Lange erwartet: Der dritte Band von Günther Rühles großer Theatergeschichte
Der dritte Band von Günther Rühles »Theater in Deutschland« ist kein historischer Rückblick, sondern die lebendige Schilderung eines Zeitgenossen. Es ist die Zeit der Skandale und Debatten, der Experimente und Neuanfänge, die Günther Rühle in seinem Lebenswerk vergegenwärtigt. Von Rainer Werner Fassbinder bis Peter Zadek, von Hannelore Hoger bis Martin Wuttke treten all die Künstlerinnen und Künstler auf, die diese große Theaterepoche geprägt haben. Es geht um die Aufbrüche und Veränderungen unserer Zeit, um die Wirkung und Strahlkraft des Theaters in beiden Teilen Deutschlands, bis heute. Auch wenn der Band nach dem Tod Günther Rühles Fragment geblieben ist: Er erzählt fulminant von der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft des Theaters.
»Mehr als ein Vierteljahrhundert hat Günther Rühle das deutschsprachige Theatergeschehen begleitet und geprägt wie kein anderer.« Deutschlandfunk Kultur
»In den Klassikern erkannte er das Zukünftige, im Zeitgenössischen das tatsächlich Neue. Sein waches Interesse für die spezifische Persönlichkeit von Künstlern verband sich ganz selbstverständlich mit einem genauen Blick für die großen Zusammenhänge. Es war ihm eine Lust, im Detail die große Linie aufzuspüren.« Hermann Beil, Theater heute
Der dritte Band von Günther Rühles »Theater in Deutschland« ist kein historischer Rückblick, sondern die lebendige Schilderung eines Zeitgenossen. Es ist die Zeit der Skandale und Debatten, der Experimente und Neuanfänge, die Günther Rühle in seinem Lebenswerk vergegenwärtigt. Von Rainer Werner Fassbinder bis Peter Zadek, von Hannelore Hoger bis Martin Wuttke treten all die Künstlerinnen und Künstler auf, die diese große Theaterepoche geprägt haben. Es geht um die Aufbrüche und Veränderungen unserer Zeit, um die Wirkung und Strahlkraft des Theaters in beiden Teilen Deutschlands, bis heute. Auch wenn der Band nach dem Tod Günther Rühles Fragment geblieben ist: Er erzählt fulminant von der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft des Theaters.
»Mehr als ein Vierteljahrhundert hat Günther Rühle das deutschsprachige Theatergeschehen begleitet und geprägt wie kein anderer.« Deutschlandfunk Kultur
»In den Klassikern erkannte er das Zukünftige, im Zeitgenössischen das tatsächlich Neue. Sein waches Interesse für die spezifische Persönlichkeit von Künstlern verband sich ganz selbstverständlich mit einem genauen Blick für die großen Zusammenhänge. Es war ihm eine Lust, im Detail die große Linie aufzuspüren.« Hermann Beil, Theater heute
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Die Leidenschaft ist aufgebraucht, es war die beste Zeit
Ein Fragment von
achthundert Seiten,
posthum erschienen: Der dritte Band von Günther Rühles "Theater in Deutschland" gilt den Jahren 1967 bis 1995.
Von Hubert Spiegel
Theaterkritik ist die Kunst deutender Vergegenwärtigung eines in der Vergangenheit liegenden Bühnengeschehens. In diesem Sinne ist die scheinbar so aktualitätshörige Tageskritik Teil einer fortlaufenden Theatergeschichte - auch da, wo sie selbst sich nicht so versteht. Niemand hat dies so deutlich gezeigt und so fruchtbar zu machen gewusst wie Günther Rühle. Dass in den Inszenierungen, die er sah, die Gegenwart, in der er lebte, zu spüren sein müsse, war die Forderung, die er erhob. Und es war die Hoffnung, die er hegte. Von einem Theater ohne Zeitbezug, einer Theatergeschichte ohne Zeitgeschichte versprach er sich nicht allzu viel. Dass das Theater, je länger Rühle lebte, ihm immer weniger über diejenigen erzählte, für die es gespielt wurde, und immer mehr von denjenigen, die es machten, hätte ihn vermutlich noch mehr geschmerzt, wenn er nicht in einem existenziellen Sinn an das Theater geglaubt hätte. Rankes Satz, dass die Geschichte den Menschen zum Gegenstand habe, hat er, der sich weder als Historiker noch als Theaterwissenschaftler verstand, auf das Theater angewendet.
