Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2017Du sollst Sex sehen
Ein Spanner kauft sich ein Motel. Ein Journalist besucht ihn. Es sind wahre Beobachtungen in Amerika
Gerald Foos ist ein Spanner: Er beobachtet seine Mitmenschen, ohne dass die davon wissen, und am allerliebsten beobachtet er sie beim Sex. Es gibt Millionen solcher Männer, aber Foos ist wahrscheinlich der einzige, der sein Hobby zum Beruf und zur Berufung gemacht hat. Im Jahr 1969 kaufte Foos das "Manor Motel" in Colorado und sägte in zwölf der einundzwanzig Zimmer Löcher in die Decke, die sich als Lüftungsschlitze tarnten. Von dem Dachboden spähte er seine Gäste aus und führte Buch über ihr Verhalten, was ihn über die Jahre zu einem erstaunlich toleranten, aber auch latent menschenfeindlichen Mann werden ließ.
Nur seiner Frau vertraute Foos sich jemals an - und dem Journalisten Gay Talese. Der Autor, Jahrgang 1932, war und ist ein Star des New Journalism. Er habe erfahren, so schrieb ihm 1980 Spanner Foos, dass Talese ein Buch über Sex in Amerika plane. In der Tat: "Du sollst begehren" war schon vor der Veröffentlichung berühmt, Hollywood bot die Rekordsumme von 2,5 Millionen Dollar für die Filmrechte - mehr als für "Der Weiße Hai", wie Talese bemerkt. Doch aus der Geschichte von Foos und seinem Voyeur-Motel wurde kein vergleichbarer Stoff. "Der Voyeur" erschien erst letztes Jahr in Amerika und nun im neuen Tempo-Imprint von Hoffmann und Campe auf Deutsch.
Warum? Was Foos tat, war strafbar. Außerdem wusste Talese, dass es mit der Akkuratesse des selbsternannten Sexualforschers nicht ganz so weit her war: Foos' Behauptung, er habe das Motel 1966 gekauft, widerlegte der Reporter. Foos erwarb es erst drei Jahre später. Und die Beobachtungen aus den drei Jahren, hat Foos die etwa nur erfunden? Auch einen Mord, den Foos beobachtet haben will, kann Talese nicht verifizieren. Eigentlich müsste der faktenstolze Journalist jetzt nachhaken, aber das tut er nicht. Der lose Briefwechsel der beiden zieht sich hin, doch was soll Talese anfangen mit einer Geschichte, die er nicht veröffentlichen kann? Fiktion mit falschen Namen und erfundenen Begebenheiten schreibe er nun einmal nicht. Die Neugier ist stärker: Talese fliegt 1980 nach Colorado und steigt auf den Dachboden des Motels.
Es ist genau so, wie Foos es beschrieben hat, sie spannen gemeinsam. Gay Talese mag es nicht, seine Krawatte abzulegen, und so baumelt sie verdächtig von der Decke. Es ist ein schönes Bild dafür, was Talese mit "Der Voyeur" passiert: Er legt seinen gutgebügelten Reporteranzug niemals ab. Ausführlich protokolliert Talese, was Foos ihn wissen lässt, was er ihm über seine Lebensgeschichte verrät und wie sehr er seiner Jugendliebe nachhängt. Es ist der Stoff für einen Roman, aber Talese schafft es nicht, eine interessante und wahrhaftige Erzählung daraus zu formen. Faszinierend sind nicht seine Sentenzen, sondern die Beobachtungen des Spanners, die achtzig Prozent des Buches ausmachen, weil sie tatsächlich etwas verraten über die sexuellen Vorlieben der Amerikaner in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren und den Wandel in den Schlafzimmern, der den in der Gesellschaft widerspiegelt. Man lernt aus solchen etwas verunglückten Büchern oft mehr als aus den großen Meisterwerken.
