Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Tote tot sein lassen müssen
Joan Didions Trauerbericht „Das Jahr magischen Denkens” / Von Harald Eggebrecht
Dies ist kein glänzend geschriebenes Buch, obwohl es von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt. Lob passt nicht zu diesem einzelgängerischen Text, der eine Selbstbeobachtung, manchmal Selbstvergewisserung, dann wieder ein Bericht der Irrungen, ein Bekenntnis der Ohnmacht ist unter den Bedingungen von Leid und Trauer. Lob erscheint gönnerhaft nah, als klopfte man Joan Didion auf die Schulter. Das Buch verweigert sich raschen Handhabungen. Es unterläuft sie gleichsam durch Nichtbeachtung und öffnet sich doch, vorausgesetzt man lässt sich ein auf Joans Mitteilungen vom plötzlichen Herztod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne, mit dem sie vierzig Jahre lang verheiratet war. Sie erzählt nicht, sie notiert, hält fest, versucht sich zu erinnern und sich zu beschreiben in ihrem Zurecht- beziehungsweise Gar-nicht-zurecht-Kommen.
Sie hat dafür eine unprätentiöse Sprache. Manchmal fallen ihr Gedichtzeilen ein, sie schlägt sie nach, verifiziert sozusagen Gedächtnisfragmente. Sie spricht zum Leser beiläufig, so als ob er ein Begleiter sei auf einem Weg, der nicht nur in die Kliniken und Krankenhäuser von New York und Los Angeles führt; nicht nur durch ehemals vom Ehepaar Dunne/Didion belebte und geliebte Häuser und Wohnungen an Ost- und Westküste Amerikas; nicht nur durch die zweite Katastrophe, die Krankheitsodyssee ihrer einzigen Tochter Quintana.
Bevor „es” an jenem 30. Dezember 2003 geschieht, haben Joan und John ihre an doppelseitiger Lungenentzündung erkrankte, durch eine Sepsis dem Tode nahe Tochter besucht. Doch Quintana erholt sich in den Wochen nach dem Herztod des Vaters ein wenig, kann sogar mit ihrem Gatten nach Kalifornien reisen und bricht dort wegen Hirnblutungen zusammen, wird operiert, ist weiter dem Tode nah, rafft sich allmählich auf. Ihre Mutter sagt: „Ich bin da”, und weiß doch, dass sie nichts aufhalten, niemanden beschützen und nicht die Weiche umstellen kann, damit „es” nicht geschieht.
Im „Jahr magischen Denkens” geht Joan Didion auch den Weg zurück in die gemeinsame Vergangenheit mit John, auf der Suche nach Signalen, die sie falsch verstand oder fehldeutete, so dass sie die Abbiegung am Unausweichlichen vorbei nicht fand. Auf der Wanderung hält sie inne, überlegt, stellt fest. Der Begleiter erfährt etwas von der Ehe der beiden Schriftsteller, von einem Leben gegenseitigen Vertrauens, unvergesslich normalen Momenten, Gewohnheiten, Eigenschaften. Aber all diese Wegmarken dienen immer der Annäherung an den 30. Dezember und sein Fazit: „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick.” Joan Didion will funktionieren in der Meinung, „es” in den Griff zu bekommen. Unterwegs taucht deshalb die Furcht vor dem Verlust der Kontrolle stets wieder auf.
Ein rationales, kühles, gar analytisches Buch, weil Didion Freud, Melanie Klein und andere liest ? Nein, weil auch das als richtig Erkannte der anderen ihr selbst nicht das „magische Denken” abnehmen kann, in dem sich das Geheimnis ihres Leids und ihrer Trauer verbirgt. Jeder Tag ist ein neuer Tag in bezug auf jenen das Leben ändernden Augenblick. Das Warten an den Krankenlagern der Tochter gehört zu den Ruhepolen der unruhigen Magierin, die den Glauben an die Kontrolle des Unkontrollierbaren selbst dann nur schwer aufgeben kann, wenn die Strudel und Wellen des Verlustschmerzes sie würgen und sie sich weinend am Steuer ihres Wagens findet. Am Ende des Jahres kommt der Autopsiebericht, der bestätigt, dass John sofort tot war. – Quintana starb fünf Monate nach Erscheinen von Joan Didions Buch.
Joan Didion
Das Jahr magischen Denkens
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Claassen Verlag, Berlin 2006. 288 Seiten, 18 Euro.