Westberlin, Januar 1970. Der Regisseur Peter Palitzsch, der neun Jahre zuvor aus der DDR in den Westen gegangen war, fasst vier von Shakespeares Königsdramen zu einem Projekt zusammen, das er "Der Krieg der Rosen" nannte. Es geht blutig zu: Söhne erschlagen ihre Väter, Väter töten ihre Söhne, der König hockt erschöpft zwischen Leichen auf einem Schlachtfeld. "Dies alles", so Günther Rühle im dritten Band von "Theater in Deutschland", seiner monumentalen Darstellung des Theaters zwischen 1887 und 1995, "bei hellstem Licht, vor weißen Wänden, ausgestellt unter einem großen Fries von Skeletten und Schädeln über der Bühne, auf die verbrannte Balken zerstörter Häuser herabhingen wie Geschosse aus dem gemordeten Himmel. Gespielt von Schauspielern in der zeigenden Brecht'schen Spielweise. Schneller, oft filmschnitthafter Wechsel der Szenen (Wilfried Minks baute ein System von Schiebewänden). Es herrschte bannende Distanz. Zweimal drei Stunden. Am Ende Ovationen, ,ein Ereignis'. - So begann das Jahr, in dem der Krieg in Vietnam auch in Europa erlebbar wurde." Und so packend, so unmittelbar liest es sich, wenn Günther Rühle vergegenwärtigende Beschreibung und Zeitgeschichte miteinander verschränkt.
Für den ersten, 2007 erschienenen Band seiner monumentalen Darstellung, der 1887 einsetzt, hat Rühle aus dem Abstand von Jahrzehnten die Kritikerkollegen früherer Theaterepochen als Quelle in die Pflicht genommen, um beschreiben und vergegenwärtigen zu können, was er selbst weder auf der Bühne noch als Aufzeichnung sehen konnte. Auch für große Teile des zweiten Bandes, der die Jahre von 1945 bis 1966 umfasst und 2014 erschienen ist, gilt diese Einschränkung noch. Der dritte, jetzt posthum erschienene Band, nimmt die Jahre von 1967 bis 1995 in den Blick. Rühle hat fast bis zu seinem Lebensende daran gearbeitet, bevor er das Augenlicht verlor. Da war die Arbeit, die er nun in andere Hände legen musste, zwar schon weit fortgeschritten und umfasste mehr als siebenhundert Seiten, aber auch die durchgesehene und an etlichen Stellen ergänzte Fassung, die Hermann Beil und Stephan Dörschel jetzt herausgegeben haben, ist noch Fragment geblieben. Im September 2020 schickte der Autor seinen Herausgebern das Manuskript, am 10. Dezember 2021 starb Günther Rühle im Alter von 97 Jahren. Drei Monate zuvor war noch ein letztes Werk erschienen: ein Lebens- und Abschiedsbuch mit dem Titel "Ein alter Mann wird älter" (F.A.Z. vom 24. September).
Im dritten Band von "Theater in Deutschland" musste geschehen, wovor sich Rühle, wie der längst selbst zur Theatergeschichte gehörende Hermann Beil berichtet, geradezu gefürchtet habe: Er wandelte sich während des Schreibens nicht nur vom Rekonstrukteur lange vergangener Aufführungen zum Augenzeugen, der nun vieles aus eigener Anschauung berichten und kommentieren konnte, sondern er wird selbst auch zum handelnden Objekt seiner Geschichte. Denn Rühle, der seine journalistische Laufbahn 1953 in Frankfurt begonnen hatte und 1960 in die Redaktion der F.A.Z. eingetreten war, deren Feuilleton von 1974 bis 1985 leitete, übernahm 1985 die Intendanz des Frankfurter Schauspiels. Den Mann, den der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann zum Nachfolger Adolf Dresens machen wollte, beschreibt Günther Rühle so: "Seit dreißig Jahren Kritiker in Frankfurt, seit zehn Jahren Feuilletonchef der F.A.Z., 60 Jahre alt, an Herbert Iherings Theaterzerlegekunst geschult. Rühle lehnte zweimal ab, dann wuchs der Druck. Im Februar 1985 wechselte er die Fronten . . ."
Der Skandal um Rainer Werner Fassbinders als antisemitisch verstandenes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" schien da bereits ausgestanden, denn Dresen hatte im Jahr zuvor nach einem Gespräch mit der Jüdischen Gemeinde der Stadt auf die geplante Aufführung verzichtet, und als der Direktor der Alten Oper sich die Frankfurter Aufführung des Stücks sichern wollte, wurde er von seinem Dienstherrn, dem damaligen Frankfurter Oberbürgermeister, zurückgepfiffen. Der Intendant Rühle, der das Stück auf den Spielplan setzte, ließ einen Skandal wieder auflodern, den der Kritiker Rühle zuvor aus der Distanz verfolgt hatte.
Es sollte nicht der einzige Skandal in Rühles Intendantenzeit bleiben: Einar Schleef, den Rühle als einen der Ersten angesprochen hatte, als er Stücke, Regisseure und Schauspieler zu suchen begann, inszenierte "Mütter". Mehr als die Hälfte des Publikums verließ die Premiere. Rühle hielt zu ihm, und Schleef setzte sich schließlich durch. Und noch ein großer Erfolg war zu verzeichnen: Als der Regisseur Holger Berg sich während der Proben mit seinem Hauptdarsteller überwarf und rasch Ersatz hermusste, stieg ein junger Schauspieler, der für die Nebenrolle des Osrik vorgesehen war, über Nacht zum Hamlet auf: Martin Wuttke. "Es war eine Art von Bühnengeburt", schreibt Rühle.
