Produktdetails
  • Verlag: B&T / Verso
  • Seitenzahl: 159
  • Englisch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 352g
  • ISBN-13: 9781859846315
  • Artikelnr.: 22015746
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2001

Beweise: keine
Am einstigen amerikanischen Außenminister Henry Kissinger scheiden sich die Geister – aber war er „chaotisch, pervers und kriminell”?
CHRISTOPHER HITCHENS: The trial of Henry Kissinger, Verso books, London 2001. 170 Seiten, 15 Pfund.
Knapp ein Vierteljahrhundert nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als US-Außenminister zieht Henry Kissinger noch immer so zwiespältige Gefühle auf sich wie kaum ein anderer Politiker weltweit: Bewunderung, ja Verehrung einerseits, Abscheu und Hass andererseits.
Seine New Yorker Politikberatungsfirma „Kissinger Associates” macht Millionengewinne, weil multinationale Unternehmen gern auf den Rat des weitgereisten Staatsmannes und seiner Helfer zurückgreifen. Seine spröden Zeitungskolumnen werden in Amerika millionenfach gedruckt. Sein Vortrag zur Weltpolitik – ein Witzbold gab Kissingers tour d’horizon einst den Untertitel: Wichtige Männer, die mich trafen – kostet bis zu 30000 Dollar pro Abend.
Auf der anderen Seite stehen jene, die nicht vergessen mögen, dass der Weltstaatsmann Kissinger als Sicherheitsberater und Außenminister jenem Präsidenten diente, der die Supermacht mit dem Watergate-Skandal an den Rand des moralischen Bankrotts brachte. Richard Nixon musste schließlich im August 1974 zurücktreten. Kissinger war damals schon Friedens-Nobelpreisträger für seinen Beitrag zur Beendigung des Vietnam-Krieges, eine Verwicklung in die kriminellen Machenschaften des Präsidenten und seiner engsten innenpolitischen Berater war ihm nicht nachzuweisen. So blieb er als Außenminister noch zweieinhalb Jahre im Amt und erwies sich als starker Mann in der Administration des schwachen Nixon-Nachfolgers Gerald Ford.
Mister Richtig
Seither gehört der Immigrant aus Fürth zu den Lieblingsfeinden aller amerikanischen Linksliberalen. Wenn möglich, ist diese Antipathie, die auf Gegenseitigkeit beruht, durch Kissingers drei tausendseitige Memoirenbände noch verstärkt worden. Denn seiner eigenen, höchst spannend und elegant geschriebenen Beschreibung der US-Außenpolitik zufolge hat der Weltstaatsmann Kissinger eigentlich alles richtig gemacht.
Falsch, schreibt nun Christopher Hitchens, der sich gleich im ersten Satz seines Kissinger-Buches als „politischer Gegner” des elder statesman outet. Das ist eine Untertreibung. Auf den nächsten 170 Seiten trägt Hitchens alte und neue Fakten vor, deren Fazit lautet: Der hochgeachtete Außenpolitiker Kissinger ist eigentlich ein Kriegsverbrecher und Beihelfer zu Mord und Folterung; seine Politik war „chaotisch, emotional, pervers, unverantwortlich”, seine Diplomatie „kriminell”; gemeinsam mit Nixon machte er Amerika zu einem „Schurkenstaat”; er gehört auf eine Anklagebank, möglichst in Amerika. „Sollten die Gerichte und Anwälte dieses Landes nicht ihre Pflicht erfüllen, werden wir die Peinlichkeit erleben, dass die Opfer und Überlebenden dieses Mannes sich auf ihre eigene würdige Weise und auf ihre Kosten Gerechtigkeit verschaffen.”
