He has lost his wife, his son is in prison and he is about to lose his past. Jake has Alzheimer's. As the disease takes hold of him, the key events of his life shift, and what until recently seemed solid fact melts into surreal imaginings.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2011Vor uns das Vergessen
Samantha Harvey erzählt von Alter und Krankheit
Der erste Roman der Britin Samantha Harvey wurde mehrfach mit dem Werk Virginia Woolfs verglichen. Dabei hat "Tage der Verwilderung" vor allem Ähnlichkeit mit dem größten Werk von Toni Morrison: "Beloved" (1987), denn beide Bücher verzichten auf eindeutige chronologische Strukturen und setzen stattdessen auf eine im konventionellen Sinne unzuverlässige Erzählfigur.
Jake Jameson, Anfang sechzig und ehemaliger Architekt, leidet an Alzheimer. Dem unsystematischen, nicht vorhersehbaren Verfall, dem er unterworfen ist, entspricht der undurchschaubare Aufbau des Romans, dessen Protagonist er ist. Kurz nach seiner Heirat zieht Jake mit seiner herzensgut-verträumten Frau Helen und dem gemeinsamen Sohn Henry aus London in seine frühere Heimat Lincolnshire. Dort leben seine Mutter und seine Jugendfreundin Eleanor, die noch immer den einzigen Pub der Gegend betreibt. Dann ist da noch die junge Joy, mit der Jake einmal eine Affäre hatte und mit der er weiterhin Briefe wechselt. Und schließlich Alice, Jakes und Helens langersehntes zweites Kind, von dem allerdings nicht klar wird, ob es je gelebt hat oder woran es gestorben ist - Ähnliches gilt auch für Helens Ableben.
"Nichts sei unbefriedigender als ein Bau, der dem Architekten uneingeschränkte Freiheit lasse, viel besser sei es, wenn Grenzen und Herausforderungen zu meistern waren" - so lautet Jakes einstiges Credo. Doch sein Gedächtnisverlust lässt alle sozialen und pragmatischen Maßgaben zunehmend verwischen. Entgrenzend ist Jakes Entwicklung auch für den Leser, denn die Unterschiede zwischen alltäglicher Zerstreutheit und krankhaftem Vergessen sind fließend. Die Erinnerung an seine Kindheit bleibt Jake am längsten erhalten. Aber handelt es sich hier um genuin eigene Erinnerungen oder vielmehr um das, was ihm immer und immer wieder erzählt wurde? Immerhin, je mehr Jake wieder zum Kind wird, umso segensreicher erscheint sein Vergessen: Kinder, je kleiner sie sind, tragen einem nichts nach, und auch wenn sie vielleicht nicht wissen, wo sie gerade sind und wie spät es ist, so sind sie doch gewiss: "Wenn es Zeit ist, nach Hause zu gehen, werden sie das tun." Für dieses Vertrauen muss man das eigene Spiegelbild nicht erkennen.
"Ich war mal ein Kind, denkt er erstaunt. Wie verbrecherisch, wie sadistisch, wie absurd, dass ich keines mehr bin." Als Jake von einer Pflegerin gebadet wird, schämt er sich zunächst - doch bald schon verwischt die Fürsorge der Fremden mit der mütterlichen Zuwendung, die der kleine Jake erfahren durfte. Das Kind Jake, das sein ganzes Leben noch vor sich hat und nur "einen winzigen Zeitsplitter lang glaubt, dass er sein Leben gehabt hat und dass es vorbei ist". Und da sind die "Tage der Verwilderung" auch schon vorbei - und man kann nur hoffen, dass es noch mehr Romane dieser 1975 geborenen Autorin geben wird, die trotz ihres jungen Alters Anfang und Ende des Lebens so gut in eines zu blenden vermag.
MARGRET FETZER
Samantha Harvey: "Tage der Verwilderung". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Heller. Deutsche Verlagsanstalt, München 2010. 352 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Samantha Harvey erzählt von Alter und Krankheit
Der erste Roman der Britin Samantha Harvey wurde mehrfach mit dem Werk Virginia Woolfs verglichen. Dabei hat "Tage der Verwilderung" vor allem Ähnlichkeit mit dem größten Werk von Toni Morrison: "Beloved" (1987), denn beide Bücher verzichten auf eindeutige chronologische Strukturen und setzen stattdessen auf eine im konventionellen Sinne unzuverlässige Erzählfigur.
Jake Jameson, Anfang sechzig und ehemaliger Architekt, leidet an Alzheimer. Dem unsystematischen, nicht vorhersehbaren Verfall, dem er unterworfen ist, entspricht der undurchschaubare Aufbau des Romans, dessen Protagonist er ist. Kurz nach seiner Heirat zieht Jake mit seiner herzensgut-verträumten Frau Helen und dem gemeinsamen Sohn Henry aus London in seine frühere Heimat Lincolnshire. Dort leben seine Mutter und seine Jugendfreundin Eleanor, die noch immer den einzigen Pub der Gegend betreibt. Dann ist da noch die junge Joy, mit der Jake einmal eine Affäre hatte und mit der er weiterhin Briefe wechselt. Und schließlich Alice, Jakes und Helens langersehntes zweites Kind, von dem allerdings nicht klar wird, ob es je gelebt hat oder woran es gestorben ist - Ähnliches gilt auch für Helens Ableben.
"Nichts sei unbefriedigender als ein Bau, der dem Architekten uneingeschränkte Freiheit lasse, viel besser sei es, wenn Grenzen und Herausforderungen zu meistern waren" - so lautet Jakes einstiges Credo. Doch sein Gedächtnisverlust lässt alle sozialen und pragmatischen Maßgaben zunehmend verwischen. Entgrenzend ist Jakes Entwicklung auch für den Leser, denn die Unterschiede zwischen alltäglicher Zerstreutheit und krankhaftem Vergessen sind fließend. Die Erinnerung an seine Kindheit bleibt Jake am längsten erhalten. Aber handelt es sich hier um genuin eigene Erinnerungen oder vielmehr um das, was ihm immer und immer wieder erzählt wurde? Immerhin, je mehr Jake wieder zum Kind wird, umso segensreicher erscheint sein Vergessen: Kinder, je kleiner sie sind, tragen einem nichts nach, und auch wenn sie vielleicht nicht wissen, wo sie gerade sind und wie spät es ist, so sind sie doch gewiss: "Wenn es Zeit ist, nach Hause zu gehen, werden sie das tun." Für dieses Vertrauen muss man das eigene Spiegelbild nicht erkennen.
"Ich war mal ein Kind, denkt er erstaunt. Wie verbrecherisch, wie sadistisch, wie absurd, dass ich keines mehr bin." Als Jake von einer Pflegerin gebadet wird, schämt er sich zunächst - doch bald schon verwischt die Fürsorge der Fremden mit der mütterlichen Zuwendung, die der kleine Jake erfahren durfte. Das Kind Jake, das sein ganzes Leben noch vor sich hat und nur "einen winzigen Zeitsplitter lang glaubt, dass er sein Leben gehabt hat und dass es vorbei ist". Und da sind die "Tage der Verwilderung" auch schon vorbei - und man kann nur hoffen, dass es noch mehr Romane dieser 1975 geborenen Autorin geben wird, die trotz ihres jungen Alters Anfang und Ende des Lebens so gut in eines zu blenden vermag.
MARGRET FETZER
Samantha Harvey: "Tage der Verwilderung". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Heller. Deutsche Verlagsanstalt, München 2010. 352 S., geb., 21,95 [Euro].
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Brave and intelligent...a mesmerising work Independent