Dieses Buch enthält die lebendig geschriebene Geschichte des Theaters in Deutschland von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, vom jungen Kaiserreich über die Republik bis zum Ende der Hitler-Diktatur 1945. Es spricht von seinen prägenden Personen, von Dramatikern, Regisseuren und Schauspielern, zeigt die Entwicklung führender Theater. Es behandelt den Wandel der Themen, der Stile, der Arbeitsmethoden, gibt also Bericht von einem großen Aufbruch in die Weltgeltung, aber auch von der Spaltung und Zerstörung dieses bedeutenden Kunstbetriebes und von den Bemühungen um die Rettung seiner Substanz. Das Buch macht Zusammenhänge sichtbar zwischen der künstlerischen Arbeit und der Politik, dem Zeitgeist und den gesellschaftlichen Kräften. Günther Rühle nennt es: »Eine Biographie des Theaters«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Drei Zeitalter werden besichtigt
Ein Panorama, wie man es selten entfaltet findet: Günther Rühles "Theater in Deutschland" / Von Andreas Rossmann
Am Morgen des 9. Januar 1887 verlässt Theodor Fontane, seit 1870 Theaterkritiker der "Vossischen Zeitung" in Berlin, seine Wohnung in der Potsdamer Straße und begleitet seinen jungen Kollegen Paul Schlenther ins Residenztheater in der Blumenstraße. Die Aufführung des "eigenartigen Dramas", die das Polizeipräsidium fünf Wochen zuvor genehmigt hatte, ist als "Wohltätigkeits-Matinée" deklariert, denn der Autor gilt, obwohl bereits achtundfünfzig Jahre alt, als Unruhestifter: Henrik Ibsen. Es ist nicht das erste Mal, dass eines seiner Stücke auf eine deutsche Bühne gelangt, doch es sind die "Gespenster", die, wie es schon in der Pause heißt, eine "neue Epoche" eröffnen und das Theater wieder zur "Führerin im Geistesleben" machen.
Mit diesem Tag beginnt das faszinierende Buch "Theater in Deutschland" von Günther Rühle. Nicht die Reichsgründung 1871, nicht die Thronbesteigung Wilhelms II. 1888, auch nicht die Eröffnung des Deutschen Theaters 1883 setzt den Grundstein, sondern die einmalige Aufführung einer privaten Bühne. Denn so sehr Rühle das Theater im zeithistorischen Zusammenhang, in der Abhängigkeit von der Politik wie in der Reflexion derselben betrachtet, so ist es die Geschichte des Schauspiels, wie es auf der Bühne stattfindet, und nicht des Dramas, wie es im Reclamheft steht, die er erzählt: "eine Biographie des Theaters".
Ibsen stand für Zukunft: für eine Sprache der Wirklichkeit, für die Diagnose der Gesellschaft, für die Konflikte der Gegenwart. Der "Ahnherr" der Moderne ist für Rühle auch das Paradigma für ein Theater, das den Menschen neu entdeckt, ihn im Verhältnis zu seiner Zeit, dem Milieu wie der Moral, erschließt und von innen wie von außen besichtigt. Dieser "harte Realismus" wird zum Leitmotiv seiner Darstellung, in der sich Anschauung und Analyse verschränken: Gegen welche Widerstände sich das neue Theater durchsetzen muss; wie die "Wirklichkeitskunst" von Gerhart Hauptmann es vertieft; welche Bedeutung es in dem zur Metropole explodierenden Berlin gewinnt; welche Programme und Parteiungen, Haltungen und Handschriften es ausprägt; wie Schnitzler und Hofmannsthal, aber auch Sudermann, der die Kritik spaltet, die Szene erobern; wie sich Karrieren, am imposantesten die von Max Reinhardt, entfalten; wie Tschechow und Gorki, Strindberg und Maeterlinck, Wilde und Shaw hinzukommen, Büchner endlich entdeckt und die Darstellungskunst, mit Stanislawski und Craig als Entwicklungshelfern, verfeinert wird; wie in der Provinz (Dresden, Düsseldorf, München und Frankfurt) neue Kräfte heranwachsen - das alles und sehr viel mehr rollt Rühle differenziert und detailreich auf. Und zwar gerade nicht aufzählend und chronologisch, sondern polyphon und perspektivenreich: Phasen und Prozesse, Ideen und Impulse werden dargelegt und in die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Kräfteverhältnisse eingeordnet.
Das erste Kapitel wäre, für sich genommen, schon eine gewichtige Studie. Doch drei Zeitalter - "Im Kaiserreich", "In der Republik" und "In der Diktatur"/"Im Exil" - werden besichtigt und damit auch ihre Zäsuren und Brüche, biographischen Kontinuitäten, Strömungen und Strukturen. Es ist, gattungspoetisch gewendet, ein Historiendrama, das Rühle ausbreitet; aber es besteht, die Formen und Formate wechselnd, aus Kammerspielen und Komödien, Politdramen und Tragödien, Massenaufläufen und Monologen, Streit- und Zwiegesprächen, Niederlagen und Triumphen. Wie dabei Überblick und Detail, Akt und Schlüsselszene, Tableau und Porträt miteinander verknüpft werden, das schafft eine lebendige, spannende Darstellung. Nicht weil sie mit breitem Pinsel gemalt, sondern obwohl sie knapp und mit pointierender Feder geschrieben ist, beansprucht sie ohne Anhang 1050 Seiten.