Autor Hitchens ist wie sein Hassobjekt ein Immigrant. In England geboren, studierte er, wo und was man eben so studiert als talentierter und ehrgeiziger Untertan Ihrer Majestät: Politik, Philosophie und Ökonomie in Oxford. Seit Jahrzehnten lebt Hitchens in Washington, schreibt dort für renommierte Zeitschriften und hat sich als Autor polemischer Bücher einen Namen gemacht. Zuletzt rechnete er im vergangenen Jahr enttäuscht mit Ex- Präsident Bill Clinton ab.
Hitchens macht kein Hehl daraus, aus der 68er-Bewegung zu kommen, deren raison d’etre, zumal in seiner englischen Heimat, vor allem die Opposition zum Vietnam-Krieg war. Er ist auch in Washington seinen linken Idealen treu geblieben – anders als sein Bruder Peter, der längst nach Rechts gewandert ist und in Londons reaktionären Blättern gegen den angeblich kurz vor der Machtergreifung stehenden europäischen Superstaat polemisiert. Was die beiden Hitchens-Brüder verbindet, ist die Lust an der Polemik und eine ungewöhnliche Sprachbegabung. An guten Tagen kommen Peters wie Christophers Texte federleicht und höchst elegant daher. Freilich gibt es auch schlechte Tage. Das Kissinger-Buch hat Christopher Hitchens ganz überwiegend an schlechten Tagen geschrieben. Es stolpert dahin, als habe sich der Autor nicht entscheiden können, was er eigentlich schreiben wollte. „Eine Anklageschrift” behauptet er selbst, aber dafür ist das Bändchen zu schmal, zu wenig detailreich, zu hasserfüllt. Eine Polemik, nun ja. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass das Kissinger-Buch im gleichen Londoner Verso-Verlag erschienen ist (auf deutsch im Herbst bei der Deutschen Verlags-Anstalt), der vor einem Jahr auch Norman Finkelsteins Abrechnung mit der Holocaust-Industrie herausbrachte. Wie Finkelsteins Traktat wirkt auch Hitchens‘ Schrift merkwürdig unausgegoren, allzu emotional, häufig ahistorisch.
Zwar räumt Hitchens ein, dass Kissinger im Kalten Krieg agierte – einerseits um Detente mit Russland und China bemüht, andererseits empfindlich gegenüber den Beeinträchtigungen amerikanischer Interessen. Stabilität und Ordnung wurden für wichtiger gehalten als Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit.
Kaum jemand befürwortete diese Maximen eloquenter als der brillante Harvard-Professor Kissinger. Sein wichtigstes, auch heute noch sehr lesbares Buch handelte von der Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Der englische Außenminister Castlereagh und Österreichs Metternich erwiesen sich danach als gleichrangige Gegner auf dem Schachbrett internationaler, damals freilich auf Europa begrenzter Diplomatie. Kissinger lässt keinen Zweifel an seiner Bewunderung für beide.
Das „realistische” Vertrauen auf die Macht der Nationalstaaten, die Betonung „harter” militärischer Macht gegenüber „weichen” Faktoren wie den Menschenrechten, die Skepsis gegenüber „idealistischen” Ideen von offener Diplomatie – all diese Merkmale der Restauration in Europa kennzeichneten auch Kissingers Amtsführung. Soweit diese den Ausgleich mit den anderen Grossmächten anstrebte, war Kissinger erfolgreich. Nicht zuletzt unterzeichneten Nixon und der sowjetische Parteichef Breschnew 1971 den ersten und wichtigsten Rüstungskontrollvertrag SALT I – immerhin dreißig Jahre lang Fundament des strategischen Gleichgewichts, ehe US-Präsident Bush den Vertrag kürzlich zugunsten seiner Raketenabwehr auf den Müllhaufen der Geschichte warf.
