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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2011

Vom Nutzen des Aberglaubens

Den Teufel mit guten Geschichten in Schach halten und den großen amerikanischen Roman links liegen lassen: Téa Obreht und ihr phantastisches Debüt "The Tiger's Wife".

In seiner sommerlichen "Fiction"-Ausgabe veröffentlichte der "New Yorker" kürzlich eine Reihe von fünf kleinen Geschichten unter dem Titel "Starting out". Sie sind nicht länger als jeweils eine Magazinseite, in die noch eine lustige Illustration eingeblockt ist. Edward P. Jones erzählt in einer der Geschichten von den überlangen Briefen, die er seiner ersten großen Liebe schrieb, bei der er chancenlos blieb. Junot Díaz erinnert sich in einer anderen an den einzigen Diebstahl, den er je beging, als er das von seinen eigenen Freunden gestohlene Geld, das seine Mutter für die Familie zu Hause in der Dominikanischen Republik gespart hatte, seinerseits bei einem Einbruch wieder an sich brachte.

Nur eine der kurzen Erzählungen aber handelt davon, was man unter dem Titel der Serie erwarten könnte: wie es losging mit dem Schreiben. Sie stammt von Téa Obreht, und die Illustration dazu zeigt ein Mädchen mit einem zweifarbigen Stirnband im strohgelben Haar, einer kreisrunden roten Brille und einem Lächeln, das zwei große Zahnlücken bloßlegt. Ihr Großvater hatte diese Zahnlücken ebenfalls, erfahren wir in dem Text, was seinem Lächeln etwas verhutzelt Freundliches gegeben haben soll, während es bei der Autorin "leicht psychotisch" wirkte und sie lispeln ließ. Dies und auch den Look der achtziger Jahre, in dem sie von ihrer Mutter und Großmutter gekleidet wurde, in Neongelb und Orange am liebsten, hätten ihre Mitschüler noch gnädig übersehen, möglicherweise. Nicht jedoch, dass sie eine Schriftstellerin sein wollte. Sein, nicht werden. Und weil sie dies gleich mit ihrem Namen bei Schulbeginn herausposaunte, wurde ihre Neigung zur Literatur zum Quell hartnäckiger Hänseleien.

Damals, als sie ein Kind war, schrieb Téa Obreht offenbar mit einer gewissen Zwanghaftigkeit verwegene romantische Abenteuergeschichten mit Drachenkämpfen und Freundesopfern. Heute ist sie eine der gefeiertsten amerikanischen Autorinnen. Das begann 2009, als ihre Kurzgeschichte "The Laugh" in "The Atlantic" erschien und sogleich in die Anthologie der "Best American Short Stories 2010" aufgenommen wurde. Im vergangenen Sommer war sie im Alter von vierundzwanzig Jahren die Jüngste auf der Liste der "20 under 40" des "New Yorker" und auch auf der noch exklusiveren Auswahl "5 under 35" der National Book Foundation auf Vorschlag von Colum McCann vertreten. Im vergangenen März kam dann ihr erster Roman, "The Tiger's Wife", heraus. Die Rezensenten waren begeistert. Im Frühjahr gewann sie mit ihm als bisher jüngste Autorin den britischen "Orange Prize for Fiction" - ein Erfolg nach dem anderen für eine Autorin, die inzwischen fünfundzwanzig ist. Was ist da dran?

"The Tiger's Wife" erzählt von der jungen Ärztin Natalia Stefanovic, die mit ihrer Freundin Zóra, ebenfalls einer Ärztin, in die Grenzregion eines namenlosen Landes auf dem Balkan unterwegs ist, um verwaiste Kinder mit Impfstoff zu versorgen. In der Autoschlange vor der Ausweiskontrolle erfährt Natalia vom Tod ihres Großvaters, auch er ein Arzt, der zum Sterben, wie die Großmutter ihr am Telefon erzählt, in die Nähe des Ortes gefahren war, zu dem Natalia und Zóra sich gerade aufgemacht haben. An den Großvater, der in seiner Jackentasche immer ein zerlesenes Exemplar von Kiplings "Dschungelbuch" bei sich trug, knüpft sich für Natalia, unsere Erzählerin, ein komplexes Gewebe von Kindheitserinnerungen, die teilweise angefüllt sind mit Erzählungen des Großvaters von seiner Kindheit und in denen ein Zoo, ein entlaufener Elefant, ein Tiger, ein Metzger und seine taubstumme misshandelte Frau sowie ein Mann, der nicht sterben kann, aber anderen den Tod bringt, eine Rolle spielen.

Auf dem Balkan. Das ist eine in sich fast schon fabelhafte Bezeichnung für den Raum, in dem dieser Roman spielt - in einer Gegend, in der es wichtiger scheint, dass man keine Zugluft abbekommt (in der man einem alten Aberglauben zufolge sogleich tot umfiele, wie Téa Obreht in ihrer kurzen Erzählung über ihre Anfänge als Schriftstellerin mitteilt), als genau zu wissen, in welchem Land man gerade unterwegs ist. In "The Tiger's Wife" finden sich keine realen Ortsbezeichnungen, keine Namen für die verschiedenen ethnischen Gruppierungen, die sich befeinden, obwohl diese Feindschaft immer wieder angesprochen wird, etwa wenn es um die Waisenkinder geht, "die die Unsrigen zu Waisen gemacht hatten", wie es einmal heißt. Dies ist ein Buch über Bruderkriege, die niemals zu enden scheinen, übers Sterben und über die Toten. Aber auch die Namen politischer Führer (Tito heißt bei ihr "Der Marschall") oder Kriegsverbrecher kommen nicht vor und nur verschwommene Andeutungen der geographischen Gegebenheiten, in denen diese Geschichte spielt.