Das Register führt fast zweitausend Personen und mehr als tausend Titel auf. In der Republik wird die Szene umkämpft, ihr Hintergrund unruhig, Lebenserwartungen und Kunstansprüche treiben auseinander, das Theater bringt das Zeitstück hervor und wird zur öffentlichen Angelegenheit wie Politik, Justiz, Literatur. Immer neue Autoren, Regisseure, Schauspieler beziehen Position. Rühle ordnet das Material, indem er Werdegänge und Wirkungen nachzeichnet, ästhetische und darin politische Antipoden kontrastiert, Verflechtungen und Richtungskämpfe sondiert: Der Aufstieg von Leopold Jeßner, der die Klassiker entrümpelt und als "Bürger der Zukunft" begreift, zum ersten Regisseur der Republik, wird beleuchtet, das Nachwachsen von Jürgen Fehling, das Aufrücken von Heinz Hilpert, die Anfangsnähe und wachsende Entfernung zwischen Brecht und Bronnen, das Kräftemessen von Brecht und Piscator, der Kampf der Kritik, Kerr gegen Jhering. "Die Welt ändern" (Walter Hasenclever) wird zum Auftrag an das Theater, der es fordert und überfordert, erneuert und gefährdet.
Konnte das Theater an gegen die Spannungen der Zeit, oder kräftigten diese das Theater?", fragt Rühle und hütet sich, Stücke von Barlach bis Zuckmayer, Bruckner bis Friedrich Wolf sichtend, vor Generalisierungen. Ein erregtes Jahrzehnt tritt vor Augen, dessen Krisen und Katastrophen, Programme und Polarisierungen sich auf der Szene niederschlagen und von ihr zurückstrahlen. In dieser Dialektik ist Rühles Studie besonders erhellend: das Theater nicht (nur) als Spiegel der Wirklichkeit, sondern als Instrument ihrer Inspektion und Sonde von Zukünftigem. Am selben Tag feiern Reinhardt (mit Hofmannsthals "Großem Welttheater") und Jeßner (mit "Rosse" von Richard Billinger) Premiere - und Abschied. "Es war Aschermittwoch. An diesem 1. März 1933 endet das Theater der Republik." Der Exodus ist gewaltig.
Die vielen Individuen, die als Personen oder Stücke aufgerufen werden, "schützen" Rühle vor einfachen Wahrheiten. Das lässt "In der Diktatur" lehrreiche Prägnanz gewinnen und ihn die Widersprüche scharf ausloten: Lessings "Nathan der Weise" wird unterdrückt, "Minna von Barnhelm" der meistgespielte Klassiker. Wie das Theater vereinnahmt wird und sich entzieht, Plattform der Ideologie und Schutzraum, Befehlsempfänger der Barbarei und Bewahrer von künstlerischen Traditionen ist, das handelt Rühle beispielhaft an der Person von Gustaf Gründgens ab: als eine Gratwanderung, bei der die Luft immer dünner wird.
Denn "die Klassiker waren nicht stumm", und mit Fehlings Inszenierung von "Richard III.", einer "künstlerisch ebenso grandiosen wie politisch tollkühnen Aufführung" (K.H. Ruppel), beweist das Theater 1937 noch einmal seine Provokationskraft und Autonomie: "Schlimm ist die Welt, sie muss zugrunde gehen, / wenn man muss schweigend solche Ränke sehen", ruft der Kanzlist ins Publikum. Oft sind es (nur noch) einzelne Sätze, die sich mit der Wirklichkeit verhaken, wie in "Dantons Tod", den Gründgens Ende 1939 inszeniert: "Morgen bist du eine zerbrochene Fiedel; die Melodie darauf ist ausgespielt." Obwohl sie sich "alle direkte Anspielung versagte", ließ die Aufführung das Attentat auf Hitler mitdenken, das Georg Elser kurz zuvor gewagt hatte. "Dramen spiegeln (auch seitenverkehrt) oft Dinge, an die niemand denken konnte": Vielleicht begründet dieser Satz den geheimen Kern der Studie und, wie sie ihn in Anschauung und Erkenntnisse übersetzt, ihren außerordentlichen Rang.
Das Exil des Theaters ist, an Aufführungen gebunden, sehr viel schmaler als das der Literatur. Fast alle Wege führen ins Verstummen, in Verzweiflung, Tod oder Entbehrung. In Zürich überwintert das Theater der Republik, bewahrt Sinn und Integrität, sammelt Kraft für eine Zukunft in Freiheit. "Nun singen sie wieder" von Max Frisch ist die letzte Uraufführung, die hier vor Kriegsende Premiere hat. Einer der letzten Dramatiker, der während des Krieges in Berlin debütiert, ragt weiter - und ganz anders - in die Gegenwart: Herbert Reinecker, der zum meistbeschäftigten Autor des Fernsehkrimis reüssiert, starb am 27. Januar 2007. Aber das kann nur andeuten, wie lange die Akteure des letzten Kapitels noch das Theater in Deutschland bestimmen. Die im Land Gebliebenen wie die ins Exil Getriebenen wirken am Neuanfang nach 1945 mit - in West und Ost: Gründgens und Langhoff, Fehling und Hilpert, Brecht und Bruckner, Kortner und Meisel, Minetti und Quadflieg, Marianne Hoppe und Johanna Höfer. Das ist noch Erinnerung von Lebenden. Was Rühle in diesem Werk heraufholt und dem kollektiven Gedächtnis einschreibt, ist es fast nicht mehr: Seine Quellen sind Rezensionen und Fotos, Briefe, Memoiren, Dokumente und Gespräche, die er so komponiert, dass oft der Eindruck entsteht, er wäre dabei gewesen.
Wie Rühle die Unmittelbarkeit des Kritikers mit der Akribie des Theaterwissenschaftlers und der Umsicht des Zeithistorikers verknüpft, macht das Buch, "hervorgegangen aus fast lebenslangem Erleben und Erfahren von Theater", zu seinem opus summum. Schon die Stofffülle ist von einschüchternder Monumentalität: Theatergeschichte und Nachschlagewerk, Denkmal für Mimen, denen Rühe ensembelweise Kränze flicht, und Plädoyer für eine Kunst, der vielleicht nie wieder solche Erkenntniskraft und Bedeutung zuwachsen wird.
