From her ancestors' view from Edinburgh's Castle Rock in the eighteenth century to her parents' thwarted ambitions in Ontario, and her own awakening in 1950s Canada, Munro effortlessly weaves fact and myth to create an epic story of past and present, proving that fiction has much to tell us about life.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2008Aus den Winkeln von Wingham wuchs Weltliteratur
"Wozu wollen Sie das wissen?" heißt das neue Buch der Kanadierin Alice Munro. Wer es gelesen hat, kann sich die Frage selbst beantworten. Die Geschichten des Bandes geben reichliche Hinweise.
Jochen Hieber
Der Sommer 1941 beschert der Farmerfamilie Laidlaw aus der tiefsten kanadischen Provinz erstmals nennenswerten Wohlstand - dank einer Geschäftsidee der Mutter. Bisher hatte ihr Mann die selbstgezüchteten Fuchspelze an die Großhändler in Montreal geliefert, war damit finanziell aber nie auf den grünen Zweig gekommen. Ann Laidlaw, eine Frau um die Vierzig, setzt nun energisch auf Selbstvermarktung. Zum Lake Muskoka, einige hundert Meilen vom heimatlichen Wingham entfernt, strömen amerikanische Touristen in Scharen. In einem Hotel am See eröffnet Mrs. Laidlaw kurzerhand einen Verkaufsstand: "Silberfuchs, der kanadische Luxus", steht auf dem Schild, mit dem sie die Kunden lockt. Das Geschäft läuft bestens.
Den Sommertriumph der Mutter schildert die nun siebenundsiebzig Jahre alte Autorin Alice Munro in der Mitte ihres jüngsten Buchs. "Wozu wollen Sie das wissen?" versammelt elf Episoden aus der Familiengeschichte der Laidlaws vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart. Neu im Werk dieser geduldigen Chronistin des Alltags und des einfachen Lebens ist dabei das Ausgreifen in die ferne Vergangenheit und ins alte Europa: Der erste Laidlaw, von dem es mythenumrankte Kunde gibt, ist William, ein Schäfer und Alkoholschmuggler aus dem schottischen Hochland, geboren 1695. Mehr als hundert Jahre später steht dessen Nachfahr James auf den Zinnen der Burg von Edinburgh und macht seinem kleinen Sohn weis, er könne von hier aus bis ins gelobte Amerika schauen - nicht minder eine Schlüsselszene des Buchs als die gleich folgende Überfahrt nach Quebec, aus der Alice Munro ein atmosphärisches Glanzstück macht. Neu ist auch die unverhüllt biographische und autobiographische Perspektive. In den bisher zehn Erzählbänden, die seit Beginn der achtziger Jahre auf Deutsch erschienen sind, haben die fast ausnahmslos weiblichen Hauptfiguren viele Rollen erprobt, um reale Erlebnisse und Erfahrungen der Autorin in erfundene Begebenheiten und Wahrheiten zu verwandeln. "In der Anlage autobiographisch, nicht aber in den Details": So hat Alice Munro einst ihre Prosa "Kleine Aussichten" (1971, deutsch 1983) charakterisiert - die Formel gilt für große Teile des inzwischen imposanten Werks.
Der Schlüssel zu diesem Werk heißt Treue. Gleich der deutsche Debütband "Das Bettlermädchen" von 1981 spielte in der Kleinstadt Hanratty in der Provinz Ontario, in "Kleine Aussichten" hieß der Flecken Jubilee, in "Offene Geheimnisse" (1996) Carstairs. In Varianten war es immer das Dreitausend-Seelen-Nest Wingham. Fast immer war es Toronto, das einen Ausweg aus der Enge verhieß, fast immer machte sich eine Frau auf den Weg ins vermeintlich Freie und Offene, weg vom Dauerzwist mit Mutter oder Stiefmutter, weg aus einer erstarrten Ehe, weg von der Familie auf der Farm am Rande des Städtchens. Mit der Autorin durften die Figuren wachsen, reifer werden, also auch älter. Wie die Autorin kehrten sie ein ums andere Mal in ein realfiktives Wingham zurück, wunderten sich aufs Neue über den Stillstand oder passten sich ihm nun ganz bewusst an.
