichkeiten nur über eines nicht verfügt, eine unverkennbare Erzählstimme.
Nun sind weder die eigene Erzählstimme noch die breite Bildung unverzichtbare Merkmale großer oder gar „Weltklasse“-Literatur. Es gibt solche Kriterien ohnehin nicht mehr, interessant ist dabei nur der Umstand, dass David Mitchell derart viel Fantasien um wahre und zukunftsweisende literarische Größe auslöst. Mitchell sei, sagt der Klappentext zur deutschen Ausgabe des neuen Romans, „einer jener polyglotten jungen britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die Welt ist“ Wo von Mitchell die Rede ist, wird ein neuer Griff nach der literarischen Weltmacht beschworen. Alle Anderen sind weder polyglott noch jung oder britisch genug.
Man muss Mitchells Romane nicht gering schätzen, um sich von ihnen ernüchtern zu lassen. Hier ist ohne Frage ein Romancier am Werk, der eine Menge kann und weiß, und der dabei, zumindest diesmal, ein durchaus traditionelles Erzählhandwerk pflegt. Vielleicht tut Mitchell nichts Anderes, als das Erbe des historischen Romans ins Computerzeitalter zu überführen. Wer gern Computerspiele mit historischen Themen und Stoffen spielt, wird sich von Mitchell angesprochen fühlen. Das Neo-Traditionelle seines Erzählens, die Rückkehr zur voll instrumentierten Fiktion, das breite Ausmalen eines Tableaus, das sind womöglich die Qualitäten, mit denen sich Mitchell als wahrer Avantgardist unserer nostalgischen Tage, nämlich als Retro-Realist zu erkennen gibt.
Etwas weniger Bewunderung für Mitchell wäre also angezeigt, was schwer ist, weil dieser Tage die Verfilmung seines Romans „Der Wolkenatlas“ ins Kino gekommen ist (SZ vom 14. November). Gegenüber diesem, zumeist als Mitchells größter Wurf angesehenen Roman sind die „Tausend Herbste des Jacob Zoet“ eher konventionell geraten, was nicht mehr heißt, als dass hier anstelle eines halben Dutzend simultaner Entwürfe nur eine, wenngleich lange und komplizierte Geschichte ausgebreitet wird.
Der Schauplatz ist, nicht zum ersten Mal bei Mitchell, Japan. Wir wissen nicht, wie polyglott Mitchell tatsächlich ist, jedenfalls erweckt er erfolgreich den Eindruck, alles über Japan gelesen zu haben, an erster Stelle die berühmte „Geschichte und Beschreibung von Japan“ des Asienreisenden Engelbert Kaempfer (1651-1716), mit der das europäische Wissen von Japan überhaupt erst anfängt. „Die tausend Herbste des Jakob de Zoet“, im Wesentlichen in, vor und um Nagasaki in den Jahren um 1800 angesiedelt, ist ein breitest angelegter, hoch ambitionierter Kulturbegegnungs-, Abenteuer-, Ideen- und, wie auch anders, Liebesroman, der nichts auslässt, was an Farben, Reizen, Sensationen dem Leser Vergnügen bereiten könnte.
Erzählt wird die Geschichte eines jungen niederländischen Handelsangestellten, eben Jacob de Zoet, der 1799 auf der im Hafen von Nagasaki angelegten künstlichen Händlerinsel Dejima, seinen Dienst antritt. Japan ist zu jener Zeit noch ein vollständig isoliertes Land, die Händler dürfen japanischen Boden nicht betreten, was Japaner und Niederländer nicht hindert, Geschäfte zu machen, bei denen sie sich in Gier und Schlauheit in nichts nachstehen.