Einwenden lässt sich allenfalls etwas Grundsätzliches: Derart dezidiert und intensiv auf der Folie der Zeit untersucht, wird das Theater um (Gegen-)Positionen gebracht, die, wie marginal auch immer, seinen Spielraum weiten. So ist Rühle die Bauhausbühne von Oskar Schlemmer und Laszlo Moholy-Nagy keine Erwähnung wert. Fehler unterlaufen ihm kaum: Wuppertal verschiebt er ins Ruhrgebiet, lässt Else Lasker-Schülers Färber und Bleicher in Zechen arbeiten und den Bühnenbildner Teo Otto, der aus Remscheid stammt, "heim" in die Schweiz gehen. Doch wie kleinlich. Vieles, was erörtert wird, bildet das Fundament heutiger Debatten: Der Regisseur als Autor, die Freiheit mit den Klassikern, die Frage "Mimus oder Ethos?"
Der Leser, der am 9. Januar 1887 mit Theodor Fontane dessen Wohnung verlässt, kehrt dorthin nicht zurück, sondern wird mitgenommen auf eine Zeitreise, die über achtundfünfzig Jahre führt und ein kulturgeschichtliches Panorama besichtigt, wie es selten ein Buch entfaltet.
Günther Rühle: "Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse - seine Menschen". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 1283 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Panorama, wie man es selten entfaltet findet: Günther Rühles "Theater in Deutschland" / Von Andreas Rossmann
Am Morgen des 9. Januar 1887 verlässt Theodor Fontane, seit 1870 Theaterkritiker der "Vossischen Zeitung" in Berlin, seine Wohnung in der Potsdamer Straße und begleitet seinen jungen Kollegen Paul Schlenther ins Residenztheater in der Blumenstraße. Die Aufführung des "eigenartigen Dramas", die das Polizeipräsidium fünf Wochen zuvor genehmigt hatte, ist als "Wohltätigkeits-Matinée" deklariert, denn der Autor gilt, obwohl bereits achtundfünfzig Jahre alt, als Unruhestifter: Henrik Ibsen. Es ist nicht das erste Mal, dass eines seiner Stücke auf eine deutsche Bühne gelangt, doch es sind die "Gespenster", die, wie es schon in der Pause heißt, eine "neue Epoche" eröffnen und das Theater wieder zur "Führerin im Geistesleben" machen.
Mit diesem Tag beginnt das faszinierende Buch "Theater in Deutschland" von Günther Rühle. Nicht die Reichsgründung 1871, nicht die Thronbesteigung Wilhelms II. 1888, auch nicht die Eröffnung des Deutschen Theaters 1883 setzt den Grundstein, sondern die einmalige Aufführung einer privaten Bühne. Denn so sehr Rühle das Theater im zeithistorischen Zusammenhang, in der Abhängigkeit von der Politik wie in der Reflexion derselben betrachtet, so ist es die Geschichte des Schauspiels, wie es auf der Bühne stattfindet, und nicht des Dramas, wie es im Reclamheft steht, die er erzählt: "eine Biographie des Theaters".
Ibsen stand für Zukunft: für eine Sprache der Wirklichkeit, für die Diagnose der Gesellschaft, für die Konflikte der Gegenwart. Der "Ahnherr" der Moderne ist für Rühle auch das Paradigma für ein Theater, das den Menschen neu entdeckt, ihn im Verhältnis zu seiner Zeit, dem Milieu wie der Moral, erschließt und von innen wie von außen besichtigt. Dieser "harte Realismus" wird zum Leitmotiv seiner Darstellung, in der sich Anschauung und Analyse verschränken: Gegen welche Widerstände sich das neue Theater durchsetzen muss; wie die "Wirklichkeitskunst" von Gerhart Hauptmann es vertieft; welche Bedeutung es in dem zur Metropole explodierenden Berlin gewinnt; welche Programme und Parteiungen, Haltungen und Handschriften es ausprägt; wie Schnitzler und Hofmannsthal, aber auch Sudermann, der die Kritik spaltet, die Szene erobern; wie sich Karrieren, am imposantesten die von Max Reinhardt, entfalten; wie Tschechow und Gorki, Strindberg und Maeterlinck, Wilde und Shaw hinzukommen, Büchner endlich entdeckt und die Darstellungskunst, mit Stanislawski und Craig als Entwicklungshelfern, verfeinert wird; wie in der Provinz (Dresden, Düsseldorf, München und Frankfurt) neue Kräfte heranwachsen - das alles und sehr viel mehr rollt Rühle differenziert und detailreich auf. Und zwar gerade nicht aufzählend und chronologisch, sondern polyphon und perspektivenreich: Phasen und Prozesse, Ideen und Impulse werden dargelegt und in die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Kräfteverhältnisse eingeordnet.
Das erste Kapitel wäre, für sich genommen, schon eine gewichtige Studie. Doch drei Zeitalter - "Im Kaiserreich", "In der Republik" und "In der Diktatur"/"Im Exil" - werden besichtigt und damit auch ihre Zäsuren und Brüche, biographischen Kontinuitäten, Strömungen und Strukturen. Es ist, gattungspoetisch gewendet, ein Historiendrama, das Rühle ausbreitet; aber es besteht, die Formen und Formate wechselnd, aus Kammerspielen und Komödien, Politdramen und Tragödien, Massenaufläufen und Monologen, Streit- und Zwiegesprächen, Niederlagen und Triumphen. Wie dabei Überblick und Detail, Akt und Schlüsselszene, Tableau und Porträt miteinander verknüpft werden, das schafft eine lebendige, spannende Darstellung. Nicht weil sie mit breitem Pinsel gemalt, sondern obwohl sie knapp und mit pointierender Feder geschrieben ist, beansprucht sie ohne Anhang 1050 Seiten.
