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  • Verlag: Knopf
  • ISBN-13: 9781400044054
  • Artikelnr.: 23551367
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2008

Er glaubt an seine Sendung

Enthüllungen über einen schlechten Menschen mit vollem Einverständnis des Enthüllten: Die Biographie von Patrick French macht die Probe auf V. S. Naipauls Poetik unbedingter Wahrhaftigkeit.

LONDON, im Juli

In "Das Rätsel der Ankunft", der romanhaften Autobiographie, die Sir Vidiadhar Surajprasad Naipauls Weg von der westindischen Kolonie Trinidad ins Mutterland des Empire nachzeichnet, sitzt der Verfasser im Flugzeug und bittet die Stewardess, "weiß und amerikanisch und in meinen Augen strahlend und schön und erwachsen", seinen Bleistift anzuspitzen. Er hat Stift und Notizblock dabei, weil er aufbricht, um Schriftsteller zu werden. Von Ungeduld getrieben, will er mit seiner Mission schon bei der Abfahrt Ernst machen. Die Stewardess reicht ihm den gespitzten Stift, und er beginnt sogleich, sich Notizen zu machen.

V. S. Naipaul konnte Trinidad nicht früh genug verlassen. Er hielt es, wie er in seiner pointierten Art einmal verlautbarte, für einen großen Fehler, dort geboren zu sein. In der vierten Klasse fasste er den Beschluss, innerhalb von vier Jahren auszubrechen. Es hat sechs Jahre gedauert, bis es 1950 so weit war. Naipaul war damals achtzehn Jahre alt. Andere Schriftsteller seien aus der Karibik nach London gekommen, um einen Verleger zu finden, sagte ein Interviewer vor Jahren, um die Frage an Naipaul einzuleiten, ob er denselben Beweggrund gehabt habe. "Nein", erwiderte dieser, "ich bin gekommen, um der Zivilisation beizutreten."

Mit einfühlsamer Lakonie schildert Patrick French diese Reise des Enkels indischer Schuldknechte, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts als billige Arbeitskräfte in die Karibik verschifft wurden, von ärmlichen Anfängen in Trinidad an die Spitze der Weltliteratur. Seine vielgepriesene Biographie des Nobelpreisträgers des Jahres 2001 entleiht ihren Titel "The World is What it Is" dem ersten Satz von Naipauls Roman "An der Biegung des Großen Flusses": "Die Welt ist, was sie ist; Menschen die nichts sind, die sich erlauben, nichts zu werden, haben keinen Platz darin."

Mit dem Buch, das in England hohe Wellen schlägt, ist dem zweiundvierzig Jahre alten French ein großer Wurf gelungen. Als Parabel des kolonialen Außenseiters ist die Biographie mehr als nur die Lebenschronik eines schon sehr früh von seiner höheren Bestimmung überzeugten Schriftstellers. Naipaul geht mit seiner Lebensgeschichte um wie mit einem literarischen Werk. French schildert ihn als Autor, der sein Leben der Kreativität unterordnet und dasselbe von seinem unmittelbaren Umfeld verlangt. Er hat von Anfang an an die Nachwelt gedacht. Tagebücher, Notizen, Manuskripte, Zettel, Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotos, Abrechnungen wurden in numerierten Kisten sorgfältig aufbewahrt. Schon Anfang der siebziger Jahre versuchte er einen Käufer für sein Archiv zu finden. Im Jahr 1993 einigte er sich schließlich mit der Universität von Tulsa in Oklahoma. Dort erklärte er bei der Übergabezeremonie Schriftstellerbiographien zu einem legitimen Forschungsthema. Mit der Wahrheit dürfe nicht hinterm Berg gehalten werden. Naipaul legte sogar nahe, dass die vollständige Darstellung eines Schriftstellerlebens literarischer und aufschlussreicher sein könnte als die Bücher des Autors selber.