Natürlich ist Jacob de Zoet der einzig Aufrechte unter den wilden Gesellen (Mitchell liebt, bei aller Buntheit, Stereotype), auch der einzige, der sich wirklich für die fremde Kultur begeistern kann, und darum wohl auch derjenige, der sich unsterblich in eine junge Japanerin verlieben muss, in Orito oder Fräulein Aibagawa, eine Hebamme aus vornehmem Haus. Ohne dass man Mitchell des Orientalismus verdächtigen muss, stellt sich die Frage, wie denn ein japanischer Roman die sicher höchst befremdliche Zusammenkunft zweier bis dahin nicht miteinander in Kontakt gekommener Kulturen, sagen wir in London um 1800, geschildert hätte. Ein Merkmal solcher kultureller Kontaktnahmen ist, dass sie auf Dolmetscher angewiesen sind. Deshalb spielen sie auch bei Mitchell eine große Rolle, aber weil doch zudem ein ganzes Heer von Figuren irgendwie zum Sprechen gebracht werden muss, lässt Mitchell sie ein Pidgin-Englisch sprechen, nicht zum Vorteil des Romans.
Das ist die Quittung für den klassisch-realistischen Ansatz, eine ganze Welt wider alle Wahrscheinlichkeit zum Leben zu erwecken. Wie viel mühsamer, fiktional un-praller, aber deshalb vielleicht auch lohnender wäre der Versuch gewesen, die Geschichte dieser kulturellen Annäherungen aus den realen Bedingungen des (Nicht-) Verstehens heraus zu entwickeln? So sieht es aus, als habe Mitchell seine Erzählwelt nur deshalb so heftig belebt, weil ihr die empirischen Voraussetzungen fehlen. Als müsse auf jeder Seite der Nachweis der Wirklichkeit dieser Wirklichkeit erbracht werden, legt Mitchell einen drastischen Geruchskommentar unter seine Szenerien. „Jacob riecht Hühnerleber in Grotes Atem.“ Kann man das: Hühnerleber riechen?
Immerfort beschießt Mitchell seine Leser mit Sinneswahrnehmungen, als wolle er so die Unmittelbarkeit seiner Romanwelt beteuern. Zu dieser Unmittelbarkeitssuggestion des Romans trägt auch bei, dass er durchgehend im Präsens erzählt ist. Dieser Roman lässt Dich, Leser, nah an sich heran. Aber der Effekt hält nicht lange, weil die erzählte Welt nur die Probebühne einer vor allem um sich selbst bekümmerten Erzählvirtuosität ist.
„Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ lassen wahrlich nichts an farbigem Stoff aus, Hinrichtungen, Entführungen, Seeschlachten, alles so üppig wie erschöpfend, aber manchmal fragt man sich mittendrin, wieso Tolstoj, der noch viel längere Romane schrieb und noch viel größere Welten baute als David Mitchell, uns nie langweilt, während uns Mitchells Geschichtsgemälde oft kalt lässt oder manchmal müde macht. Vielen Lesern muss es anders gehen, sonst gäbe es nicht die große Begeisterung um diesen Autor.
Vielleicht tritt ja mit David Mitchell die Literatur in ein neues Zeitalter ein, in das Zeitalter des hyperanimierten neuen Realismus. Wenn „postpostmodern“ lediglich ein Update älterer Realismen ist, muss man sich auf die Literatur, die unter diesem Namen kommt, nicht unbedingt freuen.
Vielleicht tut Mitchell nichts,
als den historischen Roman ins
Computerzeitalter zu überführen
David Mitchell, 1969 in Southport, Lancaster, geboren, hat es geschafft. Die Kritiker flechten ihm Kränze, das Kino hat gerade seinen Weltbestseller „Cloud Atlas“ („Wolkenatlas“) verfilmt. Jetzt ist sein jüngstes Werk, ein historischer Roman über Japan um 1800, auf Deutsch erschienen.
FOTO: BLACKARCHIVES / AGENTUR FOCUS
David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet. Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 716 Seiten, 19,95 Euro.