Das Register führt fast zweitausend Personen und mehr als tausend Titel auf. In der Republik wird die Szene umkämpft, ihr Hintergrund unruhig, Lebenserwartungen und Kunstansprüche treiben auseinander, das Theater bringt das Zeitstück hervor und wird zur öffentlichen Angelegenheit wie Politik, Justiz, Literatur. Immer neue Autoren, Regisseure, Schauspieler beziehen Position. Rühle ordnet das Material, indem er Werdegänge und Wirkungen nachzeichnet, ästhetische und darin politische Antipoden kontrastiert, Verflechtungen und Richtungskämpfe sondiert: Der Aufstieg von Leopold Jeßner, der die Klassiker entrümpelt und als "Bürger der Zukunft" begreift, zum ersten Regisseur der Republik, wird beleuchtet, das Nachwachsen von Jürgen Fehling, das Aufrücken von Heinz Hilpert, die Anfangsnähe und wachsende Entfernung zwischen Brecht und Bronnen, das Kräftemessen von Brecht und Piscator, der Kampf der Kritik, Kerr gegen Jhering. "Die Welt ändern" (Walter Hasenclever) wird zum Auftrag an das Theater, der es fordert und überfordert, erneuert und gefährdet.
Konnte das Theater an gegen die Spannungen der Zeit, oder kräftigten diese das Theater?", fragt Rühle und hütet sich, Stücke von Barlach bis Zuckmayer, Bruckner bis Friedrich Wolf sichtend, vor Generalisierungen. Ein erregtes Jahrzehnt tritt vor Augen, dessen Krisen und Katastrophen, Programme und Polarisierungen sich auf der Szene niederschlagen und von ihr zurückstrahlen. In dieser Dialektik ist Rühles Studie besonders erhellend: das Theater nicht (nur) als Spiegel der Wirklichkeit, sondern als Instrument ihrer Inspektion und Sonde von Zukünftigem. Am selben Tag feiern Reinhardt (mit Hofmannsthals "Großem Welttheater") und Jeßner (mit "Rosse" von Richard Billinger) Premiere - und Abschied. "Es war Aschermittwoch. An diesem 1. März 1933 endet das Theater der Republik." Der Exodus ist gewaltig.
Die vielen Individuen, die als Personen oder Stücke aufgerufen werden, "schützen" Rühle vor einfachen Wahrheiten. Das lässt "In der Diktatur" lehrreiche Prägnanz gewinnen und ihn die Widersprüche scharf ausloten: Lessings "Nathan der Weise" wird unterdrückt, "Minna von Barnhelm" der meistgespielte Klassiker. Wie das Theater vereinnahmt wird und sich entzieht, Plattform der Ideologie und Schutzraum, Befehlsempfänger der Barbarei und Bewahrer von künstlerischen Traditionen ist, das handelt Rühle beispielhaft an der Person von Gustaf Gründgens ab: als eine Gratwanderung, bei der die Luft immer dünner wird.
Denn "die Klassiker waren nicht stumm", und mit Fehlings Inszenierung von "Richard III.", einer "künstlerisch ebenso grandiosen wie politisch tollkühnen Aufführung" (K.H. Ruppel), beweist das Theater 1937 noch einmal seine Provokationskraft und Autonomie: "Schlimm ist die Welt, sie muss zugrunde gehen, / wenn man muss schweigend solche Ränke sehen", ruft der Kanzlist ins Publikum. Oft sind es (nur noch) einzelne Sätze, die sich mit der Wirklichkeit verhaken, wie in "Dantons Tod", den Gründgens Ende 1939 inszeniert: "Morgen bist du eine zerbrochene Fiedel; die Melodie darauf ist ausgespielt." Obwohl sie sich "alle direkte Anspielung versagte", ließ die Aufführung das Attentat auf Hitler mitdenken, das Georg Elser kurz zuvor gewagt hatte. "Dramen spiegeln (auch seitenverkehrt) oft Dinge, an die niemand denken konnte": Vielleicht begründet dieser Satz den geheimen Kern der Studie und, wie sie ihn in Anschauung und Erkenntnisse übersetzt, ihren außerordentlichen Rang.
Das Exil des Theaters ist, an Aufführungen gebunden, sehr viel schmaler als das der Literatur. Fast alle Wege führen ins Verstummen, in Verzweiflung, Tod oder Entbehrung. In Zürich überwintert das Theater der Republik, bewahrt Sinn und Integrität, sammelt Kraft für eine Zukunft in Freiheit. "Nun singen sie wieder" von Max Frisch ist die letzte Uraufführung, die hier vor Kriegsende Premiere hat. Einer der letzten Dramatiker, der während des Krieges in Berlin debütiert, ragt weiter - und ganz anders - in die Gegenwart: Herbert Reinecker, der zum meistbeschäftigten Autor des Fernsehkrimis reüssiert, starb am 27. Januar 2007. Aber das kann nur andeuten, wie lange die Akteure des letzten Kapitels noch das Theater in Deutschland bestimmen. Die im Land Gebliebenen wie die ins Exil Getriebenen wirken am Neuanfang nach 1945 mit - in West und Ost: Gründgens und Langhoff, Fehling und Hilpert, Brecht und Bruckner, Kortner und Meisel, Minetti und Quadflieg, Marianne Hoppe und Johanna Höfer. Das ist noch Erinnerung von Lebenden. Was Rühle in diesem Werk heraufholt und dem kollektiven Gedächtnis einschreibt, ist es fast nicht mehr: Seine Quellen sind Rezensionen und Fotos, Briefe, Memoiren, Dokumente und Gespräche, die er so komponiert, dass oft der Eindruck entsteht, er wäre dabei gewesen.
