Produktdetails
- Verlag: GB Gardners Books / Little, Brown Book Group
- Seitenzahl: 650
- Englisch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 1028g
- ISBN-13: 9780316908672
- Artikelnr.: 25554678
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2001Selbstmorde bei Nordmeertief? Demokratieverfall bei Erderwärmung?
Im Normalfall spielt das Wetter verrückt: Die Irrtümer der Klimadeterministen / Von Nico Stehr
Klima und Wetter haben Phantasie und Ängste der Menschen schon immer beflügelt, nicht erst seit den aktuellen Sorgen über eine von uns veränderte Umwelt. Zumindest in der westlichen Kultur ist es allgegenwärtig, wie Clarence Glacken in seinem Klassiker zum Verhältnis von Natur und Kultur, "Traces on the Rhodian Shore", beschreibt. Demnach gab es neben der Einsicht, daß Klima eine Schlüsselbedingung für die menschliche Existenz sei, auch stets die Vorstellung, daß das Klima für die besondere Entwicklung, Leistungen oder Rückständigkeit der Kulturen verantwortlich sei und daß der Mensch durch sein Wirken das Klima verändere. In gar nicht so weit zurückliegenden Perioden gehörte die Beschäftigung mit dem Klima oder Wetter und seinem Einfluß auf Mensch, Gesellschaft, Staatsformen, Religionen, die Aktienmärkte, Krankheitssymptome, Sexualleben, Wahrheit und Moral zu den wichtigsten Fragen. Überlegungen zu gesundheitlichen Rückwirkungen des Klimas auf die Psyche und das physische Wohlbefinden des Menschen sind in allen westlichen Kulturen weit verbreitet.
Freilich ist auch die Verwechslung von Klima und Wetter nicht ungewöhnlich. Wetterereignisse beziehen sich auf eine nur kurze Dauer, also auf Ereignisse, die nur Tage oder allenfalls Wochen anhalten. Klimaforscher sind über diese Vermengung eher ungehalten. Während das Vertrauen der Menschen in die Normalität des Klimas groß ist, kann man dies für Wetterphänomene nicht unterstellen. Im Gegenteil, beim Wetter und bei den Wetterprognosen regiert eher Mißtrauen. Zum alltäglichen, unverfänglichen und über praktisch alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg diskutierten Thema Wetter, das unser Wohlbefinden, wenn auch häufig nur oberflächlich, mitbestimmt, kommt heute die professionelle Neugier an Klima und Wetter. Zum beiläufigen Wettergespräch gesellt sich ein Thema im modernen Gewand - das Klimagespräch. Solche Gespräche bestehen oft aus Klagen, daß das "Wetter" aus ganz unterschiedlichen Gründen - seien es die Atombombenversuche in den fünfziger Jahren, die Weltraumfahrt in den siebziger Jahren und die brennenden Ölfelder in Kuweit in den achtziger Jahren - schlechter geworden sei. Damit ist allerdings die Statistik des Wetters gemeint, also das Klima. Die Wahrnehmung besteht meist darin, die Stürme verliefen heftiger, das Wetter sei weniger gut vorherzusagen und die jahreszeitliche Ausprägung verwische sich. Neben diese allgemeinen Klagen tritt zunehmend die Feststellung, die Menschheit sei dabei, das Klima und damit ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören oder doch zumindest zu beschädigen.
Wer Émile Durkheims Studie "Der Selbstmord", die zuerst 1897 erschien, gelesen hat, kennt seine in der Zwischenzeit zum Paradigma der modernen Soziologie geronnene methodische Beweisführung, daß scheinbar völlig idiosynkratische, individuelle Handlungen soziale Phänomene sind beziehungsweise daß sich ihre Verteilung nicht auf physische oder sogar kosmische Ursachen zurückführen läßt. Viele der Wissenschaftlerkollegen seiner Zeit waren dagegen überzeugt, daß es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Klima oder dem Wetter und der Zahl der Selbstmorde gebe. Durkheims Urteil ist streng: "Man muß die Ursache für die verschieden starke Neigung der Völker zum Selbstmord im Wesen ihrer Zivilisation und deren Verbreitung in den verschiedenen Ländern suchen und nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Eigenschaften des Klimas." Wo der Umweltdeterminismus aufhört, fangen sozialwissenschaftliche Erklärungen an.
Durkheims Arbeiten zementierten die Trennung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften. Seine Bemühungen, die Fehlschlüsse des Umweltdeterminismus zu überwinden, fanden in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen damals eine nur geringe intellektuelle Resonanz. Die eigentliche wissenschaftliche Blüte des Klimadeterminismus und der in mancher Hinsicht verwandten, aber auch konkurrierenden Rassenwissenschaft erfolgte erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Idee des einst dominanten Klima- beziehungsweise Geodeterminismus als eine einfältige, schablonenhafte Sicht der Welt. Unter seriösen Wissenschaftlern war der intellektuelle Anreiz für eine Weiterentwicklung dieser Paradigmen gering; das gleiche gilt für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik.
Heute erleben wir erstaunlicherweise eine Rückkehr des Klimadeterminismus in die wissenschaftliche Arena. Ideengeschichtlich gesehen, ist ein großer Teil der heutigen Klimafolgenforschung unverfälschter, wenn auch verfeinerter Klimadeterminismus. Der Klimadeterminismus behauptet schlicht und einfach, wie schicksalhaft die Produkte unseres Klimas seien. Die politisch relevante Klimafolgenforschung bediente sich in den letzten Jahren allzuoft des "Dummer-Bauer-Ansatzes", wonach veränderte Klimabedingungen auf eine unveränderliche soziale und wirtschaftliche Realität treffen und daher in ihren Folgen berechenbar sind und katastrophal werden. So plädiert etwa der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes dafür, daß es an der Zeit sei, klimatische und geographische Faktoren im Kontext von vergleichenden Untersuchungen des Wohlstands und der Armut von Nationen als realitätskonforme Dimension zu rehabilitieren. Der Anthropologe Brian Fagan sieht im Klima den Schlüssel zur Weltgeschichte und die Erklärung für den Lauf der Zivilisationen. Klimatische Anomalien sorgten nicht nur für ungewöhnliche Wetterlagen, sondern stünden in einer engen Beziehung zu ungewöhnlichen historischen Ereignissen. In der modernen Klimadiskussion werden entsprechend Szenarien erarbeitet und quantitative Modelle konstruiert, in denen die Wirkung von globalen Klimaänderungen auf Wasserverbrauch, Lebenserwartung, Biosphäre, Landwirtschaft, Tourismus in fünfzig und mehr Jahren abgeschätzt werden. Allerdings wird dabei oft nur der Faktor des dynamischen Klimas berücksichtigt, nicht aber kaum antizipierbare politische und ökonomische Veränderungen, technische Möglichkeiten oder der Wertewandel - Veränderungen, die aller Erfahrung nach von größerer Bedeutung sein werden als alle Veränderungen in der natürlichen Umwelt.