Der Erinnerung, so scheint es, bedeutet es nichts, wenn das große Land, das einst eines war, nun in sieben Staaten zerfallen ist. Wichtig ist, ob die Brücke, die zwei Ufer einmal verband, gesprengt wurde, was mit den Tieren geschah, als Bomben den Zoo zerstörten, ob es kalt ist oder heiß und die Menschen in bergigen Wäldern leben oder in der Stadt, ob sie nun die Hauptstadt des Ganzen oder nur noch die eines kleinen Teils von ihm sei. Wir haben es also nicht mit einem realistischen Roman zu tun, sondern mit einem Gebilde, das sich aus ganz unterschiedlichen Erzählformen speist und in dem Volksmärchen, Schauergeschichten und Fabeln verwoben sind mit der Geschichte von Natalia, die versucht, herauszufinden, wo ihr Großvater gestorben ist und wie er an diesen Ort kam.

So springt die Erzählerin nicht nur in der Geographie, sondern auch zwischen den Zeiten mühelos hin und her, vom Zweiten Weltkrieg, in dem der Großvater Kind war, zur Zeit seines Todes heute, ohne Ansage und ohne dass sich dadurch ein Gefühl der Desorientierung einstellte. Nicht, weil wir die Chronologie erahnten, sondern weil wir sie vergessen und die Geschichten von den Tieren, den Sängern, den Wanderungen zwischen den Orten, den Jahreszeiten und dem Mann, der nicht sterben kann, uns vollkommen in ihren Bann ziehen. So geschieht beim Lesen genau das, worum es den Menschen, die sich in diesem Buch Geschichten erzählen, geht: in diesen Erzählungen, die oft vom Aberglauben zusammengehalten werden, einen Grund zu finden, eine Bedeutung, die den Ereignissen ohne diese Geschichten nicht zu entlocken ist. Kein Wunder, dass Téa Obreht zu ihren Lieblingsautoren Toni Morrison und Gabriel García Márquez zählt.

"The Tiger's Wife" ist also ein Buch übers Geschichtenerzählen, über seine Kraft, den Tod in Schach zu halten "und das Unvermeidbare auf später zu verschieben", wie es Charles Simic in seiner Rezension des Buchs formuliert, die kürzlich in der "New York Review of Books" erschienen ist. Simic, der 1938 in Belgrad geborene Dichter, der seit 1953 in den Vereinigten Staaten lebt und uns in seinem Essays immer wieder zu erklären versucht, was sich "auf dem Balkan" abspielt, worum die Kriege kreisen und was übrig bleibt, wenn ein Land zerfällt, ist wahrscheinlich der beste Kritiker für dieses Buch. Auch Téa Obreht stammt aus Belgrad und kam, nachdem sie 1992 mit ihrer Mutter und ihren Großeltern die Stadt auf der Flucht vor dem Krieg verlassen hatte, nach Stationen in Zypern und Kairo erst als Zwölfjährige nach Amerika.

Sie kennt die Kriege nicht aus eigener Anschauung, sie schreibt keine versteckte Autobiographie. Aber sie kennt die Geschichten, die über die Generationen auch in ihrer Familie die Runde machten, und sie stellt sich in der Figur des Großvaters einen Mann vor, "dessen Schicksal mit dem Land, das einmal als Jugoslawien bekannt war, verwoben ist und der sich seine Fähigkeit zum Mitfühlen und seinen Anstand in Zeiten ethnischen Hasses und Gewalt erhalten konnte", wie Simic schreibt. Und es gelingt ihr am Ende, wenn Natalia den Untoten aus den Erinnerungen des Großvaters tatsächlich trifft, noch einmal die Geistergeschichten wachzurufen, in denen so gar kein Trost, sondern nur der Schrecken haust.

Gerade in den Vereinigten Staaten, wo alle mit fast lachhafter Beständigkeit auf den "großen amerikanischen Roman" warten, wird mit Téa Obreht eine Autorin gefeiert, die sich ums realistische Erzählen nicht schert. Auch in ihrer Kurzgeschichte "Blue Water Djinn" aus dem vergangenen Jahr, die am Strand eines nordafrikanischen Landes spielt, wird das Schauermärchen vom Seeungeheuer am Ende Wirklichkeit. Ist es da ein Wunder, dass "Harper's Magazine" sie auf Vampirjagd schickte? Das war ebenfalls im letzten Jahr, und Téa Obreht kam aus den abgelegenen Wäldern in Serbien und Kroatien mit einer Geschichte zurück, in der sie wie in ihrem Roman den Aberglauben, die magischen Gewissheiten und Volksmärchen jener Weltregion mit der Erzählung ihrer Reise dorthin verknüpfte.

"Twilight of the Vampires: Hunting the Real-life Undead" heißt diese Geschichte. Man kann sie bei Youtube in einer Lesung der Autorin hören, deren Zahnlücken verschwunden sind und mit ihr das Lispeln aus Kindertagen. Téa Obrehts Großmutter wohnt wieder in Belgrad, und als die Enkelin bei ihr ankam, um von dort aus ihre Reise zu den Vampiren anzutreten, so schreibt sie in dieser Geschichte, fand sie unter ihrem Bett eine aufgeklappte Schere mit den Spitzen zur Tür gerichtet. Sie sollte den Teufel in Schach halten, der ihr fraglos auf den Fersen war. Téa Obreht trifft auf ihrer Reise den Vampir, an den alle glauben, denen sie begegnet, nicht. Aber sie hört die Geschichten über ihn, und in ihnen bleiben die Grausamkeit, die Angst und der Schrecken wach, die das Land, aus dem sie kommt, immer noch fest in ihrem Griff haben.

VERENA LUEKEN

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