Wie Rühle die Unmittelbarkeit des Kritikers mit der Akribie des Theaterwissenschaftlers und der Umsicht des Zeithistorikers verknüpft, macht das Buch, "hervorgegangen aus fast lebenslangem Erleben und Erfahren von Theater", zu seinem opus summum. Schon die Stofffülle ist von einschüchternder Monumentalität: Theatergeschichte und Nachschlagewerk, Denkmal für Mimen, denen Rühe ensembelweise Kränze flicht, und Plädoyer für eine Kunst, der vielleicht nie wieder solche Erkenntniskraft und Bedeutung zuwachsen wird.
Einwenden lässt sich allenfalls etwas Grundsätzliches: Derart dezidiert und intensiv auf der Folie der Zeit untersucht, wird das Theater um (Gegen-)Positionen gebracht, die, wie marginal auch immer, seinen Spielraum weiten. So ist Rühle die Bauhausbühne von Oskar Schlemmer und Laszlo Moholy-Nagy keine Erwähnung wert. Fehler unterlaufen ihm kaum: Wuppertal verschiebt er ins Ruhrgebiet, lässt Else Lasker-Schülers Färber und Bleicher in Zechen arbeiten und den Bühnenbildner Teo Otto, der aus Remscheid stammt, "heim" in die Schweiz gehen. Doch wie kleinlich. Vieles, was erörtert wird, bildet das Fundament heutiger Debatten: Der Regisseur als Autor, die Freiheit mit den Klassikern, die Frage "Mimus oder Ethos?"
Der Leser, der am 9. Januar 1887 mit Theodor Fontane dessen Wohnung verlässt, kehrt dorthin nicht zurück, sondern wird mitgenommen auf eine Zeitreise, die über achtundfünfzig Jahre führt und ein kulturgeschichtliches Panorama besichtigt, wie es selten ein Buch entfaltet.
Günther Rühle: "Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse - seine Menschen". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 1283 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2007Im Traumzeitkontinuum
Als Deutschland das romantische Glotzen verlernte: Günther Rühles Biographie des Theaters zwischen 1887 und 1945
Es begann mit einem Knall. Als Ibsens Nora zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne die Tür hinter sich zuschlug, um ein neues emanzipiertes Leben zu beginnen, gab es auch für das deutsche Theater kein Zurück mehr ins Puppenheim, die traute Welt der plüschigen Kulissen und idealisierten Helden. Eine neue Ära brach an, in der nicht mehr Rollen gespielt wurden, sondern Menschen dargestellt. „Ideale, Ideale! Ich muss mich zur Freiheit durcharbeiten,”, ruft Ibsens Frau Alving im zweiten Akt der „Gespenster”, und als das Stück 1887 in Berlin aufgeführt wurde, erkannte sich eine Epoche darin wieder; das Stück wurde zu einem Weckruf für das verschlafene Theaterland.
Was hundert Jahre zuvor Shakespeare für Schiller und Goethe gewesen war, das wurde Ibsen für den sich formierenden Naturalismus: ein Leitstern, an dem man sich ausrichtete, auch wenn das Neue sich vorerst als „Rinnsteinkunst” schmähen lassen musste. In seinem sechzehnten Jahr war das wilhelminische Kaiserreich geprägt von Prosperität und Liberalität, welche die Voraussetzungen schufen, um die Theater zu entrümpeln. Frieden und Wohlstand hatten das Bürgertum hinlänglich gefestigt, um den Blick in die eigenen Abgründe zu wagen.
Aber zu innerer Reinigung und Befreiung von den Lebenslügen der Vergangenheit musste man sich erst „durcharbeiten”, das hatte Ibsens Frau Alving richtig vorhergesehen. Und so verwandelte sich die Protestaktion eines erzürnten Theatergängers gegen den Naturalismus unfreiwillig in ein Symbol. Es war im Jahr 1889, bei der Premiere von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang”, als im fünften Akt die Schmerzensschreie einer Gebärenden auf der Bühne den Arzt und Redakteur des Berliner Tageblatts Isidor Kastan zum Einschreiten bemüßigten. Er zog eine Geburtszange hervor und rief dem Arzt auf der Bühne zu: „Soll ich helfen kommen, Herr Kollege?” Voilà, die Theatermoderne kreißte, und es wurde eine Zangengeburt. Denn sie bedurfte nicht nur an ihrem Beginn vereinter Kräfte.
Profunde 1,5 Kilo
Immer wieder waren es kongeniale Allianzen wie die von Otto Brahm und Gerhart Hauptmann, Bertolt Brecht und Erwin Piscator, Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal sowie produktive Rivalitäten wie zwischen Jürgen Fehling und Leopold Jeßner, aber auch zwischen den tonangebenden Antipoden der Kritik, Alfred Kerr und Herbert Ihering, um die Bühnenkunst als neues Leitmedium zu etablieren – gegen die Widerstände der Reaktion, das Kaiserhaus, das seine Loge kündigte, und die Zensurversuche einer preußischen Administration, deren Unbehagen in dem berühmten Satz eines Berliner Polizeipräsidenten ihren gültigsten Ausdruck gefunden hat: „Die janze Richtung passt uns nicht!” Der erlauchte Großmime Josef Kainz floh vor der Theaterrevolution ans Wiener Burgtheater, einen Hort der hehren Schauspielkunst, und katapultierte sich damit aus dem Zentrum des Geschehens.