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Der britische Autor David Mitchell schreibt dicke Bücher. Seinem gerade verfilmten Roman
„Cloud Atlas“ folgt nun „Die tausend Herbste des Jacob Zoet“ – ein schwerer Brocken Retro-Realismus
VON CHRISTOPH BARTMANN
Wenn man die vielen, vor allem die amerikanischen Hymnen auf David Mitchell liest, kann man den Eindruck gewinnen, der britische Autor sei so etwas wie der amtierende Literatur-Weltmeister. „Phänomenal talentiert“ findet ihn sein Kollege David Eggers, und „fähig, Wunder auf die Buchseiten zu katapultieren“. Im New Yorker ging der Kritiker James Wood anhand von Mitchells letztem Roman, „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, der Frage nach, ob mit Mitchell der Gegenwartsroman in ein neues, „postpostmodernes“ Stadium eingetreten sei. Es ist nicht einmal so, dass die Geister sich an Mitchell schieden. Alle loben seine überbordende Erzählfreude, sein profundes Wissen und die Kraft zur Welterschließung, und wenn einmal etwas bemängelt wird, dann allenfalls der Umstand, dass Mitchell in der Fülle seiner Möglichkeiten nur über eines nicht verfügt, eine unverkennbare Erzählstimme.
Nun sind weder die eigene Erzählstimme noch die breite Bildung unverzichtbare Merkmale großer oder gar „Weltklasse“-Literatur. Es gibt solche Kriterien ohnehin nicht mehr, interessant ist dabei nur der Umstand, dass David Mitchell derart viel Fantasien um wahre und zukunftsweisende literarische Größe auslöst. Mitchell sei, sagt der Klappentext zur deutschen Ausgabe des neuen Romans, „einer jener polyglotten jungen britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die Welt ist“ Wo von Mitchell die Rede ist, wird ein neuer Griff nach der literarischen Weltmacht beschworen. Alle Anderen sind weder polyglott noch jung oder britisch genug.
Man muss Mitchells Romane nicht gering schätzen, um sich von ihnen ernüchtern zu lassen. Hier ist ohne Frage ein Romancier am Werk, der eine Menge kann und weiß, und der dabei, zumindest diesmal, ein durchaus traditionelles Erzählhandwerk pflegt. Vielleicht tut Mitchell nichts Anderes, als das Erbe des historischen Romans ins Computerzeitalter zu überführen. Wer gern Computerspiele mit historischen Themen und Stoffen spielt, wird sich von Mitchell angesprochen fühlen. Das Neo-Traditionelle seines Erzählens, die Rückkehr zur voll instrumentierten Fiktion, das breite Ausmalen eines Tableaus, das sind womöglich die Qualitäten, mit denen sich Mitchell als wahrer Avantgardist unserer nostalgischen Tage, nämlich als Retro-Realist zu erkennen gibt.
Etwas weniger Bewunderung für Mitchell wäre also angezeigt, was schwer ist, weil dieser Tage die Verfilmung seines Romans „Der Wolkenatlas“ ins Kino gekommen ist (SZ vom 14. November). Gegenüber diesem, zumeist als Mitchells größter Wurf angesehenen Roman sind die „Tausend Herbste des Jacob Zoet“ eher konventionell geraten, was nicht mehr heißt, als dass hier anstelle eines halben Dutzend simultaner Entwürfe nur eine, wenngleich lange und komplizierte Geschichte ausgebreitet wird.
Der Schauplatz ist, nicht zum ersten Mal bei Mitchell, Japan. Wir wissen nicht, wie polyglott Mitchell tatsächlich ist, jedenfalls erweckt er erfolgreich den Eindruck, alles über Japan gelesen zu haben, an erster Stelle die berühmte „Geschichte und Beschreibung von Japan“ des Asienreisenden Engelbert Kaempfer (1651-1716), mit der das europäische Wissen von Japan überhaupt erst anfängt. „Die tausend Herbste des Jakob de Zoet“, im Wesentlichen in, vor und um Nagasaki in den Jahren um 1800 angesiedelt, ist ein breitest angelegter, hoch ambitionierter Kulturbegegnungs-, Abenteuer-, Ideen- und, wie auch anders, Liebesroman, der nichts auslässt, was an Farben, Reizen, Sensationen dem Leser Vergnügen bereiten könnte.
Erzählt wird die Geschichte eines jungen niederländischen Handelsangestellten, eben Jacob de Zoet, der 1799 auf der im Hafen von Nagasaki angelegten künstlichen Händlerinsel Dejima, seinen Dienst antritt. Japan ist zu jener Zeit noch ein vollständig isoliertes Land, die Händler dürfen japanischen Boden nicht betreten, was Japaner und Niederländer nicht hindert, Geschäfte zu machen, bei denen sie sich in Gier und Schlauheit in nichts nachstehen.