Die Auswirkungen des Klimas auf das körperliche und seelische Befinden und die Weltbilder des Menschen, sowohl in der eigenen Gesellschaft als auch unter den Bewohnern benachbarter und entfernterer Regionen, wurde wohl erstmals von Hippokrates von Cos in seinem Werk "Luft, Wasser und Ort" ausführlicher erörtert. Wenig später machte Aristoteles das Klima als Ursache für die Überlegenheit der Griechen über die Barbaren aus und bestätigte den typischerweise geäußerten Verdacht, das eigene Klimas sei dem fremder Landstriche überlegen. In der Aufklärung wurde der Klimadeterminismus von Denkern wie Montesquieu oder Hume verfeinert, und die modernen Gesellschaftswissenschaften wie etwa die Geographie haben sich erst vor wenigen Jahrzehnten von diesen Ideen frei gemacht. So war Montesquieu davon überzeugt, daß die beobachtbare kulturelle und ethnische Vielfalt der Menschen auf der Erde Resultat der ihnen jeweils eigenen klimatischen Bedingungen sei. Denker wie Herder, Falconer und Montaigne führten die alten Theorien zu neuen Höhepunkten, so daß der Klimadeterminismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Lehrbuch- und Lexikonwissen gehörte. Die Unterschiede zwischen Völkern wurden ganz selbstverständlich auf Klimafaktoren zurückgeführt. Ein englischer Meteorologe schrieb noch dieser Tage, man könne sich zwar nicht sicher sein, aber vieles weise doch darauf hin, daß ein mildes Klima in mittleren Breiten dazu beitrage, eine tolerantere Gesellschaft hervorzubringen.
Die Entwicklung des Klimadeterminismus als einflußreiche wissenschaftliche Denkrichtung in den Sozial- und Naturwissenschaften erreichte ihren bisherigen Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. In Untersuchungen des Einflusses der natürlichen Umwelt auf den Ablauf der menschliche Geschichte entwickelten Naturwissenschaftler, Anthropologen, Soziologen, Physiologen und Geographen einen zunehmend quantitativ-empirischen und daher als "objektiv" geltenden Ansatz des sozialen und psychologischen Stellenwerts des Klimas. Einige der einprägsamsten und mit großer Überzeugung vorgebrachten Stellungnahmen zu den umfassenden, schicksalhaften Klimafolgen wurden denn auch in dieser Zeit veröffentlicht, obwohl sie letztendlich nur jahrhundertealte Behauptungen und Vorurteile wiederholten. Man lese etwa im einflußreichen Werk des Sozialpsychologen Willy Hellpach: "Je im Nordteil eines Erdraums überwiegen die Wesenszüge der Nüchternheit, Herbheit, Kühle, Gelassenheit, der Astrengungsgwilligkeit, Geduld, Zähigkeit, Strenge, des konsequenten Verstandes- und Willenseinsatzes - je im Südteil die Wesenszüge der Lebhaftigkeit, Erregbarkeit, Triebhaftigkeit, der Gefühls- und Phantasiesphäre, des behäbigeren Gehenlassens oder augenblicklichen Aufflammens. Innerhalb einer Nation sind ihre nördlichen Bevölkerungen praktischer, verläßlicher, aber unzugänglicher, ihre südlicheren musischer, zugänglicher (gemütlicher, liebenswürdiger, gesprächiger), aber unbeständiger."
Ein prominenter Vertreter des Klimadeterminismus war Ellsworth Huntington, der bekannteste amerikanische Geograph der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. In seinen Untersuchungen der Interaktion von Klima und Gesellschaft gab sich Huntington mit rein beschreibenden Dokumentationen oder erklärenden Ansätzen nicht zufrieden. Er plädierte stets öffentlich dafür, seine Schlußfolgerungen auch in die Tat umzusetzen. So empfahl er zum Beispiel kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, den Sitz der Vereinten Nationen in Newport, Rhode Island, zu errichten, weil dort das für den Menschen bestverträgliche Klima vorherrsche. Seine volle Überzeugungskraft entwickelt dieser Klimadeterminismus aber erst durch seine ausgeprägte Verallgemeinerung. Nachdem Huntington empirisch festgestellt hatte, daß in den Neuengland-Staaten der Vereinigten Staaten in Fabriken die höchste Produktivität beobachtet werde, wenn Außentemperaturen um 65° Fahrenheit herum herrschten, schloß er, daß 65° Fahrenheit ein Optimum sei - unabhängig vom Ort, von der gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung. Sofern die Klimaverhältnisse im Jahresverlauf in einem nicht zu breiten Band um dieses Optimum schwankten und die Wetterverhältnisse nicht zu monoton seien, werde von optimaler klimatischer Energie gesprochen. Diese klimatische Energie erlaube oder bremse die zivilisatorische Entwicklung.