Es ist eine Literatur des Privaten, die darüber entstand, ein Erzählkosmos, in dem Weltereignisse bestenfalls eine Rolle am Rand spielen und Politik überhaupt keine. Sehr konkret geht es in den Geschichten der Munro zu, zugleich wirken sie, Jahreszahlen hin oder her, zeitlos, genauer: zeitenthoben gegenwärtig. Sehnsüchtig nach Liebe, süchtig nach Sex sind die Stadt-und Landheldinnen all dieser Bücher, Kinder schließen sie sowenig aus wie berufliche Karrieren, nach beidem aber streben sie niemals verbissen. Dass solche Motiv- und Thementreue nicht eintönig wurde, verdankt sich dem ganz unangestrengten, auch deshalb unwiderstehlichen Stil dieser Autorin und einer Erzähltechnik, der vierzig, fünfzig Seiten genügen, um epische Fülle eben nicht bloß zu suggerieren, sondern zu beglaubigen. So wurde aus Winghams Winkeln Weltliteratur. Ob ihrer ganz und gar naturwüchsig erscheinenden, in Wahrheit hochraffinierten Artistik findet Alice Munro mit ihre größten Bewunderer unter Kollegen und Konkurrenten - Richard Ford rühmt sie, Jonathan Franzen singt ihr Hymnen, Bernhard Schlink gerät ins Schwärmen, von Judith Hermann wird sie als Vorbild verehrt.
Selbstverständlich landet auch das neue Buch wieder in Munros "Himmel und Hölle": Huron County, Landkreis Turnberry, dieses Mal ums Jahr 1930 herum. Vorher folgt es den schottischen Laidlaws von Quebec aus ins Innere Kanadas, sieht ihnen beim Urbarmachen des Landes zu, beobachtet sie beim Bau ihrer Häuser und Höfe, registriert ihren Eigensinn und den stillen Stolz darüber, "arme Leute" zu sein, "die mit mehr Intelligenz ausgestattet sind, als sie von ihrem Status her haben dürften". Alice Munros Vater Robert, eben der Pelztierzüchter und späterhin auch Nachtwächter in einer Gießerei, schreibt an einem Roman über die ganze Sippe - unter dem Titel "The McGregors" hat er ihn auch veröffentlicht. Aber, auch dies eine über Jahrhunderte traditierte Regel, geprahlt hat er damit nicht: "Jede Form der Selbstinszenierung war in meiner Familie verpönt."
Im letzten Teil des Bandes erzählt Alice Munro von sich selbst. Und wirkt dabei sofort wie eine ihrer erfundenen Figuren, nimmt also vor allem wahr, was um sie herum geschieht, in welches Beziehungsgeflecht sie gerät und wie sie dabei abschneidet. Zufrieden mit sich ist sie beim Rückblick auf Kindheit und Jugend durchaus nicht, mal nennt sie sich eine "Rädelsführerin und ein Großmaul". Aber auch die späte Kritik der frühen Jahre kommt ohne Selbstqual aus. Die ersten Küsse und deren Komik, der Blick auf den gewalttätigen Vater einer Freundin, die Hochzeit mit zwanzig, die Rückkehr nach Ontario nach dem Scheitern der ersten Ehe, schließlich die Besuche beim alt und krank gewordenen Vater: Was sie erlebte und was ihr widerfuhr, ist nicht eben originell. Originell ist, wie sie darüber schreibt.
Einen Sommer lang, siebzehn Jahre ist sie da, arbeitet Alice Laidlaw in den Ferien als Hausmädchen bei einer steinreichen Familie. Vor Jahren haben die Mountjoys ihre kleine Tochter Jane verloren. Die Beiläufigkeit, mit der Janes Mutter von diesem Tod erzählt, ist überaus bezeichnend für das tief Teilnehmende, zugleich scheinbar Mitleidlose des Munro-Tons: "Sie ist ums Leben gekommen, als mein Mann die Frisierkommode in unserem Schlafzimmer verrückt hat", sagt Mrs. Mountjoy, "eine der Laufrollen ist am Teppich hängengeblieben, und das ganze Ding ist auf sie draufgefallen." Heidi Zerning übrigens hat diesen Ton klangrein ins Deutsche gebracht.
