Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997Die Axt ist blutig noch
Aus dem Archiv gefischt: Anita Shreves "Das Gewicht des Wassers"
Ein Auswandererschiff, karge Lebensbedingungen in der Neuen Welt, eine blutbeschmierte Axt, ein geheimnisumwitterter Doppelmord und die Hinrichtung eines vermutlich Unschuldigen, schließlich der fiktive Bericht einer dunkel in die Tat verstrickten Frau, der das Verbrechen ins Licht psychologischer Plausibilität rückt: Man könnte meinen, Anita Shreve habe bei der Verfertigung ihres Romans "Das Gewicht des Wassers" auf Margaret Atwoods Monumentalwerk "Alias Grace" (1996) geschielt. Aber möglicherweise schlummern in amerikanischen oder kanadischen Archiven noch mehr Akten über ungeklärte Kriminalfälle aus dem vorigen Jahrhundert, die der literarischen Würdigung durch einfühlungsbereite Gegenwartsautorinnen harren.
Auf den Isles of Shoals, einer Inselgruppe vor der Küste von New Hampshire, wurden in einer Märznacht des Jahres 1873 zwei norwegische Immigrantinnen, die Ehefrau und die Schwester eines Fischers, in ihrem gemeinsamen Wohnhaus durch Axthiebe niedergestreckt. Eine dritte Frau, die wiederum mit einem der Opfer verschwistert, mit dem anderen verschwägert war, hielt sich in einer Höhle versteckt und überlebte das Massaker; die dazugehörigen Männer befanden sich zur Tatzeit auf See. Ein deutscher Einwanderer, der sich zuvor mit plumpen Annäherungsversuchen bei den Damen verdächtig gemacht hatte, endete am Galgen, aber die Prozeßberichte enthielten zahlreiche Unstimmigkeiten, die darauf hindeuteten, daß der wirkliche Täter entkommen war.
Anita Shreve hat sich nicht darauf beschränkt, die angeschimmelte Schauergeschichte detektivisch und dichterisch zu bearbeiten. Vielmehr hat sie das Gemetzel aus viktorianischer Zeit mit einem modern-zivilisierten Psychothriller verknüpft, der nach film- und fernsehbewährtem Muster auf einem Segelboot spielt: zwei Männer und zwei Frauen, räumliche Enge und die Gewalt der Elemente, erotisches Knistern samt Eifersucht kreuz und quer, und wenn der Sturm ausbricht, geraten auch die Emotionen außer Kontrolle. In diesem Fall ist außerdem ein Kind an Bord, und Kinder sind einer alten Küchenweisheit zufolge, die sich am Ende auf makabre Weise bewahrheitet, immer die Leidtragenden.
Die Bostoner Fotoreporterin Jean, deren Ehedrama hier zwischen Bugspriet und Cockpit abgewickelt wird, soll im Auftrag einer Zeitschrift die Hintergründe des längst verjährten Blutbades auf der Insel Smuttynose recherchieren. Sie hat einen Mann, der Gedichte schreibt, ein süßes Töchterchen sowie einen Schwager, der eine neue, schicke Freundin und ein betagtes, aber gepflegtes Boot besitzt; also wird der Job mit einem Familienausflug zu den wildromantischen Shoals verbunden. Gerade als zarte Vibrationen zwischen dem Gatten und dem weiblichen Schiffsgast offenbar werden und Unheil über dem Mastbaum dräut, entdeckt Jean in der Bibliothek der Inselhauptstadt aufregendes Archivmaterial, das sie so kühn wie illegal zu Forschungszwecken mitgehen läßt. Es handelt sich um die wohl komplett von Anita Shreve erdachten Aufzeichnungen der Maren Hontvedt, der überlebenden Dritten des Jahres 1873, die ihre idyllische Kindheit in Norwegen schildert und dann von ihrer halbherzig geschlossenen Ehe erzählt, von der Auswanderung und dem entbehrungsreichen Leben auf Smuttynose, von ihrer verhaßten älteren Schwester, ihrem über Gebühr geliebten Bruder und seiner allzu schönen Frau, endlich auch - o Graus - von den Ereignissen der Mordnacht.
Man muß die Autorin dafür loben, daß sie ihre zweigleisige Geschichte mit bemerkenswerter Ökonomie entfaltet, daß sie beide Handlungsstränge in schnellen Schnitten und mit spannungssichernden "cliffhangers" auf die jeweilige Katastrophe zutreibt. So wird der Leser davor bewahrt, sich unnötig lange mit einem Buch zu beschäftigen, das nichts anderes sein will als handwerklich solide Fastfood-Unterhaltung. Ansprüche stellt die Lektüre höchstens insofern, als gewisse Kenntnisse maritimen Fachvokabulars vorausgesetzt werden. Wer kann schon auf Anhieb eine Winsch von einem Klüver unterscheiden oder mit dem Satz "Im Schott ist eine Muffe" eine sinnvolle Vorstellung verbinden, wenn kurz darauf auch noch festgestellt wird: "Es ist die Bilge"? Wir wünschen Mast- und Schotenbruch. KRISTINA MAIDT-ZINKE
Anita Shreve: "Das Gewicht des Wassers". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Mechtild Sandberg. Piper Verlag, München 1997. 292 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Archiv gefischt: Anita Shreves "Das Gewicht des Wassers"
Ein Auswandererschiff, karge Lebensbedingungen in der Neuen Welt, eine blutbeschmierte Axt, ein geheimnisumwitterter Doppelmord und die Hinrichtung eines vermutlich Unschuldigen, schließlich der fiktive Bericht einer dunkel in die Tat verstrickten Frau, der das Verbrechen ins Licht psychologischer Plausibilität rückt: Man könnte meinen, Anita Shreve habe bei der Verfertigung ihres Romans "Das Gewicht des Wassers" auf Margaret Atwoods Monumentalwerk "Alias Grace" (1996) geschielt. Aber möglicherweise schlummern in amerikanischen oder kanadischen Archiven noch mehr Akten über ungeklärte Kriminalfälle aus dem vorigen Jahrhundert, die der literarischen Würdigung durch einfühlungsbereite Gegenwartsautorinnen harren.