Klimadeterministen favorisierten eine Art Wesenserkenntnis des Klimas. Dem Klima werden bestimmte situationsunabhängige oder überpersönliche Eigenschaften zugeschrieben. Diese werden dafür verantwortlich gemacht, daß das Klima in fast jedem historischen und gesellschaftlichen Kontext eine umfassende Machtstellung über situationsspezifische, historische Prozesse einnimmt. Im Rahmen eines solchen Verständnisses von natürlichem Klima ist die Logik der jeweiligen gesellschaftlichen Situation für die Erklärung ihrer Besonderheiten und ihrer Entwicklungslinien nur von geringer Bedeutung.
Tatsächlich muß die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Emanzipation des Menschen von Klima- und Wetterbedingungen begriffen werden. Dieser Trend eskaliert in den letzten zwei Jahrhunderten, zumal sich parallel zur Veränderung von "natürlichen" Handlungsbedingungen primordialer Gemeinschaften, die sich auf Familienbande, Verwandtschaftsbeziehungen, Clan stützen, hin zu einer zunehmend gesellschaftlich konstruierten sozialen Welt von Institutionen, die wiederum die Identität des einzelnen bestimmen, ein Wandel von einer natürlichen Umwelt hin zu einer physisch rekonstruierten Umwelt des Menschen vollzieht. Heute verbringen die Menschen die weitaus größte Zeit umgeben von der Haut solcher planvoll konstruierter physischer Kontexte.
Bedingung dafür sind zum Beispiel bestimmte Erfindungen, wie etwa die der Klimaanlangen und ihre verbreitete Anwendung. Die Migration von Millionen von Amerikanern in den letzten Jahrzehnten in den amerikanischen Süden und Südwesten ist auch ein Beweis dafür, daß der Mensch auf diese Weise mikroklimatische Bedingungen konstruiert, die es ihm erlauben, unter ihm genehmen, kulturell mitbestimmten Umständen zu existieren. Das heißt aber nicht, daß Wetterbedingungen ohne jeden Einfluß auf die Gesellschaft und Individuen sind. Allerdings findet die Verbindung des Wetter- und Klimasystems mit der Gesellschaft vor allem über extreme Anomalien statt. Extreme Kälte- oder Hitzegrade, Dürren, Überschwemmungen an einem bestimmten Ort sind solche Signale. Ob sie allerdings heute ganze Zivilisationen bedrohen können, wie Brian Fagan unterstellt, ist fraglich. Daß das Wetter verrückt spielt, ist allerdings normal.
Das Klima, das wir alltäglich erleben, ist ein unveränderliches Klima, das zwar dann und wann bedrohliche Extreme wie Sturmfluten und Dürren eintreten läßt, das aber dennoch unveränderlich ist. Jede Katastrophe kann als "normal" angesehen werden,, nach jeder stellen sich wieder normale Bedingungen her. Eine Hundertjahresflut wie jene in den Niederlanden 1953 muß im Durchschnitt alle hundert Jahre einmal auftreten; wenn nicht, dann stimmt etwas nicht mit dem Klima oder mit der Berechnungsmethode dieser Fluten. Mit anderen Worten: Wir haben Grund zur Beunruhigung nur, wenn das Wetter noch "verrückter spielt" als gewöhnlich oder wenn es gar nicht mehr verrückt spielt. Der Normalfall ist, daß es verrückt spielt. Das Klima, das wir erfahren, hat eine wichtige Eigenschaft, nämlich seine Zuverlässigkeit oder Normalität. Diese Zuverlässigkeit erlaubt es, mit dem Klima, seinem Reiz und seiner Unbill vernünftig umzugehen. Gleichzeitig ist die Zuverlässigkeit des Klimas Ursache dafür, daß die meisten Menschen keinen Grund haben, dem Klima nicht zu vertrauen.
Das alltägliche Verständnis und das wissenschaftliche Begreifen von Wetter und Klima sind in vielerlei Hinsicht inkongruent. Auf der Laienebene dominiert die Vorstellung von der Unveränderlichkeit und Regelmäßigkeit des Klimas. Jede Abweichung von dieser Regelmäßigkeit weist in diesen Vorstellungen auf die Gegenwart eines "Verursachers" hin. Nach dieser Lesart ist das gegenwärtige Klima optimal für die Menschheit, während jede Abweichung negative, wenn nicht sogar katastrophale Folgen nach sich zieht. Im wissenschaftlichen Verständnis ist Klima aber gerade nicht konstant, sondern hochveränderlich, vor allem aufgrund seiner nichtlinearen Dynamik, so daß Abweichungen von der Regelmäßigkeit erstens die Regel sind, und diese Abweichungen, zweitens, meist nicht durch menschliche oder kosmische Einflüsse hervorgerufen sind. Im Gefolge dieses Zwiespalts ist ein rationaler Umgang mit dem angekündigten anthropogenen Klimawandel schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Der wissenschaftliche Begriff des Klimas hat im Laufe der Geschichte zudem signifikante Änderungen durchgemacht. Früher war Klimatologie nur eine Art beschreibende Hilfswissenschaft der Geographie, in deren Mittelpunkt des Interesses die Wirkung des mehr oder minder statischen Klimas auf den Menschen in physiologischer und psychologischer Hinsicht stand. Das globale Klima war einfach die Summe der regionalen Klimate. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wechselten die Berechtigungen, über die zu erwartenden Wettererscheinungen und ihre dynamischen Hintergründe zu informieren. Nach den Landwirten, Fischern, Soldaten, Seefahrern und Bauherren kamen die Meteorologen. In der Nachkriegszeit kamen Physiker und Mathematiker hinzu, und immer komplexer werdende Klimamodelle konnten berechnet werden. Dazu traten verbesserte Beobachtungs- und Kommunikationsmethoden sowie raffinierte Analyseverfahren, um den Zustand von Atmosphäre und Ozean in Echtzeit vollständig darzustellen. Zuletzt wurde Klimatologie endgültig zu einer systemanalytischen Wissenschaft, die das Klima als thermodynamische Maschine begreift, die dafür sorgt, daß die eingefangene Sonnenenergie den Globus auch wieder verläßt.