Die allerletzte Geschichte ist eine Hommage an die Landschaft Ontarios, an ihre Hügelgräber, Kiesgruben und Endmöranen. Sie wirkt etwas angestrengt mit ihren Anleihen bei der geographischen Fachliteratur und all dem "Böschungsgeschiebelehm" vom Ende der Eiszeit, den sie mit sich führt. Unbedingt wissen aber will man, was auf den Sommertriumph der keineswegs innig geliebten Mutter folgt. Amerika tritt im Dezember 1941 aktiv in den Zweiten Weltkrieg ein, die "Benzinrationierung" trifft auch die Ferienhotels am Lake Muskoka schwer. Zudem erkrankt Ann Laidlaw unheilbar. Dass sie dem nun für immer brachliegenden Verkaufstalent der Mutter bis über deren Tod hinaus "leise Verachtung", ja "etwas wie Abscheu" entgegenbrachte, findet die schreibende Tochter nun beschämend. Auch darin besteht ihre Größe.
- Alice Munro: "Wozu wollen Sie das wissen?". Elf Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 381 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wozu wollen Sie das wissen?" heißt das neue Buch der Kanadierin Alice Munro. Wer es gelesen hat, kann sich die Frage selbst beantworten. Die Geschichten des Bandes geben reichliche Hinweise.
Jochen Hieber
Der Sommer 1941 beschert der Farmerfamilie Laidlaw aus der tiefsten kanadischen Provinz erstmals nennenswerten Wohlstand - dank einer Geschäftsidee der Mutter. Bisher hatte ihr Mann die selbstgezüchteten Fuchspelze an die Großhändler in Montreal geliefert, war damit finanziell aber nie auf den grünen Zweig gekommen. Ann Laidlaw, eine Frau um die Vierzig, setzt nun energisch auf Selbstvermarktung. Zum Lake Muskoka, einige hundert Meilen vom heimatlichen Wingham entfernt, strömen amerikanische Touristen in Scharen. In einem Hotel am See eröffnet Mrs. Laidlaw kurzerhand einen Verkaufsstand: "Silberfuchs, der kanadische Luxus", steht auf dem Schild, mit dem sie die Kunden lockt. Das Geschäft läuft bestens.
Den Sommertriumph der Mutter schildert die nun siebenundsiebzig Jahre alte Autorin Alice Munro in der Mitte ihres jüngsten Buchs. "Wozu wollen Sie das wissen?" versammelt elf Episoden aus der Familiengeschichte der Laidlaws vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart. Neu im Werk dieser geduldigen Chronistin des Alltags und des einfachen Lebens ist dabei das Ausgreifen in die ferne Vergangenheit und ins alte Europa: Der erste Laidlaw, von dem es mythenumrankte Kunde gibt, ist William, ein Schäfer und Alkoholschmuggler aus dem schottischen Hochland, geboren 1695. Mehr als hundert Jahre später steht dessen Nachfahr James auf den Zinnen der Burg von Edinburgh und macht seinem kleinen Sohn weis, er könne von hier aus bis ins gelobte Amerika schauen - nicht minder eine Schlüsselszene des Buchs als die gleich folgende Überfahrt nach Quebec, aus der Alice Munro ein atmosphärisches Glanzstück macht. Neu ist auch die unverhüllt biographische und autobiographische Perspektive. In den bisher zehn Erzählbänden, die seit Beginn der achtziger Jahre auf Deutsch erschienen sind, haben die fast ausnahmslos weiblichen Hauptfiguren viele Rollen erprobt, um reale Erlebnisse und Erfahrungen der Autorin in erfundene Begebenheiten und Wahrheiten zu verwandeln. "In der Anlage autobiographisch, nicht aber in den Details": So hat Alice Munro einst ihre Prosa "Kleine Aussichten" (1971, deutsch 1983) charakterisiert - die Formel gilt für große Teile des inzwischen imposanten Werks.
Der Schlüssel zu diesem Werk heißt Treue. Gleich der deutsche Debütband "Das Bettlermädchen" von 1981 spielte in der Kleinstadt Hanratty in der Provinz Ontario, in "Kleine Aussichten" hieß der Flecken Jubilee, in "Offene Geheimnisse" (1996) Carstairs. In Varianten war es immer das Dreitausend-Seelen-Nest Wingham. Fast immer war es Toronto, das einen Ausweg aus der Enge verhieß, fast immer machte sich eine Frau auf den Weg ins vermeintlich Freie und Offene, weg vom Dauerzwist mit Mutter oder Stiefmutter, weg aus einer erstarrten Ehe, weg von der Familie auf der Farm am Rande des Städtchens. Mit der Autorin durften die Figuren wachsen, reifer werden, also auch älter. Wie die Autorin kehrten sie ein ums andere Mal in ein realfiktives Wingham zurück, wunderten sich aufs Neue über den Stillstand oder passten sich ihm nun ganz bewusst an.