Auf den Isles of Shoals, einer Inselgruppe vor der Küste von New Hampshire, wurden in einer Märznacht des Jahres 1873 zwei norwegische Immigrantinnen, die Ehefrau und die Schwester eines Fischers, in ihrem gemeinsamen Wohnhaus durch Axthiebe niedergestreckt. Eine dritte Frau, die wiederum mit einem der Opfer verschwistert, mit dem anderen verschwägert war, hielt sich in einer Höhle versteckt und überlebte das Massaker; die dazugehörigen Männer befanden sich zur Tatzeit auf See. Ein deutscher Einwanderer, der sich zuvor mit plumpen Annäherungsversuchen bei den Damen verdächtig gemacht hatte, endete am Galgen, aber die Prozeßberichte enthielten zahlreiche Unstimmigkeiten, die darauf hindeuteten, daß der wirkliche Täter entkommen war.
Anita Shreve hat sich nicht darauf beschränkt, die angeschimmelte Schauergeschichte detektivisch und dichterisch zu bearbeiten. Vielmehr hat sie das Gemetzel aus viktorianischer Zeit mit einem modern-zivilisierten Psychothriller verknüpft, der nach film- und fernsehbewährtem Muster auf einem Segelboot spielt: zwei Männer und zwei Frauen, räumliche Enge und die Gewalt der Elemente, erotisches Knistern samt Eifersucht kreuz und quer, und wenn der Sturm ausbricht, geraten auch die Emotionen außer Kontrolle. In diesem Fall ist außerdem ein Kind an Bord, und Kinder sind einer alten Küchenweisheit zufolge, die sich am Ende auf makabre Weise bewahrheitet, immer die Leidtragenden.
Die Bostoner Fotoreporterin Jean, deren Ehedrama hier zwischen Bugspriet und Cockpit abgewickelt wird, soll im Auftrag einer Zeitschrift die Hintergründe des längst verjährten Blutbades auf der Insel Smuttynose recherchieren. Sie hat einen Mann, der Gedichte schreibt, ein süßes Töchterchen sowie einen Schwager, der eine neue, schicke Freundin und ein betagtes, aber gepflegtes Boot besitzt; also wird der Job mit einem Familienausflug zu den wildromantischen Shoals verbunden. Gerade als zarte Vibrationen zwischen dem Gatten und dem weiblichen Schiffsgast offenbar werden und Unheil über dem Mastbaum dräut, entdeckt Jean in der Bibliothek der Inselhauptstadt aufregendes Archivmaterial, das sie so kühn wie illegal zu Forschungszwecken mitgehen läßt. Es handelt sich um die wohl komplett von Anita Shreve erdachten Aufzeichnungen der Maren Hontvedt, der überlebenden Dritten des Jahres 1873, die ihre idyllische Kindheit in Norwegen schildert und dann von ihrer halbherzig geschlossenen Ehe erzählt, von der Auswanderung und dem entbehrungsreichen Leben auf Smuttynose, von ihrer verhaßten älteren Schwester, ihrem über Gebühr geliebten Bruder und seiner allzu schönen Frau, endlich auch - o Graus - von den Ereignissen der Mordnacht.
Man muß die Autorin dafür loben, daß sie ihre zweigleisige Geschichte mit bemerkenswerter Ökonomie entfaltet, daß sie beide Handlungsstränge in schnellen Schnitten und mit spannungssichernden "cliffhangers" auf die jeweilige Katastrophe zutreibt. So wird der Leser davor bewahrt, sich unnötig lange mit einem Buch zu beschäftigen, das nichts anderes sein will als handwerklich solide Fastfood-Unterhaltung. Ansprüche stellt die Lektüre höchstens insofern, als gewisse Kenntnisse maritimen Fachvokabulars vorausgesetzt werden. Wer kann schon auf Anhieb eine Winsch von einem Klüver unterscheiden oder mit dem Satz "Im Schott ist eine Muffe" eine sinnvolle Vorstellung verbinden, wenn kurz darauf auch noch festgestellt wird: "Es ist die Bilge"? Wir wünschen Mast- und Schotenbruch. KRISTINA MAIDT-ZINKE
Anita Shreve: "Das Gewicht des Wassers". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Mechtild Sandberg. Piper Verlag, München 1997. 292 S., geb., 39,80 DM.
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