In einem seiner Aphorismen in Gut und Böse hat Friedrich Nietzsche 1886 den Zusammenhang zwischen Wetter, Klima und Gesellschaft nicht nur ganz undramatisch, sondern auch zutreffend beschrieben: "Nenne man es nun ,Civilisation' oder ,Vermenschlichung' oder ,Fortschritt', worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europas: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, - der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten Milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt."
Was politisch sinnvolle Reaktionen auf diese Tatsachen angeht, so sei festgehalten, daß die Angst vor Katastrophen, ausgelöst von extremen Wetterereignissen, dazu benutzt wird, um die Unterstützung der Öffentlichkeit für Mäßigungsvorhaben von Treibhausgasen - wie in Bonn diskutiert - zu gewinnen. Dies ist aber eine sehr zweifelhafte Strategie, die auf einem zerbrechlichen politischen Unterbau fußt. In politisch relevanten Zeitdimensionen haben die von der Wissenschaft propagierten und von der Politik sanktionierten Mäßigungsmaßnahmen keine Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit und die Stärke von Extremereignissen. Es ist daher denkbar, daß die Öffentlichkeit gegen die ihr auferlegten Lasten rebelliert. Die Dynamik des Klimas verlangt politisch durchsetzbare Anpassungsstrategien, die in sehr viel längeren Zeiträumen stabil bleiben. Diese Beständigkeit kann man kaum auf der Grundlage der Angst vor Extremereignissen erreichen.
Der Autor ist Soziologe und derzeit Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Normalfall spielt das Wetter verrückt: Die Irrtümer der Klimadeterministen / Von Nico Stehr
Klima und Wetter haben Phantasie und Ängste der Menschen schon immer beflügelt, nicht erst seit den aktuellen Sorgen über eine von uns veränderte Umwelt. Zumindest in der westlichen Kultur ist es allgegenwärtig, wie Clarence Glacken in seinem Klassiker zum Verhältnis von Natur und Kultur, "Traces on the Rhodian Shore", beschreibt. Demnach gab es neben der Einsicht, daß Klima eine Schlüsselbedingung für die menschliche Existenz sei, auch stets die Vorstellung, daß das Klima für die besondere Entwicklung, Leistungen oder Rückständigkeit der Kulturen verantwortlich sei und daß der Mensch durch sein Wirken das Klima verändere. In gar nicht so weit zurückliegenden Perioden gehörte die Beschäftigung mit dem Klima oder Wetter und seinem Einfluß auf Mensch, Gesellschaft, Staatsformen, Religionen, die Aktienmärkte, Krankheitssymptome, Sexualleben, Wahrheit und Moral zu den wichtigsten Fragen. Überlegungen zu gesundheitlichen Rückwirkungen des Klimas auf die Psyche und das physische Wohlbefinden des Menschen sind in allen westlichen Kulturen weit verbreitet.
Freilich ist auch die Verwechslung von Klima und Wetter nicht ungewöhnlich. Wetterereignisse beziehen sich auf eine nur kurze Dauer, also auf Ereignisse, die nur Tage oder allenfalls Wochen anhalten. Klimaforscher sind über diese Vermengung eher ungehalten. Während das Vertrauen der Menschen in die Normalität des Klimas groß ist, kann man dies für Wetterphänomene nicht unterstellen. Im Gegenteil, beim Wetter und bei den Wetterprognosen regiert eher Mißtrauen. Zum alltäglichen, unverfänglichen und über praktisch alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg diskutierten Thema Wetter, das unser Wohlbefinden, wenn auch häufig nur oberflächlich, mitbestimmt, kommt heute die professionelle Neugier an Klima und Wetter. Zum beiläufigen Wettergespräch gesellt sich ein Thema im modernen Gewand - das Klimagespräch. Solche Gespräche bestehen oft aus Klagen, daß das "Wetter" aus ganz unterschiedlichen Gründen - seien es die Atombombenversuche in den fünfziger Jahren, die Weltraumfahrt in den siebziger Jahren und die brennenden Ölfelder in Kuweit in den achtziger Jahren - schlechter geworden sei. Damit ist allerdings die Statistik des Wetters gemeint, also das Klima. Die Wahrnehmung besteht meist darin, die Stürme verliefen heftiger, das Wetter sei weniger gut vorherzusagen und die jahreszeitliche Ausprägung verwische sich. Neben diese allgemeinen Klagen tritt zunehmend die Feststellung, die Menschheit sei dabei, das Klima und damit ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören oder doch zumindest zu beschädigen.
Wer Émile Durkheims Studie "Der Selbstmord", die zuerst 1897 erschien, gelesen hat, kennt seine in der Zwischenzeit zum Paradigma der modernen Soziologie geronnene methodische Beweisführung, daß scheinbar völlig idiosynkratische, individuelle Handlungen soziale Phänomene sind beziehungsweise daß sich ihre Verteilung nicht auf physische oder sogar kosmische Ursachen zurückführen läßt. Viele der Wissenschaftlerkollegen seiner Zeit waren dagegen überzeugt, daß es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Klima oder dem Wetter und der Zahl der Selbstmorde gebe. Durkheims Urteil ist streng: "Man muß die Ursache für die verschieden starke Neigung der Völker zum Selbstmord im Wesen ihrer Zivilisation und deren Verbreitung in den verschiedenen Ländern suchen und nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Eigenschaften des Klimas." Wo der Umweltdeterminismus aufhört, fangen sozialwissenschaftliche Erklärungen an.
Durkheims Arbeiten zementierten die Trennung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften. Seine Bemühungen, die Fehlschlüsse des Umweltdeterminismus zu überwinden, fanden in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen damals eine nur geringe intellektuelle Resonanz. Die eigentliche wissenschaftliche Blüte des Klimadeterminismus und der in mancher Hinsicht verwandten, aber auch konkurrierenden Rassenwissenschaft erfolgte erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Idee des einst dominanten Klima- beziehungsweise Geodeterminismus als eine einfältige, schablonenhafte Sicht der Welt. Unter seriösen Wissenschaftlern war der intellektuelle Anreiz für eine Weiterentwicklung dieser Paradigmen gering; das gleiche gilt für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik.
