Das künstlerische Schaffen von Hamish Fulton fokussiert auf die Natur und das Erleben der Natur durch den Menschen. Seit dreissig Jahren unternimmt er auf der ganzen Welt Wanderungen und setzt das dabei Erlebte und Gesehene künstlerisch um. 2009 hat Hamish Fulton zusammen mit einem Expeditionsteam den höchsten Punkt der Erde, den Mount Everest, bestiegen. Die Publikation präsentiert erstmalig diese künstlerische Arbeit über die Gipfelbesteigung in einem umfangreichen Bildband in Form von Collagen aus Fotografien und Text, Skulpturen und Papierarbeiten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2011Der Weg ist nur der Weg, das Ziel ist das Ziel
Hamish Fultons Wanderungen reichen anderthalbmal um die Welt, und seine Bergbesteigungen führen bis in den Himmel / Von Freddy Langer
Vielleicht musste das einfach sein. Vielleicht konnte Hamish Fulton gar nicht mehr anderswohin gehen als auf den Gipfel des Mount Everest. Mehr als zweihundert Wanderungen hat er im Laufe seines Lebens unternommen und dabei fast sechzigtausend Kilometer zurückgelegt. Er ist Flüssen von der Quelle bis zur Mündung gefolgt, hat mehrere Länder von einer Grenze zur anderen durchquert und ist die Alpen der Länge nach abgegangen. Dabei war es ihm niemals um Entspannung, Ablenkung oder Erholung zu tun; im Gegenteil. Stets sucht er Anspannung, Konzentration und Anstrengung. Deshalb ging er in Südengland den fast zweihundert Kilometer langen "Pilgrims Way", ohne zu schlafen. Oder er zählte in Japan mit der Genauigkeit eines Landvermessers die 33210 Schritte ab, die er brauchte, um den Berg Hiei zu umrunden. Hamish Fulton ist Künstler. Das Gehen ist seine Arbeit. Es ist ihm eine zeitlich begrenzte Skulptur im Raum. Und später entsteht die eine oder andere Arbeit: Mal ist es ein beschriftetes Foto, mal eine gigantische Zeichnung auf einer Museumswand. Radikal reduzierte Bilder, streng, sachlich, schnörkellos, selbst die Schrift ohne Serifen - bewegende Erkenntnisse eingedampft auf ein, zwei Begriffe. "No walk, no work", sagt Fulton. Weshalb ihm nie der Weg zum Ziel wird, sondern nur das Ziel.
Und nun also der Everest, von dessen Gipfel der nächste Schritt nur noch in den Himmel führt. Es war ein gewagtes Unternehmen. Denn ohne Gipfel würde Fulton leer zurückkommen. Ohne Bild. Ohne Werk. Aussichten interessieren ihn nicht, schon gar nicht Aussichten aus halber Höhe. Er sucht Einsichten. Aber diesmal ging er nicht wie sonst ganz intuitiv an die Arbeit. Oben, in 8850 Meter Höhe, in dünner Luft und bei eisigem Wind, am Morgen des 19. Mai 2009, zwang er sich vielmehr, zwei Sätze zu denken, die er eigens für den Gipfel formuliert hatte: "Respect the mountain" und "Long live the Dalai Lama". Das war sein Ziel gewesen: diese Wünsche hinaufzutragen, sie dem Himmel zu reichen. Als ihm der Sherpa Ang Dorje sagte, es sei Zeit, abzusteigen, nahm er schnell noch zwei Fotos auf - eines mit ausgestreckten Armen, die Kamera auf das eigene Gesicht gerichtet, das hinter der Sauerstoffmaske und den Spiegelungen in der Sonnenbrille verschwindet. Ein überzeugendes Gipfelfoto hat er nicht mit hinuntergebracht.
Seine Expedition auf den Mount Everest bezeichnet Fulton als "The big idea", was viel wörtlicher zu verstehen ist, als man zunächst meint. Denn jede seiner Wanderungen entsteht aus einer Idee, die sich unterwegs in Wirklichkeit verwandelt und im Kunstwerk später zurück in die Idee transponiert wird. Genaugenommen ist Fulton Konzeptkünstler.
Dass er seine Wanderungen verbindet und verknüpft, bis sie sich als eine Art Wegenetz über den ganzen Globus legen, teils in solch akkuraten Linien und rechten Winkeln, dass deren Verlauf wieder selbst zum Kunstwerk wird, ist Teil seines Konzepts. Und so hat er für sein jüngstes Künstlerbuch zehn Unternehmungen im Himalaja, die er zwischen 1975 und 2009 unternommen hat, miteinander verbunden. "The Uncarved Block" hat er es genannt, in Anlehnung an eine taoistische Formulierung aus dem vierten Jahrhundert vor Christus - aber vielleicht auch als Verweis auf die erste Begegnung zwischen einem Bildhauer und seinem Stein, jenen Moment, in dem noch alles denkbar ist, bevor der Künstler beginnt, sein Werk aus dem Material freizuschlagen, besser vielleicht noch: es freizulegen. Dass dies freilich auch ohne Meißel möglich ist, nur durch Gedanken, belegt sein wunderbarer Band Seite für Seite mit zahlreichen Werken und vielen Tagebuchnotizen. Ein großes Kunstbuch. Und ein Bergbuch, wie es kein zweites gibt.