Den Zeitraum von 58 Jahren, von 1887 bis 1945, und fast dreizehnhundert Seiten umfasst Günther Rühles Monumentalwerk „Theater in Deutschland”; es sind vier aufeinander folgende Künstlergenerationen, deren Stafette diese Glanzzeit geprägt haben. Der Theaterkritiker Rühle begreift sie als einen geschlossenen Zeitraum. Ehrfurcht gebietend ist allein der wissenschaftliche Anhang. Zeittafel, Glossar und Tausende von Fußnoten empfehlen diese 1,5 Kilo gewichtige und wichtige Theatergeschichte als Standardwerk, das in jeden theaterwissenschaftlichen Handapparat gehört. Der vollständige Verzicht auf Bilddokumente verrät den schreibenden Überzeugungstäter, aber Rühle versteht die Epoche, die er schildert, so zu dramatisieren, dass man von Lemmata geführten Punktlandungen gerne Streifzüge ausschweifender Lektüre folgen lässt.
Immer wieder durchbricht Rühle die Chronologie durch Vorwegnahmen, Rückbezüge, summarische Zwischenbilanzen, streut biographische Skizzen ein, lebendige Schilderungen von Stücken und Inszenierungen und unterfüttert die Darstellung des Theatergeschehens und seiner Tendenzen vom „Berliner Realismus” über die neue Romantik und Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit mit den zeitgeschichtlichen Bedingungen und politischen Umwälzungen, die auf die Theaterwelt durchgriffen. So nennt er sein Buch im Vorwort eine Biographie des Theaters. Denn Theater wird hier als lebendiger Organismus begreifbar, seine überragende Bedeutung und bis heute wirksame Geltung verdankt es dem Anspruch, nicht unbedingt politische Kunst, aber die Kunst politisch zu machen. „Utopische Arbeit” nennt Rühle die Signatur einer Kunstform, die eine neue aufgeklärte Öffentlichkeit schuf.
Landnahme und Kollaps
Obwohl man nichts gänzlich Neues erfährt, ist allein die Art, wie profund und elegant zugleich die verstreuten Bruchstücke zusammengebaut und zusammengeschaut werden, mehr als verdienstvoll. Rühle lässt eine Zeit als Ganzes verstehbar werden, zu deren wissenschaftlicher Sichtung und Erschließung er unter anderem als Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen und dem zweibändigen Kompendium „Theater für die Republik” Maßgebliches beigetragen hat.
Und doch wartet Rühle immer wieder mit erhellenden Korrekturen vermeintlicher Gewissheiten auf. Zum Beispiel, was die durchaus nicht immer stabile Stellung des rapide wachsenden Berlins angeht, das sich erst Mitte der zwanziger Jahre als unangefochtene Theater-Metropole durchsetzte. Bis dahin durchlief die Stadt immer wieder Phasen selbstzufriedener Erstarrung und Hypertrophie, profitierte aber zuletzt stets von den Rochaden ihrer Protagonisten, deren Ausflügen in die Theatersatelliten und den neuen Impulsen, die aus der Peripherie zurückschwappten in den brodelnden Kessel. Und dass Brecht durchaus nicht wie ein Komet aufging am Berliner Theaterhimmel, vermerkt Rühle nicht ohne Genugtuung. Er bohrte sich zäh durch, heißt es da, und schreckte auch nicht davor zurück, telefonisch beim Großkritiker Kerr zu antichambrieren.
Das Überraschendste ist vielleicht, dass Rühle seinen Epochenüberschlag nicht mit der Machtergreifung der Nazis 1933 und der folgenden Säuberung und Gleichschaltung der Theater enden lässt. Lakonisch listet er die Namen all der Theaterkünstler auf, die von den Nazis deportiert und ermordet wurden – das spricht für sich. Gleichwohl war die große Zeit des deutschen Theaters auch unter der Herrschaft der Nazis nicht vorüber. Zu abhängig waren sie, die sich dessen Strahlkraft zunutze machen wollten, von den Stars und Protagonisten, die sich nie vollends zähmen ließen. Und zu sehr waren sie in fruchtlose theaterästhetische Debatten zwischen Thingspiel und Guckkasten verstrickt; bevor sie wussten, ob man sich nun an Shakespeare oder den Griechen orientieren sollte, zerstörte der Bombenkrieg den steinernen Monumentalismus, der zuletzt auch die Theaterästhetik dominierte. Eine gehaltvolle Tranche reserviert Rühle für das Theater dieser Jahre und stellt ihr das meist traurige Schicksal der Theateremigranten gegenüber, von denen eigentlich nur Max Reinhardt mit seinen zirzensischen Massenchoreografien reüssierte.
1942 hatte das deutsche Theater seinen Höhepunkt erreicht, was die Anzahl der Bühnen und der dort Beschäftigten anlangt, es hatte sich innerhalb von zehn Jahren nahezu verdoppelt, und die Höhe der Subventionen, die das Regime in das System der kulturellen Landnahme pumpte, ist bis heute unübertroffen. Kurze Zeit später waren nur noch Ruinen übrig, noch am 2. Mai 1945 steckte ein SS-Trupp auf dem Rückzug das Berliner Staatstheater in Brand. Zur selben Zeit besang man in Zürich, dessen Schauspielhaus zur wichtigsten Bühne des deutschen Exil-Theaters wurde, bereits die Kriegstoten. Im März 1945 hatte Max Frischs dramatisches Requiem „Nun singen sie wieder” Premiere. Die deutsche Theaterlandschaft lag in Trümmern. Mit den Spolien einer untergegangenen Zeit begann der Wiederaufbau als großes moralisches Steineklopfen. CHRISTOPHER SCHMIDT
GÜNTHER RÜHLE: Theater in Deutschland 1887-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 1283 Seiten, 39,90 Euro.