Es ist eine Literatur des Privaten, die darüber entstand, ein Erzählkosmos, in dem Weltereignisse bestenfalls eine Rolle am Rand spielen und Politik überhaupt keine. Sehr konkret geht es in den Geschichten der Munro zu, zugleich wirken sie, Jahreszahlen hin oder her, zeitlos, genauer: zeitenthoben gegenwärtig. Sehnsüchtig nach Liebe, süchtig nach Sex sind die Stadt-und Landheldinnen all dieser Bücher, Kinder schließen sie sowenig aus wie berufliche Karrieren, nach beidem aber streben sie niemals verbissen. Dass solche Motiv- und Thementreue nicht eintönig wurde, verdankt sich dem ganz unangestrengten, auch deshalb unwiderstehlichen Stil dieser Autorin und einer Erzähltechnik, der vierzig, fünfzig Seiten genügen, um epische Fülle eben nicht bloß zu suggerieren, sondern zu beglaubigen. So wurde aus Winghams Winkeln Weltliteratur. Ob ihrer ganz und gar naturwüchsig erscheinenden, in Wahrheit hochraffinierten Artistik findet Alice Munro mit ihre größten Bewunderer unter Kollegen und Konkurrenten - Richard Ford rühmt sie, Jonathan Franzen singt ihr Hymnen, Bernhard Schlink gerät ins Schwärmen, von Judith Hermann wird sie als Vorbild verehrt.
Selbstverständlich landet auch das neue Buch wieder in Munros "Himmel und Hölle": Huron County, Landkreis Turnberry, dieses Mal ums Jahr 1930 herum. Vorher folgt es den schottischen Laidlaws von Quebec aus ins Innere Kanadas, sieht ihnen beim Urbarmachen des Landes zu, beobachtet sie beim Bau ihrer Häuser und Höfe, registriert ihren Eigensinn und den stillen Stolz darüber, "arme Leute" zu sein, "die mit mehr Intelligenz ausgestattet sind, als sie von ihrem Status her haben dürften". Alice Munros Vater Robert, eben der Pelztierzüchter und späterhin auch Nachtwächter in einer Gießerei, schreibt an einem Roman über die ganze Sippe - unter dem Titel "The McGregors" hat er ihn auch veröffentlicht. Aber, auch dies eine über Jahrhunderte traditierte Regel, geprahlt hat er damit nicht: "Jede Form der Selbstinszenierung war in meiner Familie verpönt."
Im letzten Teil des Bandes erzählt Alice Munro von sich selbst. Und wirkt dabei sofort wie eine ihrer erfundenen Figuren, nimmt also vor allem wahr, was um sie herum geschieht, in welches Beziehungsgeflecht sie gerät und wie sie dabei abschneidet. Zufrieden mit sich ist sie beim Rückblick auf Kindheit und Jugend durchaus nicht, mal nennt sie sich eine "Rädelsführerin und ein Großmaul". Aber auch die späte Kritik der frühen Jahre kommt ohne Selbstqual aus. Die ersten Küsse und deren Komik, der Blick auf den gewalttätigen Vater einer Freundin, die Hochzeit mit zwanzig, die Rückkehr nach Ontario nach dem Scheitern der ersten Ehe, schließlich die Besuche beim alt und krank gewordenen Vater: Was sie erlebte und was ihr widerfuhr, ist nicht eben originell. Originell ist, wie sie darüber schreibt.
Einen Sommer lang, siebzehn Jahre ist sie da, arbeitet Alice Laidlaw in den Ferien als Hausmädchen bei einer steinreichen Familie. Vor Jahren haben die Mountjoys ihre kleine Tochter Jane verloren. Die Beiläufigkeit, mit der Janes Mutter von diesem Tod erzählt, ist überaus bezeichnend für das tief Teilnehmende, zugleich scheinbar Mitleidlose des Munro-Tons: "Sie ist ums Leben gekommen, als mein Mann die Frisierkommode in unserem Schlafzimmer verrückt hat", sagt Mrs. Mountjoy, "eine der Laufrollen ist am Teppich hängengeblieben, und das ganze Ding ist auf sie draufgefallen." Heidi Zerning übrigens hat diesen Ton klangrein ins Deutsche gebracht.