Heute erleben wir erstaunlicherweise eine Rückkehr des Klimadeterminismus in die wissenschaftliche Arena. Ideengeschichtlich gesehen, ist ein großer Teil der heutigen Klimafolgenforschung unverfälschter, wenn auch verfeinerter Klimadeterminismus. Der Klimadeterminismus behauptet schlicht und einfach, wie schicksalhaft die Produkte unseres Klimas seien. Die politisch relevante Klimafolgenforschung bediente sich in den letzten Jahren allzuoft des "Dummer-Bauer-Ansatzes", wonach veränderte Klimabedingungen auf eine unveränderliche soziale und wirtschaftliche Realität treffen und daher in ihren Folgen berechenbar sind und katastrophal werden. So plädiert etwa der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes dafür, daß es an der Zeit sei, klimatische und geographische Faktoren im Kontext von vergleichenden Untersuchungen des Wohlstands und der Armut von Nationen als realitätskonforme Dimension zu rehabilitieren. Der Anthropologe Brian Fagan sieht im Klima den Schlüssel zur Weltgeschichte und die Erklärung für den Lauf der Zivilisationen. Klimatische Anomalien sorgten nicht nur für ungewöhnliche Wetterlagen, sondern stünden in einer engen Beziehung zu ungewöhnlichen historischen Ereignissen. In der modernen Klimadiskussion werden entsprechend Szenarien erarbeitet und quantitative Modelle konstruiert, in denen die Wirkung von globalen Klimaänderungen auf Wasserverbrauch, Lebenserwartung, Biosphäre, Landwirtschaft, Tourismus in fünfzig und mehr Jahren abgeschätzt werden. Allerdings wird dabei oft nur der Faktor des dynamischen Klimas berücksichtigt, nicht aber kaum antizipierbare politische und ökonomische Veränderungen, technische Möglichkeiten oder der Wertewandel - Veränderungen, die aller Erfahrung nach von größerer Bedeutung sein werden als alle Veränderungen in der natürlichen Umwelt.
Die Auswirkungen des Klimas auf das körperliche und seelische Befinden und die Weltbilder des Menschen, sowohl in der eigenen Gesellschaft als auch unter den Bewohnern benachbarter und entfernterer Regionen, wurde wohl erstmals von Hippokrates von Cos in seinem Werk "Luft, Wasser und Ort" ausführlicher erörtert. Wenig später machte Aristoteles das Klima als Ursache für die Überlegenheit der Griechen über die Barbaren aus und bestätigte den typischerweise geäußerten Verdacht, das eigene Klimas sei dem fremder Landstriche überlegen. In der Aufklärung wurde der Klimadeterminismus von Denkern wie Montesquieu oder Hume verfeinert, und die modernen Gesellschaftswissenschaften wie etwa die Geographie haben sich erst vor wenigen Jahrzehnten von diesen Ideen frei gemacht. So war Montesquieu davon überzeugt, daß die beobachtbare kulturelle und ethnische Vielfalt der Menschen auf der Erde Resultat der ihnen jeweils eigenen klimatischen Bedingungen sei. Denker wie Herder, Falconer und Montaigne führten die alten Theorien zu neuen Höhepunkten, so daß der Klimadeterminismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Lehrbuch- und Lexikonwissen gehörte. Die Unterschiede zwischen Völkern wurden ganz selbstverständlich auf Klimafaktoren zurückgeführt. Ein englischer Meteorologe schrieb noch dieser Tage, man könne sich zwar nicht sicher sein, aber vieles weise doch darauf hin, daß ein mildes Klima in mittleren Breiten dazu beitrage, eine tolerantere Gesellschaft hervorzubringen.
Die Entwicklung des Klimadeterminismus als einflußreiche wissenschaftliche Denkrichtung in den Sozial- und Naturwissenschaften erreichte ihren bisherigen Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. In Untersuchungen des Einflusses der natürlichen Umwelt auf den Ablauf der menschliche Geschichte entwickelten Naturwissenschaftler, Anthropologen, Soziologen, Physiologen und Geographen einen zunehmend quantitativ-empirischen und daher als "objektiv" geltenden Ansatz des sozialen und psychologischen Stellenwerts des Klimas. Einige der einprägsamsten und mit großer Überzeugung vorgebrachten Stellungnahmen zu den umfassenden, schicksalhaften Klimafolgen wurden denn auch in dieser Zeit veröffentlicht, obwohl sie letztendlich nur jahrhundertealte Behauptungen und Vorurteile wiederholten. Man lese etwa im einflußreichen Werk des Sozialpsychologen Willy Hellpach: "Je im Nordteil eines Erdraums überwiegen die Wesenszüge der Nüchternheit, Herbheit, Kühle, Gelassenheit, der Astrengungsgwilligkeit, Geduld, Zähigkeit, Strenge, des konsequenten Verstandes- und Willenseinsatzes - je im Südteil die Wesenszüge der Lebhaftigkeit, Erregbarkeit, Triebhaftigkeit, der Gefühls- und Phantasiesphäre, des behäbigeren Gehenlassens oder augenblicklichen Aufflammens. Innerhalb einer Nation sind ihre nördlichen Bevölkerungen praktischer, verläßlicher, aber unzugänglicher, ihre südlicheren musischer, zugänglicher (gemütlicher, liebenswürdiger, gesprächiger), aber unbeständiger."
Ein prominenter Vertreter des Klimadeterminismus war Ellsworth Huntington, der bekannteste amerikanische Geograph der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. In seinen Untersuchungen der Interaktion von Klima und Gesellschaft gab sich Huntington mit rein beschreibenden Dokumentationen oder erklärenden Ansätzen nicht zufrieden. Er plädierte stets öffentlich dafür, seine Schlußfolgerungen auch in die Tat umzusetzen. So empfahl er zum Beispiel kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, den Sitz der Vereinten Nationen in Newport, Rhode Island, zu errichten, weil dort das für den Menschen bestverträgliche Klima vorherrsche. Seine volle Überzeugungskraft entwickelt dieser Klimadeterminismus aber erst durch seine ausgeprägte Verallgemeinerung. Nachdem Huntington empirisch festgestellt hatte, daß in den Neuengland-Staaten der Vereinigten Staaten in Fabriken die höchste Produktivität beobachtet werde, wenn Außentemperaturen um 65° Fahrenheit herum herrschten, schloß er, daß 65° Fahrenheit ein Optimum sei - unabhängig vom Ort, von der gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung. Sofern die Klimaverhältnisse im Jahresverlauf in einem nicht zu breiten Band um dieses Optimum schwankten und die Wetterverhältnisse nicht zu monoton seien, werde von optimaler klimatischer Energie gesprochen. Diese klimatische Energie erlaube oder bremse die zivilisatorische Entwicklung.