Naipaul hat seinem Biographen nichts vorenthalten und eisern die Abmachung eingehalten, sich weder einzumischen noch Änderungen zu verlangen. Er hat sich selber einmal den Flaneur genannt. "Seine Versuche, sich von den Folgen seines eigenen Verhaltens abzusetzen und sich nicht als Person, sondern ausschließlich als ,der Schriftsteller' zu präsentieren, als Figur, die theoretisch objektiv studiert werden könnte, haben diese Biographie möglich gemacht", schreibt French. Das Buch ist frei von den üblichen Einschränkungen des Genres. French geht unbefangen mit seinem Stoff um. Er offenbart, wie stark die Romane aus dem Selbsterlebten schöpfen, bis hin zu den erotischen Erfahrungen. French spart nichts aus, ist weder anklagend noch anbiedernd. Seine Kunst liegt in der Auswertung und Darbietung des Materials, das er für sich sprechen lässt.

Die Biographie wiederlegt die berühmte Sentenz von Ben Jonson aus der Einleitung zu "Volpone": "Würden die Menschen das Amt und die Aufgabe eines Dichters unvoreingenommen betrachten, so kämen sie ohne weiteres zu dem Schluss, dass man unmöglich ein guter Dichter sein kann, ohne zuvor ein guter Mensch zu sein." Das mitunter vernichtende Beweismaterial liefert Naipaul selber, sei es im Gespräch mit seinem Biographen oder durch den freien Zugang zum Archiv, das auch die Tagebücher seiner ersten Frau enthält. Patricia Naipaul, eine intelligente Engländerin aus kleinbürgerlichem Haus, die sich gegen ihre Eltern durchsetzte und den mittellosen Einwanderer heiratete, hat sich leidend ihrem Mann unterstellt. Sie nannte ihn das Genie, ertrug stoisch dessen garstige Launen und die jahrzehntelange Affäre mit einer Anglo-Argentinierin, mit der Naipaul die erotischen Fantasien auslebte, die er mit seiner Frau nicht zu teilen wagte.

Er nutzte die Ergebenheit seiner Frau aus, wenn es der Schöpfungsdrang verlangte, und er ließ sie monatelang allein zu Hause, wo sie sich vor Gram verzehrt, während er, wiederum im Dienste seiner Berufung, mit seiner Geliebten die Welt durchreiste. Seine Frau wurde vom Krebs zerfressen, als er in Pakistan der Journalistin Nadira Alvi begegnete, der er einen Heiratsantrag machte. Die Geliebte, die ihren Mann und drei Kinder für ihn verlassen hatte, wurde abserviert. Am Tag nach der Beerdigung von Patricia Naipaul zog die zweite Lady Naipaul bei dem frischen Witwer ein. Er hatte für sie einkaufen lassen. Auf dem Kassenbon vermerkte er, die Oliven seien für "Nadira bestimmt".

Naipaul weiß, dass er den Tod seiner Frau beschleunigt hat, unter anderem durch die achtlose, von ihr als tiefe Kränkung empfundene Offenbarung, in den frühen Jahren der Ehe mit Prostituierten verkehrt zu haben. "Man könnte sagen, dass ich sie umgebracht habe", bekennt Naipaul mit dem kritischen Abstand, der auch sein Werk auszeichnet.

Patrick French zeichnet ein faszinierendes Porträt des Schriftstellers, der sich in seinem Diasporadasein wie eine postmoderne Romanfigur selbst erfindet. Während der Dichterkollege Derek Walcott die Karibik verherrlicht, freilich aus der bequemen Ferne seiner amerikanischen Wahlheimat, betrachtet Naipaul die Herkunft als eine Fessel, von der er sich sein Leben lang zu lösen versucht. Der entwurzelte Weltbürger klagt, dass er in England kein Engländer sei und in Indien kein Inder. Er macht die Dislokation zu seinem großen Thema. French sieht in Naipauls Kooperationsbereitschaft zugleich ein Zeichen von Eitelkeit und von Bescheidenheit. Mitunter drängt sich beim Lesen der Verdacht auf, dass der Freimut des Nobelpreisträgers nicht zuletzt von dem Wunsch herrührt, alle Welt wissen zu lassen, wie sehr er der Gestalter und Künstler eines Lebens ist, in dem man lesen kann wie in einem großen Roman mit tragischen Zügen.

GINA THOMAS

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