Die allerletzte Geschichte ist eine Hommage an die Landschaft Ontarios, an ihre Hügelgräber, Kiesgruben und Endmöranen. Sie wirkt etwas angestrengt mit ihren Anleihen bei der geographischen Fachliteratur und all dem "Böschungsgeschiebelehm" vom Ende der Eiszeit, den sie mit sich führt. Unbedingt wissen aber will man, was auf den Sommertriumph der keineswegs innig geliebten Mutter folgt. Amerika tritt im Dezember 1941 aktiv in den Zweiten Weltkrieg ein, die "Benzinrationierung" trifft auch die Ferienhotels am Lake Muskoka schwer. Zudem erkrankt Ann Laidlaw unheilbar. Dass sie dem nun für immer brachliegenden Verkaufstalent der Mutter bis über deren Tod hinaus "leise Verachtung", ja "etwas wie Abscheu" entgegenbrachte, findet die schreibende Tochter nun beschämend. Auch darin besteht ihre Größe.
- Alice Munro: "Wozu wollen Sie das wissen?". Elf Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 381 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2008Nichts sieht man als Nebel
Aus Schottland und Kanada: Alice Munros Familiengeschichten
„Während etlicher, längst vergangener Jahre redete und las er so lange über Amerika, bis er todunglücklich wurde”, schrieb im 19. Jahrhundert der schottische Dichter und Romancier James Hogg über seinen Vetter James Laidlaw, „und als er sich seinem sechzigsten Lebensjahre näherte, machte er sich schließlich auf den Weg, um in der neuen Welt für kurze Frist ein Heim und dann ein Grab zu finden.” Beide waren Vorfahren der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro, die in den elf Erzählungen dieses Bandes auf ihre Familiengeschichte und die eigene Biographie zurückgreift.
Dass in den frühen Überlieferungen Alkoholschmuggel und Aberglaube eine wichtige Rolle spielen, verwundert nicht. Doch gibt es den Taten des legendären William Laidlaw, der nach seinem Wohnort Will O’Phaup genannt wurde, etwas Exotisches, dass er keinen Whisky, sondern französischen Cognac in das Kirchspiel Ettrick brachte. Mag es dessen inspirierende Wirkung gewesen sein oder ein ungehobenes literarisches Talent – eines Abends wollte Will eine „muntere Schar seltsamer Wesen” gesehen haben, grün gekleidete Weiblein von der Größe zweijähriger Kinder, die um einen winzigen Ofen versammelt sangen: „Will O’Phaup, Will O’Phaup, Will O’Phaup.”
Nur schwer scheinen solche Erlebnisse mit den Doktrinen der Presbyterianischen Kirche Schottlands vereinbar, als deren Prediger zu Wills Zeiten ein gewisser Thomas Boston wirkte, dessen Predigen auch der junge Will, obwohl „nahezu ein Heide”, an jedem Sonntag lauschte. Aus dieser Melange schöpfte auch Walter Scott, dem eine Nachfahrin Wills volkstümliche Balladen vortrug, um sich später empört über deren Druck zu äußern: „Sie wurden zum Singen gemacht und nicht zum Drucken. Und nun werden sie nimmermehr gesungen werden.”
Über Jahrhunderte hin bewegen sich Munros Erzählungen entlang dieser Übergangslinie von mündlicher, privat verschriftlichter und schließlich publizierter Überlieferung. Grabschriften, Tagebücher und Briefe sind die Quellen, bis dann das persönliche Erleben der 1931 in Ontario geborenen Autorin zur Grundlage des Erzählens wird. Dabei verschiebt sich der Schauplatz aus der schottischen Provinz in die Weiten Nordamerikas, wo Grabsteine davon berichten, wie weit das Glück den Menschen gefolgt ist, die es dort gesucht haben.
Gebrechliche alte Leute
Auch in literarischer Hinsicht gibt es hier einen Übergang von einer mythischen Zeit, in der noch Elfen erlaubt sind, über die weiten Felder, die sich zwischen den kargen Mitteilungen aus Tagebüchern und Briefen auftun, bis hin zum autobiographisch geprägten Schreiben, bei dem Phantasie zum Selbstbetrug werden könnte. „Vetter John, einer von den dreien, die 1851 herkamen, starb am 11. April 1907”, heißt es in den Lebenserinnerungen eines alten Mannes aus der Pioniergeneration im kanadischen Landkreis Morris: „Vetter Thomas und ich sind jetzt (1907) von denen, die als Erste nach Morris kamen, als Einzige noch am Leben.” Dann folgt ein Satz wie ein Epitaph: „Und dieser Ort, der uns jetzt kennt, wird uns bald nicht mehr kennen, denn wir sind gebrechliche alte Leute.”