Klimadeterministen favorisierten eine Art Wesenserkenntnis des Klimas. Dem Klima werden bestimmte situationsunabhängige oder überpersönliche Eigenschaften zugeschrieben. Diese werden dafür verantwortlich gemacht, daß das Klima in fast jedem historischen und gesellschaftlichen Kontext eine umfassende Machtstellung über situationsspezifische, historische Prozesse einnimmt. Im Rahmen eines solchen Verständnisses von natürlichem Klima ist die Logik der jeweiligen gesellschaftlichen Situation für die Erklärung ihrer Besonderheiten und ihrer Entwicklungslinien nur von geringer Bedeutung.
Tatsächlich muß die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Emanzipation des Menschen von Klima- und Wetterbedingungen begriffen werden. Dieser Trend eskaliert in den letzten zwei Jahrhunderten, zumal sich parallel zur Veränderung von "natürlichen" Handlungsbedingungen primordialer Gemeinschaften, die sich auf Familienbande, Verwandtschaftsbeziehungen, Clan stützen, hin zu einer zunehmend gesellschaftlich konstruierten sozialen Welt von Institutionen, die wiederum die Identität des einzelnen bestimmen, ein Wandel von einer natürlichen Umwelt hin zu einer physisch rekonstruierten Umwelt des Menschen vollzieht. Heute verbringen die Menschen die weitaus größte Zeit umgeben von der Haut solcher planvoll konstruierter physischer Kontexte.
Bedingung dafür sind zum Beispiel bestimmte Erfindungen, wie etwa die der Klimaanlangen und ihre verbreitete Anwendung. Die Migration von Millionen von Amerikanern in den letzten Jahrzehnten in den amerikanischen Süden und Südwesten ist auch ein Beweis dafür, daß der Mensch auf diese Weise mikroklimatische Bedingungen konstruiert, die es ihm erlauben, unter ihm genehmen, kulturell mitbestimmten Umständen zu existieren. Das heißt aber nicht, daß Wetterbedingungen ohne jeden Einfluß auf die Gesellschaft und Individuen sind. Allerdings findet die Verbindung des Wetter- und Klimasystems mit der Gesellschaft vor allem über extreme Anomalien statt. Extreme Kälte- oder Hitzegrade, Dürren, Überschwemmungen an einem bestimmten Ort sind solche Signale. Ob sie allerdings heute ganze Zivilisationen bedrohen können, wie Brian Fagan unterstellt, ist fraglich. Daß das Wetter verrückt spielt, ist allerdings normal.
Das Klima, das wir alltäglich erleben, ist ein unveränderliches Klima, das zwar dann und wann bedrohliche Extreme wie Sturmfluten und Dürren eintreten läßt, das aber dennoch unveränderlich ist. Jede Katastrophe kann als "normal" angesehen werden,, nach jeder stellen sich wieder normale Bedingungen her. Eine Hundertjahresflut wie jene in den Niederlanden 1953 muß im Durchschnitt alle hundert Jahre einmal auftreten; wenn nicht, dann stimmt etwas nicht mit dem Klima oder mit der Berechnungsmethode dieser Fluten. Mit anderen Worten: Wir haben Grund zur Beunruhigung nur, wenn das Wetter noch "verrückter spielt" als gewöhnlich oder wenn es gar nicht mehr verrückt spielt. Der Normalfall ist, daß es verrückt spielt. Das Klima, das wir erfahren, hat eine wichtige Eigenschaft, nämlich seine Zuverlässigkeit oder Normalität. Diese Zuverlässigkeit erlaubt es, mit dem Klima, seinem Reiz und seiner Unbill vernünftig umzugehen. Gleichzeitig ist die Zuverlässigkeit des Klimas Ursache dafür, daß die meisten Menschen keinen Grund haben, dem Klima nicht zu vertrauen.
Das alltägliche Verständnis und das wissenschaftliche Begreifen von Wetter und Klima sind in vielerlei Hinsicht inkongruent. Auf der Laienebene dominiert die Vorstellung von der Unveränderlichkeit und Regelmäßigkeit des Klimas. Jede Abweichung von dieser Regelmäßigkeit weist in diesen Vorstellungen auf die Gegenwart eines "Verursachers" hin. Nach dieser Lesart ist das gegenwärtige Klima optimal für die Menschheit, während jede Abweichung negative, wenn nicht sogar katastrophale Folgen nach sich zieht. Im wissenschaftlichen Verständnis ist Klima aber gerade nicht konstant, sondern hochveränderlich, vor allem aufgrund seiner nichtlinearen Dynamik, so daß Abweichungen von der Regelmäßigkeit erstens die Regel sind, und diese Abweichungen, zweitens, meist nicht durch menschliche oder kosmische Einflüsse hervorgerufen sind. Im Gefolge dieses Zwiespalts ist ein rationaler Umgang mit dem angekündigten anthropogenen Klimawandel schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Der wissenschaftliche Begriff des Klimas hat im Laufe der Geschichte zudem signifikante Änderungen durchgemacht. Früher war Klimatologie nur eine Art beschreibende Hilfswissenschaft der Geographie, in deren Mittelpunkt des Interesses die Wirkung des mehr oder minder statischen Klimas auf den Menschen in physiologischer und psychologischer Hinsicht stand. Das globale Klima war einfach die Summe der regionalen Klimate. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wechselten die Berechtigungen, über die zu erwartenden Wettererscheinungen und ihre dynamischen Hintergründe zu informieren. Nach den Landwirten, Fischern, Soldaten, Seefahrern und Bauherren kamen die Meteorologen. In der Nachkriegszeit kamen Physiker und Mathematiker hinzu, und immer komplexer werdende Klimamodelle konnten berechnet werden. Dazu traten verbesserte Beobachtungs- und Kommunikationsmethoden sowie raffinierte Analyseverfahren, um den Zustand von Atmosphäre und Ozean in Echtzeit vollständig darzustellen. Zuletzt wurde Klimatologie endgültig zu einer systemanalytischen Wissenschaft, die das Klima als thermodynamische Maschine begreift, die dafür sorgt, daß die eingefangene Sonnenenergie den Globus auch wieder verläßt.