Boris Pofalla
Gay Talese: "Der Voyeur". Tempo, 224 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Spanner kauft sich ein Motel. Ein Journalist besucht ihn. Es sind wahre Beobachtungen in Amerika
Gerald Foos ist ein Spanner: Er beobachtet seine Mitmenschen, ohne dass die davon wissen, und am allerliebsten beobachtet er sie beim Sex. Es gibt Millionen solcher Männer, aber Foos ist wahrscheinlich der einzige, der sein Hobby zum Beruf und zur Berufung gemacht hat. Im Jahr 1969 kaufte Foos das "Manor Motel" in Colorado und sägte in zwölf der einundzwanzig Zimmer Löcher in die Decke, die sich als Lüftungsschlitze tarnten. Von dem Dachboden spähte er seine Gäste aus und führte Buch über ihr Verhalten, was ihn über die Jahre zu einem erstaunlich toleranten, aber auch latent menschenfeindlichen Mann werden ließ.
Nur seiner Frau vertraute Foos sich jemals an - und dem Journalisten Gay Talese. Der Autor, Jahrgang 1932, war und ist ein Star des New Journalism. Er habe erfahren, so schrieb ihm 1980 Spanner Foos, dass Talese ein Buch über Sex in Amerika plane. In der Tat: "Du sollst begehren" war schon vor der Veröffentlichung berühmt, Hollywood bot die Rekordsumme von 2,5 Millionen Dollar für die Filmrechte - mehr als für "Der Weiße Hai", wie Talese bemerkt. Doch aus der Geschichte von Foos und seinem Voyeur-Motel wurde kein vergleichbarer Stoff. "Der Voyeur" erschien erst letztes Jahr in Amerika und nun im neuen Tempo-Imprint von Hoffmann und Campe auf Deutsch.
Warum? Was Foos tat, war strafbar. Außerdem wusste Talese, dass es mit der Akkuratesse des selbsternannten Sexualforschers nicht ganz so weit her war: Foos' Behauptung, er habe das Motel 1966 gekauft, widerlegte der Reporter. Foos erwarb es erst drei Jahre später. Und die Beobachtungen aus den drei Jahren, hat Foos die etwa nur erfunden? Auch einen Mord, den Foos beobachtet haben will, kann Talese nicht verifizieren. Eigentlich müsste der faktenstolze Journalist jetzt nachhaken, aber das tut er nicht. Der lose Briefwechsel der beiden zieht sich hin, doch was soll Talese anfangen mit einer Geschichte, die er nicht veröffentlichen kann? Fiktion mit falschen Namen und erfundenen Begebenheiten schreibe er nun einmal nicht. Die Neugier ist stärker: Talese fliegt 1980 nach Colorado und steigt auf den Dachboden des Motels.
Es ist genau so, wie Foos es beschrieben hat, sie spannen gemeinsam. Gay Talese mag es nicht, seine Krawatte abzulegen, und so baumelt sie verdächtig von der Decke. Es ist ein schönes Bild dafür, was Talese mit "Der Voyeur" passiert: Er legt seinen gutgebügelten Reporteranzug niemals ab. Ausführlich protokolliert Talese, was Foos ihn wissen lässt, was er ihm über seine Lebensgeschichte verrät und wie sehr er seiner Jugendliebe nachhängt. Es ist der Stoff für einen Roman, aber Talese schafft es nicht, eine interessante und wahrhaftige Erzählung daraus zu formen. Faszinierend sind nicht seine Sentenzen, sondern die Beobachtungen des Spanners, die achtzig Prozent des Buches ausmachen, weil sie tatsächlich etwas verraten über die sexuellen Vorlieben der Amerikaner in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren und den Wandel in den Schlafzimmern, der den in der Gesellschaft widerspiegelt. Man lernt aus solchen etwas verunglückten Büchern oft mehr als aus den großen Meisterwerken.
Boris Pofalla
Gay Talese: "Der Voyeur". Tempo, 224 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
This book flipped nearly all of my switches as a reader. It's a strange, melancholy, morally complex, grainy, often appalling and sometimes bleakly funny book...You will often feel shabby while reading The Voyeur's Motel. You are meant to. It's an intense book that reminds us that a problem of being alive is seeing things you hate but are attracted to anyway. It's possible to admire it while wanting to pluck out your own prying eyes. New York Times