"The Uncarved Block" von Hamish Fulton. Lars Müller Publishers, Baden in der Schweiz 2010. 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 38,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hamish Fultons Wanderungen reichen anderthalbmal um die Welt, und seine Bergbesteigungen führen bis in den Himmel / Von Freddy Langer
Vielleicht musste das einfach sein. Vielleicht konnte Hamish Fulton gar nicht mehr anderswohin gehen als auf den Gipfel des Mount Everest. Mehr als zweihundert Wanderungen hat er im Laufe seines Lebens unternommen und dabei fast sechzigtausend Kilometer zurückgelegt. Er ist Flüssen von der Quelle bis zur Mündung gefolgt, hat mehrere Länder von einer Grenze zur anderen durchquert und ist die Alpen der Länge nach abgegangen. Dabei war es ihm niemals um Entspannung, Ablenkung oder Erholung zu tun; im Gegenteil. Stets sucht er Anspannung, Konzentration und Anstrengung. Deshalb ging er in Südengland den fast zweihundert Kilometer langen "Pilgrims Way", ohne zu schlafen. Oder er zählte in Japan mit der Genauigkeit eines Landvermessers die 33210 Schritte ab, die er brauchte, um den Berg Hiei zu umrunden. Hamish Fulton ist Künstler. Das Gehen ist seine Arbeit. Es ist ihm eine zeitlich begrenzte Skulptur im Raum. Und später entsteht die eine oder andere Arbeit: Mal ist es ein beschriftetes Foto, mal eine gigantische Zeichnung auf einer Museumswand. Radikal reduzierte Bilder, streng, sachlich, schnörkellos, selbst die Schrift ohne Serifen - bewegende Erkenntnisse eingedampft auf ein, zwei Begriffe. "No walk, no work", sagt Fulton. Weshalb ihm nie der Weg zum Ziel wird, sondern nur das Ziel.
Und nun also der Everest, von dessen Gipfel der nächste Schritt nur noch in den Himmel führt. Es war ein gewagtes Unternehmen. Denn ohne Gipfel würde Fulton leer zurückkommen. Ohne Bild. Ohne Werk. Aussichten interessieren ihn nicht, schon gar nicht Aussichten aus halber Höhe. Er sucht Einsichten. Aber diesmal ging er nicht wie sonst ganz intuitiv an die Arbeit. Oben, in 8850 Meter Höhe, in dünner Luft und bei eisigem Wind, am Morgen des 19. Mai 2009, zwang er sich vielmehr, zwei Sätze zu denken, die er eigens für den Gipfel formuliert hatte: "Respect the mountain" und "Long live the Dalai Lama". Das war sein Ziel gewesen: diese Wünsche hinaufzutragen, sie dem Himmel zu reichen. Als ihm der Sherpa Ang Dorje sagte, es sei Zeit, abzusteigen, nahm er schnell noch zwei Fotos auf - eines mit ausgestreckten Armen, die Kamera auf das eigene Gesicht gerichtet, das hinter der Sauerstoffmaske und den Spiegelungen in der Sonnenbrille verschwindet. Ein überzeugendes Gipfelfoto hat er nicht mit hinuntergebracht.
Seine Expedition auf den Mount Everest bezeichnet Fulton als "The big idea", was viel wörtlicher zu verstehen ist, als man zunächst meint. Denn jede seiner Wanderungen entsteht aus einer Idee, die sich unterwegs in Wirklichkeit verwandelt und im Kunstwerk später zurück in die Idee transponiert wird. Genaugenommen ist Fulton Konzeptkünstler.
Dass er seine Wanderungen verbindet und verknüpft, bis sie sich als eine Art Wegenetz über den ganzen Globus legen, teils in solch akkuraten Linien und rechten Winkeln, dass deren Verlauf wieder selbst zum Kunstwerk wird, ist Teil seines Konzepts. Und so hat er für sein jüngstes Künstlerbuch zehn Unternehmungen im Himalaja, die er zwischen 1975 und 2009 unternommen hat, miteinander verbunden. "The Uncarved Block" hat er es genannt, in Anlehnung an eine taoistische Formulierung aus dem vierten Jahrhundert vor Christus - aber vielleicht auch als Verweis auf die erste Begegnung zwischen einem Bildhauer und seinem Stein, jenen Moment, in dem noch alles denkbar ist, bevor der Künstler beginnt, sein Werk aus dem Material freizuschlagen, besser vielleicht noch: es freizulegen. Dass dies freilich auch ohne Meißel möglich ist, nur durch Gedanken, belegt sein wunderbarer Band Seite für Seite mit zahlreichen Werken und vielen Tagebuchnotizen. Ein großes Kunstbuch. Und ein Bergbuch, wie es kein zweites gibt.
"The Uncarved Block" von Hamish Fulton. Lars Müller Publishers, Baden in der Schweiz 2010. 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 38,95 Euro.
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