In einem seiner Aphorismen in Gut und Böse hat Friedrich Nietzsche 1886 den Zusammenhang zwischen Wetter, Klima und Gesellschaft nicht nur ganz undramatisch, sondern auch zutreffend beschrieben: "Nenne man es nun ,Civilisation' oder ,Vermenschlichung' oder ,Fortschritt', worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europas: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, - der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten Milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt."
Was politisch sinnvolle Reaktionen auf diese Tatsachen angeht, so sei festgehalten, daß die Angst vor Katastrophen, ausgelöst von extremen Wetterereignissen, dazu benutzt wird, um die Unterstützung der Öffentlichkeit für Mäßigungsvorhaben von Treibhausgasen - wie in Bonn diskutiert - zu gewinnen. Dies ist aber eine sehr zweifelhafte Strategie, die auf einem zerbrechlichen politischen Unterbau fußt. In politisch relevanten Zeitdimensionen haben die von der Wissenschaft propagierten und von der Politik sanktionierten Mäßigungsmaßnahmen keine Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit und die Stärke von Extremereignissen. Es ist daher denkbar, daß die Öffentlichkeit gegen die ihr auferlegten Lasten rebelliert. Die Dynamik des Klimas verlangt politisch durchsetzbare Anpassungsstrategien, die in sehr viel längeren Zeiträumen stabil bleiben. Diese Beständigkeit kann man kaum auf der Grundlage der Angst vor Extremereignissen erreichen.
Der Autor ist Soziologe und derzeit Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.06.2009Wirtschaftsbuch
Zum Thema
Ein wenig Historie
Michael North: Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute. Verlag C. H. Beck, München 2009, 255 Seiten, 14,95 Euro.
Der Greifswalder Historiker hat seine vor 25 Jahren erschienene Geschichte des Geldes bis heute fortgeschrieben.
Arm und reich
David S. Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Siedler Verlag, Berlin 1999, 683 Seiten.
Geld spielt in dieser opulenten Geschichte der Weltwirtschaft der letzten 1000 Jahre eine Rolle. Aber David Landes geht es vor allem um die Frage, warum Armut und Wohlstand zwischen den Nationen so ungleich verteilt sind.
Die Geschichte des Geldes
Niall Ferguson, renommierter Geschichtsprofessor an der noch renommierteren Harvard University, ist ein ungemein produktiver Autor. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem er nicht ein umfängliches Buch veröffentlicht, das mit einer provokanten These die Aufmerksamkeit erregt. Insofern fällt sein neuestes Buch etwas aus dem Rahmen.
Es umfasst nur gut 300 großzügig gesetzte Seiten Text. Und es fehlt eine provokante These – es sei denn, man fühlte sich durch die Behauptung provoziert, Geld sei „die Wurzel beinahe allen Fortschritts”. Fergusons um Anschaulichkeit und Verständlichkeit bemühte Geschichte des Geld- und Finanzwesens ist dennoch lesenswert. Sie bietet erhellende Einblicke in die Funktionsweise des Geldes und der nach und nach entstandenen Finanzmärkte, und das hilft, die gegenwärtige Finanzkrise zu verstehen.
Ferguson hat sein Buch systematisch organisiert, indem er nacheinander die „Hauptelemente des modernen Finanzsystems” vorstellt. Zunächst widmet er sich der Entstehung des Geldes und des Geldverleihens. Bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückblendend, erläutert er anhand vieler Beispiele und Abbildungen die wichtigsten Funktionen des Geldes als Tauschmittel, Verrechnungseinheit und Wertspeicher.
Dann beschreibt er den Rentenmarkt: Die „Geburt der Anleihe” nennt Ferguson die „zweite große Revolution” nach der Einführung des Kredits durch die Banken. Im dritten Kapitel stehen die Aktienmärkte, im vierten die unterschiedlichen Arten des Risikomanagements in Versicherungen im Mittelpunkt. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Immobilienmarkt und dürfte vor allem für amerikanische Leser und Leserinnen lehrreich sein. Im sechsten Kapitel analysiert Ferguson das Auf und Ab des globalen Finanzsektors.
Dabei geht er ausführlich auf die Hedgefonds ein, deren Rolle er – ungeachtet skrupelloser Spekulanten und Investoren – positiv beurteilt. Abschließend urteilt er, dass sich die Finanzmärkte keineswegs zu einem „Monster” entwickelt hätten, wie es selbst Bundespräsident Horst Köhler gelegentlich beklagt, sondern dass sie vielmehr „der Menschheit einen Spiegel vorhalten”, der enthülle, „inwieweit wir uns selbst und die Ressourcen der Welt wertschätzen”.
Man merkt dem Buch deutlich an, dass es auf den amerikanischen Markt und seine Leser zielt. Die meisten der zur Illustration herangezogenen Beispiele stammen aus der amerikanischen Geschichte. Andere Finanzsysteme, wie etwa das islamische, kommen erst gar nicht vor. Und man merkt ebenfalls deutlich, dass das Buch abgeschlossen wurde, bevor die Finanzkrise sich zu einer weltweiten Wirtschaftskrise auswuchs. Die Hoffnungen auf Stabilisierung, die Ferguson beispielsweise in Länder wie China oder Russland setzte, sind mittlerweile zerstoben.