Fünfmal Berlin, von oben: Ferdinand Bonn auf dem Pferd in Shakespeares „Richard III.”, im Zirkus Busch (1911) – Charlotte Schultz und Johannes Riemann in Frank Wedekinds „Hidalla”, Theater an der Königgrätzer Straße (1921) – Arnim Schweizer als Besenbein in Ernst Barlachs „Der tote Tag”, Neues Volkstheater (1923) – Heinz Rühmann und Angela Sallcker in „Androklus und der Löwe” von George Bernard Shaw, Deutsches Theater (1936) – Tilla Durieux in Henrik Ibsens „Frau Inger auf Östrot”, Königliches Schauspielhaus (1917). Fotos: Scherl
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Als Deutschland das romantische Glotzen verlernte: Günther Rühles Biographie des Theaters zwischen 1887 und 1945
Es begann mit einem Knall. Als Ibsens Nora zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne die Tür hinter sich zuschlug, um ein neues emanzipiertes Leben zu beginnen, gab es auch für das deutsche Theater kein Zurück mehr ins Puppenheim, die traute Welt der plüschigen Kulissen und idealisierten Helden. Eine neue Ära brach an, in der nicht mehr Rollen gespielt wurden, sondern Menschen dargestellt. „Ideale, Ideale! Ich muss mich zur Freiheit durcharbeiten,”, ruft Ibsens Frau Alving im zweiten Akt der „Gespenster”, und als das Stück 1887 in Berlin aufgeführt wurde, erkannte sich eine Epoche darin wieder; das Stück wurde zu einem Weckruf für das verschlafene Theaterland.
Was hundert Jahre zuvor Shakespeare für Schiller und Goethe gewesen war, das wurde Ibsen für den sich formierenden Naturalismus: ein Leitstern, an dem man sich ausrichtete, auch wenn das Neue sich vorerst als „Rinnsteinkunst” schmähen lassen musste. In seinem sechzehnten Jahr war das wilhelminische Kaiserreich geprägt von Prosperität und Liberalität, welche die Voraussetzungen schufen, um die Theater zu entrümpeln. Frieden und Wohlstand hatten das Bürgertum hinlänglich gefestigt, um den Blick in die eigenen Abgründe zu wagen.
Aber zu innerer Reinigung und Befreiung von den Lebenslügen der Vergangenheit musste man sich erst „durcharbeiten”, das hatte Ibsens Frau Alving richtig vorhergesehen. Und so verwandelte sich die Protestaktion eines erzürnten Theatergängers gegen den Naturalismus unfreiwillig in ein Symbol. Es war im Jahr 1889, bei der Premiere von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang”, als im fünften Akt die Schmerzensschreie einer Gebärenden auf der Bühne den Arzt und Redakteur des Berliner Tageblatts Isidor Kastan zum Einschreiten bemüßigten. Er zog eine Geburtszange hervor und rief dem Arzt auf der Bühne zu: „Soll ich helfen kommen, Herr Kollege?” Voilà, die Theatermoderne kreißte, und es wurde eine Zangengeburt. Denn sie bedurfte nicht nur an ihrem Beginn vereinter Kräfte.
Profunde 1,5 Kilo
Immer wieder waren es kongeniale Allianzen wie die von Otto Brahm und Gerhart Hauptmann, Bertolt Brecht und Erwin Piscator, Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal sowie produktive Rivalitäten wie zwischen Jürgen Fehling und Leopold Jeßner, aber auch zwischen den tonangebenden Antipoden der Kritik, Alfred Kerr und Herbert Ihering, um die Bühnenkunst als neues Leitmedium zu etablieren – gegen die Widerstände der Reaktion, das Kaiserhaus, das seine Loge kündigte, und die Zensurversuche einer preußischen Administration, deren Unbehagen in dem berühmten Satz eines Berliner Polizeipräsidenten ihren gültigsten Ausdruck gefunden hat: „Die janze Richtung passt uns nicht!” Der erlauchte Großmime Josef Kainz floh vor der Theaterrevolution ans Wiener Burgtheater, einen Hort der hehren Schauspielkunst, und katapultierte sich damit aus dem Zentrum des Geschehens.
Den Zeitraum von 58 Jahren, von 1887 bis 1945, und fast dreizehnhundert Seiten umfasst Günther Rühles Monumentalwerk „Theater in Deutschland”; es sind vier aufeinander folgende Künstlergenerationen, deren Stafette diese Glanzzeit geprägt haben. Der Theaterkritiker Rühle begreift sie als einen geschlossenen Zeitraum. Ehrfurcht gebietend ist allein der wissenschaftliche Anhang. Zeittafel, Glossar und Tausende von Fußnoten empfehlen diese 1,5 Kilo gewichtige und wichtige Theatergeschichte als Standardwerk, das in jeden theaterwissenschaftlichen Handapparat gehört. Der vollständige Verzicht auf Bilddokumente verrät den schreibenden Überzeugungstäter, aber Rühle versteht die Epoche, die er schildert, so zu dramatisieren, dass man von Lemmata geführten Punktlandungen gerne Streifzüge ausschweifender Lektüre folgen lässt.
Immer wieder durchbricht Rühle die Chronologie durch Vorwegnahmen, Rückbezüge, summarische Zwischenbilanzen, streut biographische Skizzen ein, lebendige Schilderungen von Stücken und Inszenierungen und unterfüttert die Darstellung des Theatergeschehens und seiner Tendenzen vom „Berliner Realismus” über die neue Romantik und Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit mit den zeitgeschichtlichen Bedingungen und politischen Umwälzungen, die auf die Theaterwelt durchgriffen. So nennt er sein Buch im Vorwort eine Biographie des Theaters. Denn Theater wird hier als lebendiger Organismus begreifbar, seine überragende Bedeutung und bis heute wirksame Geltung verdankt es dem Anspruch, nicht unbedingt politische Kunst, aber die Kunst politisch zu machen. „Utopische Arbeit” nennt Rühle die Signatur einer Kunstform, die eine neue aufgeklärte Öffentlichkeit schuf.