Natürlich ist Jacob de Zoet der einzig Aufrechte unter den wilden Gesellen (Mitchell liebt, bei aller Buntheit, Stereotype), auch der einzige, der sich wirklich für die fremde Kultur begeistern kann, und darum wohl auch derjenige, der sich unsterblich in eine junge Japanerin verlieben muss, in Orito oder Fräulein Aibagawa, eine Hebamme aus vornehmem Haus. Ohne dass man Mitchell des Orientalismus verdächtigen muss, stellt sich die Frage, wie denn ein japanischer Roman die sicher höchst befremdliche Zusammenkunft zweier bis dahin nicht miteinander in Kontakt gekommener Kulturen, sagen wir in London um 1800, geschildert hätte. Ein Merkmal solcher kultureller Kontaktnahmen ist, dass sie auf Dolmetscher angewiesen sind. Deshalb spielen sie auch bei Mitchell eine große Rolle, aber weil doch zudem ein ganzes Heer von Figuren irgendwie zum Sprechen gebracht werden muss, lässt Mitchell sie ein Pidgin-Englisch sprechen, nicht zum Vorteil des Romans.
Das ist die Quittung für den klassisch-realistischen Ansatz, eine ganze Welt wider alle Wahrscheinlichkeit zum Leben zu erwecken. Wie viel mühsamer, fiktional un-praller, aber deshalb vielleicht auch lohnender wäre der Versuch gewesen, die Geschichte dieser kulturellen Annäherungen aus den realen Bedingungen des (Nicht-) Verstehens heraus zu entwickeln? So sieht es aus, als habe Mitchell seine Erzählwelt nur deshalb so heftig belebt, weil ihr die empirischen Voraussetzungen fehlen. Als müsse auf jeder Seite der Nachweis der Wirklichkeit dieser Wirklichkeit erbracht werden, legt Mitchell einen drastischen Geruchskommentar unter seine Szenerien. „Jacob riecht Hühnerleber in Grotes Atem.“ Kann man das: Hühnerleber riechen?
Immerfort beschießt Mitchell seine Leser mit Sinneswahrnehmungen, als wolle er so die Unmittelbarkeit seiner Romanwelt beteuern. Zu dieser Unmittelbarkeitssuggestion des Romans trägt auch bei, dass er durchgehend im Präsens erzählt ist. Dieser Roman lässt Dich, Leser, nah an sich heran. Aber der Effekt hält nicht lange, weil die erzählte Welt nur die Probebühne einer vor allem um sich selbst bekümmerten Erzählvirtuosität ist.
„Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ lassen wahrlich nichts an farbigem Stoff aus, Hinrichtungen, Entführungen, Seeschlachten, alles so üppig wie erschöpfend, aber manchmal fragt man sich mittendrin, wieso Tolstoj, der noch viel längere Romane schrieb und noch viel größere Welten baute als David Mitchell, uns nie langweilt, während uns Mitchells Geschichtsgemälde oft kalt lässt oder manchmal müde macht. Vielen Lesern muss es anders gehen, sonst gäbe es nicht die große Begeisterung um diesen Autor.
Vielleicht tritt ja mit David Mitchell die Literatur in ein neues Zeitalter ein, in das Zeitalter des hyperanimierten neuen Realismus. Wenn „postpostmodern“ lediglich ein Update älterer Realismen ist, muss man sich auf die Literatur, die unter diesem Namen kommt, nicht unbedingt freuen.
Vielleicht tut Mitchell nichts,
als den historischen Roman ins
Computerzeitalter zu überführen
David Mitchell, 1969 in Southport, Lancaster, geboren, hat es geschafft. Die Kritiker flechten ihm Kränze, das Kino hat gerade seinen Weltbestseller „Cloud Atlas“ („Wolkenatlas“) verfilmt. Jetzt ist sein jüngstes Werk, ein historischer Roman über Japan um 1800, auf Deutsch erschienen.
FOTO: BLACKARCHIVES / AGENTUR FOCUS
David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet. Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 716 Seiten, 19,95 Euro.
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