Das Privileg, in eigener Sache sub specie aeternitatis zu schreiben, hat eine Autorin unserer Tage kaum, denn die Erzählungen der Munro richten sich an eine literarische Öffentlichkeit und nicht an den Wanderer, der vielleicht einmal nach Morris oder Sparta kommt. Das Leben auf einer Farm, deren Betrieb nur dank der unternehmerischen Mutter halbwegs aufrechterhalten wird, deren Pelztierzucht, erste Liebesenttäuschungen und Erfahrungen als Haushaltshilfe bei Leuten, die es besser getroffen haben – Alice Munro zeichnet hier das Bild ihrer Jugend im Schatten der Weltwirtschaftskrise. Später dann die eigene Heirat, Krankheit der Mutter, ein Knoten in der Brust und ein Grabhügel in der Titelgeschichte – auf dem langen Faden der Familiengeschichte verlieren deren einzelne Perlen ihre Eigenständigkeit, ihre individuellen Konturen: „Man gerät in etwas hinein”, sagt der Vater der Erzählerin. „Man macht sich gar nicht recht klar, in was man hineingerät.”
Das ist vage, aber „nicht so leichthin” gesagt, denn nur selten gelingt es den Menschen sich aus diesem „etwas” zu befreien oder sich darüber zu erheben. Einmal immerhin besteigen ein paar betrunkene Schotten ein Plateau oberhalb der Burg von Edinburgh. Unter ihnen werden Häuser und Kirchtürme von der Sonne beschienen, und hinter einer breiten, silbrigen Wasserfläche „erstreckt sich blassgrünes und graues Land, teils im Sonnenlicht, teils im Schatten, ein Land so zart wie Nebel, der in den Himmel gehoben wurde”.
Das, sagt ein Vorfahre der Munro, sei Amerika. „Allerdings nur ein bisschen davon, nur die Küste.”
Das Meer, meint einer seiner Trinkkumpane, sehe gar nicht so breit aus, wie er gedacht habe, doch ein Dritter weiß warum: Das ist die Wirkung der Höhe, auf der wir sind. Die Höhe verringert dessen Breite.” Überhaupt sei heute ein glücklicher Tag für solche Aussicht, schließt darauf der Erste – und ein außergewöhnlicher: „Tag um Tag kann man heraufsteigen und sieht nichts als Nebel.” ULRICH BARON
ALICE MUNRO: Wozu wollen Sie das wissen? Elf Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zernig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 381 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Aus Schottland und Kanada: Alice Munros Familiengeschichten
„Während etlicher, längst vergangener Jahre redete und las er so lange über Amerika, bis er todunglücklich wurde”, schrieb im 19. Jahrhundert der schottische Dichter und Romancier James Hogg über seinen Vetter James Laidlaw, „und als er sich seinem sechzigsten Lebensjahre näherte, machte er sich schließlich auf den Weg, um in der neuen Welt für kurze Frist ein Heim und dann ein Grab zu finden.” Beide waren Vorfahren der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro, die in den elf Erzählungen dieses Bandes auf ihre Familiengeschichte und die eigene Biographie zurückgreift.
Dass in den frühen Überlieferungen Alkoholschmuggel und Aberglaube eine wichtige Rolle spielen, verwundert nicht. Doch gibt es den Taten des legendären William Laidlaw, der nach seinem Wohnort Will O’Phaup genannt wurde, etwas Exotisches, dass er keinen Whisky, sondern französischen Cognac in das Kirchspiel Ettrick brachte. Mag es dessen inspirierende Wirkung gewesen sein oder ein ungehobenes literarisches Talent – eines Abends wollte Will eine „muntere Schar seltsamer Wesen” gesehen haben, grün gekleidete Weiblein von der Größe zweijähriger Kinder, die um einen winzigen Ofen versammelt sangen: „Will O’Phaup, Will O’Phaup, Will O’Phaup.”