In Kissingers eigenem Strategie-Schachspiel spielten, ganz wie bei seinen Vorbildern Castlereagh und Metternich, die Rechte, Sehnsüchte und Ideale kleiner Leute keine Rolle. Schon kleine Staaten waren nur so weit relevant, wie sie zur Einflusssphäre der einen oder anderen Supermacht gehörten. Selbstbestimmung, demokratische Wahlen, soziale Gerechtigkeit? In Kissingers zynisch-realistischem Weltbild ein Luxus, den sich die allerwenigsten leisten konnten: „Ich sehe keinen Grund, warum ein Land dem Marxismus zum Opfer fallen soll, nur weil seine Bevölkerung sich unverantwortlich verhält.”
Der Satz war auf Chile gemünzt, und natürlich spielt Chiles tragische Geschichte auch bei Hitchens eine wichtige Rolle. Mit Hilfe faksimilierter Telegramme versucht der Autor den Eindruck zu erwecken, Kissinger selbst habe die Ermordung des chilenischen Generalstabschefs angeordnet, um dadurch die Vereidigung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende zu verhindern. Doch der Beweis gelingt nicht. Dass die Amerikaner damals massiv Einfluss auf die inneren Angelegenheiten Chiles nahmen, das Ergebnis einer demokratischen Wahl zu annullieren versuchten und schließlich sehr erleichtert waren, als General Pinochet gegen Allende putschte, daraus macht Kissinger kein Hehl. Aber Mord, Folter, Kriegsverbrechen? Dafür bleibt Hitchens die Beweise schuldig.
So geht das in jedem Kapitel. Kissinger habe die Pariser Friedensverhandlungen von 1968 hintertrieben und dadurch den Vietnam-Krieg um mehr als vier Jahre verlängert, behauptet Hitchens wie vor ihm schon manche andere. Beweise: keine. Kissinger habe sich in der Zypern-Krise 1974 erst auf die Seite der griechischen Obristen geschlagen, später die türkische Invasion der Mittelmeer-Insel gebilligt, anstatt den demokratisch gewählten Präsidenten, Erzbischof Makarios III, zu unterstützen. Moralisch anstößige, im Ergebnis falsche Politik, mag sein – aber war Kissinger wirklich, wie Hitchens behauptet, „einverstanden mit einem Mordversuch” gegen Makarios, „mit einem faschistischen Militärputsch, mit dem Mord an vielen Tausenden von Zivilisten”?
Unbehagen an der Justiz
Hitchens‘ letztlich gescheiterte Polemik nimmt immerhin das weit verbreitete Unbehagen darüber auf, dass Kriegsverbrecher in Ruanda und Jugoslawien, bis hinauf zu Ex-Staatschef Slobodan Milosevic, sich neuerdings vor Gericht verantworten müssen, während viele Episoden aus der Zeit des Kalten Krieges ungesühnt bleiben. Siegerjustiz à la Nürnberg? Sollten nicht auch einmal prominente Vertreter der letzten verbliebenen Supermacht ihre Taten vor Gericht verantworten müssen? Immerhin sah Henry Kissinger sich in jüngster Zeit gleich zweimal mit der Bitte um Zeugenaussagen konfrontiert. In beiden Verfahren soll der Weltstaatsmann zu seiner Rolle vor und nach dem Militärputsch in Chile aussagen – nachgekommen ist Kissinger den Bitten bisher nicht.
Deutlich wird hier ein wachsendes Problem für die einzige verbliebene Supermacht: Einerseits erwartet die USA von ihren Verbündeten, zumal den europäischen, loyale Unterstützung für die Rolle als Weltpolizist. Andererseits beharren die Amerikaner darauf, weiterhin außerhalb des universellen Völkerrechts zu agieren. Der arrogante Weltschachspieler Kissinger wird bei Hitchens zur Chiffre für die selbstsüchtige Außenpolitik seines Zufluchtslandes. Wahrscheinlich wäre er stolz darauf.
SEBASTIAN BORGER
Der Rezensent ist Journalist in London.
Henry Kissinger, schreibt Christopher Hitchens, leistete Beihilfe zu Mord und Folter; aus seinem Hass auf den elder statesman macht der Autor keinen Hehl.
Foto: Reuters
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