Mag also manches schon überholt sein, seine drei wesentlichen Erkenntnisse bleiben bedenkenswert: Erstens ist Armut demnach nicht die Folge von Ausbeutung durch gewissenlose „Kredithaie”, sondern des Fehlens funktionstüchtiger und für jedermann zugänglicher Finanzinstitutionen. Zweitens eröffne das Zusammenwachsen der Finanzmärkte den in finanziellen Dingen lernwilligen und -fähigen Menschen neue Chancen. Und drittens lässt sich die Finanzgeschichte als „klassisches Beispiel von tätiger Evolution” begreifen. Die Antwort auf eine grundsätzliche Frage lässt Ferguson unbeantwortet: Ob es Alternativen zu dem permanenten Auf und Ab an den Finanzmärkten gibt und ob die dem marktwirtschaftlichen System innewohnenden Krisen und Verwerfungen zwangsläufig wohl der Preis für den relativen Wohlstand sind. Werner Bührer
Niall Ferguson:
Der Aufstieg des Geldes.
Die Währung der Geschichte.
Econ Verlag, Berlin 2009,
367 Seiten, 24,90 Euro.
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Zum Thema
Ein wenig Historie
Michael North: Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute. Verlag C. H. Beck, München 2009, 255 Seiten, 14,95 Euro.
Der Greifswalder Historiker hat seine vor 25 Jahren erschienene Geschichte des Geldes bis heute fortgeschrieben.
Arm und reich
David S. Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Siedler Verlag, Berlin 1999, 683 Seiten.
Geld spielt in dieser opulenten Geschichte der Weltwirtschaft der letzten 1000 Jahre eine Rolle. Aber David Landes geht es vor allem um die Frage, warum Armut und Wohlstand zwischen den Nationen so ungleich verteilt sind.
Die Geschichte des Geldes
Niall Ferguson, renommierter Geschichtsprofessor an der noch renommierteren Harvard University, ist ein ungemein produktiver Autor. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem er nicht ein umfängliches Buch veröffentlicht, das mit einer provokanten These die Aufmerksamkeit erregt. Insofern fällt sein neuestes Buch etwas aus dem Rahmen.
Es umfasst nur gut 300 großzügig gesetzte Seiten Text. Und es fehlt eine provokante These – es sei denn, man fühlte sich durch die Behauptung provoziert, Geld sei „die Wurzel beinahe allen Fortschritts”. Fergusons um Anschaulichkeit und Verständlichkeit bemühte Geschichte des Geld- und Finanzwesens ist dennoch lesenswert. Sie bietet erhellende Einblicke in die Funktionsweise des Geldes und der nach und nach entstandenen Finanzmärkte, und das hilft, die gegenwärtige Finanzkrise zu verstehen.
Ferguson hat sein Buch systematisch organisiert, indem er nacheinander die „Hauptelemente des modernen Finanzsystems” vorstellt. Zunächst widmet er sich der Entstehung des Geldes und des Geldverleihens. Bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückblendend, erläutert er anhand vieler Beispiele und Abbildungen die wichtigsten Funktionen des Geldes als Tauschmittel, Verrechnungseinheit und Wertspeicher.
Dann beschreibt er den Rentenmarkt: Die „Geburt der Anleihe” nennt Ferguson die „zweite große Revolution” nach der Einführung des Kredits durch die Banken. Im dritten Kapitel stehen die Aktienmärkte, im vierten die unterschiedlichen Arten des Risikomanagements in Versicherungen im Mittelpunkt. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Immobilienmarkt und dürfte vor allem für amerikanische Leser und Leserinnen lehrreich sein. Im sechsten Kapitel analysiert Ferguson das Auf und Ab des globalen Finanzsektors.
Dabei geht er ausführlich auf die Hedgefonds ein, deren Rolle er – ungeachtet skrupelloser Spekulanten und Investoren – positiv beurteilt. Abschließend urteilt er, dass sich die Finanzmärkte keineswegs zu einem „Monster” entwickelt hätten, wie es selbst Bundespräsident Horst Köhler gelegentlich beklagt, sondern dass sie vielmehr „der Menschheit einen Spiegel vorhalten”, der enthülle, „inwieweit wir uns selbst und die Ressourcen der Welt wertschätzen”.
Man merkt dem Buch deutlich an, dass es auf den amerikanischen Markt und seine Leser zielt. Die meisten der zur Illustration herangezogenen Beispiele stammen aus der amerikanischen Geschichte. Andere Finanzsysteme, wie etwa das islamische, kommen erst gar nicht vor. Und man merkt ebenfalls deutlich, dass das Buch abgeschlossen wurde, bevor die Finanzkrise sich zu einer weltweiten Wirtschaftskrise auswuchs. Die Hoffnungen auf Stabilisierung, die Ferguson beispielsweise in Länder wie China oder Russland setzte, sind mittlerweile zerstoben.
Mag also manches schon überholt sein, seine drei wesentlichen Erkenntnisse bleiben bedenkenswert: Erstens ist Armut demnach nicht die Folge von Ausbeutung durch gewissenlose „Kredithaie”, sondern des Fehlens funktionstüchtiger und für jedermann zugänglicher Finanzinstitutionen. Zweitens eröffne das Zusammenwachsen der Finanzmärkte den in finanziellen Dingen lernwilligen und -fähigen Menschen neue Chancen. Und drittens lässt sich die Finanzgeschichte als „klassisches Beispiel von tätiger Evolution” begreifen. Die Antwort auf eine grundsätzliche Frage lässt Ferguson unbeantwortet: Ob es Alternativen zu dem permanenten Auf und Ab an den Finanzmärkten gibt und ob die dem marktwirtschaftlichen System innewohnenden Krisen und Verwerfungen zwangsläufig wohl der Preis für den relativen Wohlstand sind. Werner Bührer
Niall Ferguson:
Der Aufstieg des Geldes.
Die Währung der Geschichte.
Econ Verlag, Berlin 2009,
367 Seiten, 24,90 Euro.
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