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Joan Didions Trauerbericht „Das Jahr magischen Denkens” / Von Harald Eggebrecht
Dies ist kein glänzend geschriebenes Buch, obwohl es von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt. Lob passt nicht zu diesem einzelgängerischen Text, der eine Selbstbeobachtung, manchmal Selbstvergewisserung, dann wieder ein Bericht der Irrungen, ein Bekenntnis der Ohnmacht ist unter den Bedingungen von Leid und Trauer. Lob erscheint gönnerhaft nah, als klopfte man Joan Didion auf die Schulter. Das Buch verweigert sich raschen Handhabungen. Es unterläuft sie gleichsam durch Nichtbeachtung und öffnet sich doch, vorausgesetzt man lässt sich ein auf Joans Mitteilungen vom plötzlichen Herztod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne, mit dem sie vierzig Jahre lang verheiratet war. Sie erzählt nicht, sie notiert, hält fest, versucht sich zu erinnern und sich zu beschreiben in ihrem Zurecht- beziehungsweise Gar-nicht-zurecht-Kommen.
Sie hat dafür eine unprätentiöse Sprache. Manchmal fallen ihr Gedichtzeilen ein, sie schlägt sie nach, verifiziert sozusagen Gedächtnisfragmente. Sie spricht zum Leser beiläufig, so als ob er ein Begleiter sei auf einem Weg, der nicht nur in die Kliniken und Krankenhäuser von New York und Los Angeles führt; nicht nur durch ehemals vom Ehepaar Dunne/Didion belebte und geliebte Häuser und Wohnungen an Ost- und Westküste Amerikas; nicht nur durch die zweite Katastrophe, die Krankheitsodyssee ihrer einzigen Tochter Quintana.
Bevor „es” an jenem 30. Dezember 2003 geschieht, haben Joan und John ihre an doppelseitiger Lungenentzündung erkrankte, durch eine Sepsis dem Tode nahe Tochter besucht. Doch Quintana erholt sich in den Wochen nach dem Herztod des Vaters ein wenig, kann sogar mit ihrem Gatten nach Kalifornien reisen und bricht dort wegen Hirnblutungen zusammen, wird operiert, ist weiter dem Tode nah, rafft sich allmählich auf. Ihre Mutter sagt: „Ich bin da”, und weiß doch, dass sie nichts aufhalten, niemanden beschützen und nicht die Weiche umstellen kann, damit „es” nicht geschieht.
Im „Jahr magischen Denkens” geht Joan Didion auch den Weg zurück in die gemeinsame Vergangenheit mit John, auf der Suche nach Signalen, die sie falsch verstand oder fehldeutete, so dass sie die Abbiegung am Unausweichlichen vorbei nicht fand. Auf der Wanderung hält sie inne, überlegt, stellt fest. Der Begleiter erfährt etwas von der Ehe der beiden Schriftsteller, von einem Leben gegenseitigen Vertrauens, unvergesslich normalen Momenten, Gewohnheiten, Eigenschaften. Aber all diese Wegmarken dienen immer der Annäherung an den 30. Dezember und sein Fazit: „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick.” Joan Didion will funktionieren in der Meinung, „es” in den Griff zu bekommen. Unterwegs taucht deshalb die Furcht vor dem Verlust der Kontrolle stets wieder auf.
Ein rationales, kühles, gar analytisches Buch, weil Didion Freud, Melanie Klein und andere liest ? Nein, weil auch das als richtig Erkannte der anderen ihr selbst nicht das „magische Denken” abnehmen kann, in dem sich das Geheimnis ihres Leids und ihrer Trauer verbirgt. Jeder Tag ist ein neuer Tag in bezug auf jenen das Leben ändernden Augenblick. Das Warten an den Krankenlagern der Tochter gehört zu den Ruhepolen der unruhigen Magierin, die den Glauben an die Kontrolle des Unkontrollierbaren selbst dann nur schwer aufgeben kann, wenn die Strudel und Wellen des Verlustschmerzes sie würgen und sie sich weinend am Steuer ihres Wagens findet. Am Ende des Jahres kommt der Autopsiebericht, der bestätigt, dass John sofort tot war. – Quintana starb fünf Monate nach Erscheinen von Joan Didions Buch.
Joan Didion
Das Jahr magischen Denkens
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Claassen Verlag, Berlin 2006. 288 Seiten, 18 Euro.
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