Nur schwer scheinen solche Erlebnisse mit den Doktrinen der Presbyterianischen Kirche Schottlands vereinbar, als deren Prediger zu Wills Zeiten ein gewisser Thomas Boston wirkte, dessen Predigen auch der junge Will, obwohl „nahezu ein Heide”, an jedem Sonntag lauschte. Aus dieser Melange schöpfte auch Walter Scott, dem eine Nachfahrin Wills volkstümliche Balladen vortrug, um sich später empört über deren Druck zu äußern: „Sie wurden zum Singen gemacht und nicht zum Drucken. Und nun werden sie nimmermehr gesungen werden.”
Über Jahrhunderte hin bewegen sich Munros Erzählungen entlang dieser Übergangslinie von mündlicher, privat verschriftlichter und schließlich publizierter Überlieferung. Grabschriften, Tagebücher und Briefe sind die Quellen, bis dann das persönliche Erleben der 1931 in Ontario geborenen Autorin zur Grundlage des Erzählens wird. Dabei verschiebt sich der Schauplatz aus der schottischen Provinz in die Weiten Nordamerikas, wo Grabsteine davon berichten, wie weit das Glück den Menschen gefolgt ist, die es dort gesucht haben.
Gebrechliche alte Leute
Auch in literarischer Hinsicht gibt es hier einen Übergang von einer mythischen Zeit, in der noch Elfen erlaubt sind, über die weiten Felder, die sich zwischen den kargen Mitteilungen aus Tagebüchern und Briefen auftun, bis hin zum autobiographisch geprägten Schreiben, bei dem Phantasie zum Selbstbetrug werden könnte. „Vetter John, einer von den dreien, die 1851 herkamen, starb am 11. April 1907”, heißt es in den Lebenserinnerungen eines alten Mannes aus der Pioniergeneration im kanadischen Landkreis Morris: „Vetter Thomas und ich sind jetzt (1907) von denen, die als Erste nach Morris kamen, als Einzige noch am Leben.” Dann folgt ein Satz wie ein Epitaph: „Und dieser Ort, der uns jetzt kennt, wird uns bald nicht mehr kennen, denn wir sind gebrechliche alte Leute.”
Das Privileg, in eigener Sache sub specie aeternitatis zu schreiben, hat eine Autorin unserer Tage kaum, denn die Erzählungen der Munro richten sich an eine literarische Öffentlichkeit und nicht an den Wanderer, der vielleicht einmal nach Morris oder Sparta kommt. Das Leben auf einer Farm, deren Betrieb nur dank der unternehmerischen Mutter halbwegs aufrechterhalten wird, deren Pelztierzucht, erste Liebesenttäuschungen und Erfahrungen als Haushaltshilfe bei Leuten, die es besser getroffen haben – Alice Munro zeichnet hier das Bild ihrer Jugend im Schatten der Weltwirtschaftskrise. Später dann die eigene Heirat, Krankheit der Mutter, ein Knoten in der Brust und ein Grabhügel in der Titelgeschichte – auf dem langen Faden der Familiengeschichte verlieren deren einzelne Perlen ihre Eigenständigkeit, ihre individuellen Konturen: „Man gerät in etwas hinein”, sagt der Vater der Erzählerin. „Man macht sich gar nicht recht klar, in was man hineingerät.”
Das ist vage, aber „nicht so leichthin” gesagt, denn nur selten gelingt es den Menschen sich aus diesem „etwas” zu befreien oder sich darüber zu erheben. Einmal immerhin besteigen ein paar betrunkene Schotten ein Plateau oberhalb der Burg von Edinburgh. Unter ihnen werden Häuser und Kirchtürme von der Sonne beschienen, und hinter einer breiten, silbrigen Wasserfläche „erstreckt sich blassgrünes und graues Land, teils im Sonnenlicht, teils im Schatten, ein Land so zart wie Nebel, der in den Himmel gehoben wurde”.
Das, sagt ein Vorfahre der Munro, sei Amerika. „Allerdings nur ein bisschen davon, nur die Küste.”
Das Meer, meint einer seiner Trinkkumpane, sehe gar nicht so breit aus, wie er gedacht habe, doch ein Dritter weiß warum: Das ist die Wirkung der Höhe, auf der wir sind. Die Höhe verringert dessen Breite.” Überhaupt sei heute ein glücklicher Tag für solche Aussicht, schließt darauf der Erste – und ein außergewöhnlicher: „Tag um Tag kann man heraufsteigen und sieht nichts als Nebel.” ULRICH BARON
ALICE MUNRO: Wozu wollen Sie das wissen? Elf Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zernig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 381 Seiten, 19,90 Euro.
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