Landnahme und Kollaps
Obwohl man nichts gänzlich Neues erfährt, ist allein die Art, wie profund und elegant zugleich die verstreuten Bruchstücke zusammengebaut und zusammengeschaut werden, mehr als verdienstvoll. Rühle lässt eine Zeit als Ganzes verstehbar werden, zu deren wissenschaftlicher Sichtung und Erschließung er unter anderem als Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen und dem zweibändigen Kompendium „Theater für die Republik” Maßgebliches beigetragen hat.
Und doch wartet Rühle immer wieder mit erhellenden Korrekturen vermeintlicher Gewissheiten auf. Zum Beispiel, was die durchaus nicht immer stabile Stellung des rapide wachsenden Berlins angeht, das sich erst Mitte der zwanziger Jahre als unangefochtene Theater-Metropole durchsetzte. Bis dahin durchlief die Stadt immer wieder Phasen selbstzufriedener Erstarrung und Hypertrophie, profitierte aber zuletzt stets von den Rochaden ihrer Protagonisten, deren Ausflügen in die Theatersatelliten und den neuen Impulsen, die aus der Peripherie zurückschwappten in den brodelnden Kessel. Und dass Brecht durchaus nicht wie ein Komet aufging am Berliner Theaterhimmel, vermerkt Rühle nicht ohne Genugtuung. Er bohrte sich zäh durch, heißt es da, und schreckte auch nicht davor zurück, telefonisch beim Großkritiker Kerr zu antichambrieren.
Das Überraschendste ist vielleicht, dass Rühle seinen Epochenüberschlag nicht mit der Machtergreifung der Nazis 1933 und der folgenden Säuberung und Gleichschaltung der Theater enden lässt. Lakonisch listet er die Namen all der Theaterkünstler auf, die von den Nazis deportiert und ermordet wurden – das spricht für sich. Gleichwohl war die große Zeit des deutschen Theaters auch unter der Herrschaft der Nazis nicht vorüber. Zu abhängig waren sie, die sich dessen Strahlkraft zunutze machen wollten, von den Stars und Protagonisten, die sich nie vollends zähmen ließen. Und zu sehr waren sie in fruchtlose theaterästhetische Debatten zwischen Thingspiel und Guckkasten verstrickt; bevor sie wussten, ob man sich nun an Shakespeare oder den Griechen orientieren sollte, zerstörte der Bombenkrieg den steinernen Monumentalismus, der zuletzt auch die Theaterästhetik dominierte. Eine gehaltvolle Tranche reserviert Rühle für das Theater dieser Jahre und stellt ihr das meist traurige Schicksal der Theateremigranten gegenüber, von denen eigentlich nur Max Reinhardt mit seinen zirzensischen Massenchoreografien reüssierte.
1942 hatte das deutsche Theater seinen Höhepunkt erreicht, was die Anzahl der Bühnen und der dort Beschäftigten anlangt, es hatte sich innerhalb von zehn Jahren nahezu verdoppelt, und die Höhe der Subventionen, die das Regime in das System der kulturellen Landnahme pumpte, ist bis heute unübertroffen. Kurze Zeit später waren nur noch Ruinen übrig, noch am 2. Mai 1945 steckte ein SS-Trupp auf dem Rückzug das Berliner Staatstheater in Brand. Zur selben Zeit besang man in Zürich, dessen Schauspielhaus zur wichtigsten Bühne des deutschen Exil-Theaters wurde, bereits die Kriegstoten. Im März 1945 hatte Max Frischs dramatisches Requiem „Nun singen sie wieder” Premiere. Die deutsche Theaterlandschaft lag in Trümmern. Mit den Spolien einer untergegangenen Zeit begann der Wiederaufbau als großes moralisches Steineklopfen. CHRISTOPHER SCHMIDT
GÜNTHER RÜHLE: Theater in Deutschland 1887-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 1283 Seiten, 39,90 Euro.
Fünfmal Berlin, von oben: Ferdinand Bonn auf dem Pferd in Shakespeares „Richard III.”, im Zirkus Busch (1911) – Charlotte Schultz und Johannes Riemann in Frank Wedekinds „Hidalla”, Theater an der Königgrätzer Straße (1921) – Arnim Schweizer als Besenbein in Ernst Barlachs „Der tote Tag”, Neues Volkstheater (1923) – Heinz Rühmann und Angela Sallcker in „Androklus und der Löwe” von George Bernard Shaw, Deutsches Theater (1936) – Tilla Durieux in Henrik Ibsens „Frau Inger auf Östrot”, Königliches Schauspielhaus (1917). Fotos: Scherl
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein Epochenwerk hat Rezensent Rolf Michaelis hier gelesen, ein "gewaltiges Panorama", das die Geschichte des Theaters vom Kaiserreich bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur erzählt. Ja erzählt, darauf legt Michaelis Wert. Denn mit Günther Rühle schreibe kein "Theaterprofessor", sondern ein Theatermann, der wisse, dass eine Anekdote mitunter erklären kann als ein analytischer Exkurs. Und was das Theater im Kaiserreich für Stoff besorgte! Michaelis ist einfach überwältigt von den kraftvollen Auftritten, in denen ein Josef Kainz zwar den Roten Bäcker in Hauptmanns "Webern" spielte, aber bei der Aufführung in Wien demonstrativ den Brillantring trug, den ihm einst Ludwig II. vermacht hatte. Das Kaiserhaus kündigte trotzdem seine Loge. Und es schreibt auch der Staatsbürger, betont Michaelis, erschüttert darüber, wie barbarisch sich Deutschland 1933 von seinen "besten Kräften seiner Kultur" trennte. Hier erzähle Rühle nicht mehr, betont Michaelis. Er liste nur auf vier Seiten die Namen auf, die nach der Machtergreifung der Nazis das deutsche Theater verlassen mussten. Es sind nur die bekanntesten Namen. Eine vollständige Liste fülle zwei Bände.
© Perlentaucher Medien GmbH
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