Fünf Jahre später veranstaltete das Schauspiel Frankfurt die Heiner Müller gewidmete "Experimenta 6". Es war "die umfassendste Werkschau, die je einem Dramatiker in Deutschland eingerichtet wurde". Ulrich Mühe, den Heiner Müller 1982 aus Karl-Marx-Stadt ans BE geholt hatte, stand auf der Bühne, "im Rücken die Ruinen Europas". Aber es waren nur die Ruinen der DDR, deren Sterben kurz zuvor begonnen hatte. Heiner Müller sollte die "Experimenta 6" zwar als "Begräbnis erster Klasse" bezeichnen, aber für Rühle blieb sie die "intensivste Begegnung der BRD mit einem in der DDR gewachsenen Werk im Augenblick vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten". Das Theater hatte den "politischen Einigungsprozess im noch gespaltenen Land" nicht mitgestaltet, aber es hatte ihn "berührt".
Allzu viele solcher Berührungsmomente zwischen Politik und Theater hatte Rühle nicht mehr zu verzeichnen. Die Epoche des bürgerlichen Theaters ist vorüber. Rühle misst ihr die Zeitspanne von 250 Jahren zu und wählte für die drei Bände seines Opus magnum einen Ausschnitt, der mit Ibsens Aufstieg begann und mit Heiner Müllers Tod endete. Peter Steins Inszenierung des ganzen " Faust", verteilt auf vier Teile an zwei Tagen auf der Expo 2000 in Hannover, war bereits ein Epitaph. Rühle beschließt sein überwältigendes, durchgehend spannungsreich zu lesendes Fragment, an dessen Anfang er Brechts Siegeszug setzt, mit einer kurzen Bilanz, die nicht ganz frei ist von Bitterkeit. Aber das kann nicht anders sein am Ende eines Lebens, das siebzig Jahre lang von einer großen Konstante geprägt war: das Theater und die Prozesse seines Wandels zu beobachten, zu analysieren und, wann immer möglich, denkend zu genießen.
Günther Rühle: "Theater in Deutschland 1967 - 1995". Seine Ereignisse - seine Menschen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 800 S., geb., 98,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Fragment von
achthundert Seiten,
posthum erschienen: Der dritte Band von Günther Rühles "Theater in Deutschland" gilt den Jahren 1967 bis 1995.
Von Hubert Spiegel
Theaterkritik ist die Kunst deutender Vergegenwärtigung eines in der Vergangenheit liegenden Bühnengeschehens. In diesem Sinne ist die scheinbar so aktualitätshörige Tageskritik Teil einer fortlaufenden Theatergeschichte - auch da, wo sie selbst sich nicht so versteht. Niemand hat dies so deutlich gezeigt und so fruchtbar zu machen gewusst wie Günther Rühle. Dass in den Inszenierungen, die er sah, die Gegenwart, in der er lebte, zu spüren sein müsse, war die Forderung, die er erhob. Und es war die Hoffnung, die er hegte. Von einem Theater ohne Zeitbezug, einer Theatergeschichte ohne Zeitgeschichte versprach er sich nicht allzu viel. Dass das Theater, je länger Rühle lebte, ihm immer weniger über diejenigen erzählte, für die es gespielt wurde, und immer mehr von denjenigen, die es machten, hätte ihn vermutlich noch mehr geschmerzt, wenn er nicht in einem existenziellen Sinn an das Theater geglaubt hätte. Rankes Satz, dass die Geschichte den Menschen zum Gegenstand habe, hat er, der sich weder als Historiker noch als Theaterwissenschaftler verstand, auf das Theater angewendet.
Westberlin, Januar 1970. Der Regisseur Peter Palitzsch, der neun Jahre zuvor aus der DDR in den Westen gegangen war, fasst vier von Shakespeares Königsdramen zu einem Projekt zusammen, das er "Der Krieg der Rosen" nannte. Es geht blutig zu: Söhne erschlagen ihre Väter, Väter töten ihre Söhne, der König hockt erschöpft zwischen Leichen auf einem Schlachtfeld. "Dies alles", so Günther Rühle im dritten Band von "Theater in Deutschland", seiner monumentalen Darstellung des Theaters zwischen 1887 und 1995, "bei hellstem Licht, vor weißen Wänden, ausgestellt unter einem großen Fries von Skeletten und Schädeln über der Bühne, auf die verbrannte Balken zerstörter Häuser herabhingen wie Geschosse aus dem gemordeten Himmel. Gespielt von Schauspielern in der zeigenden Brecht'schen Spielweise. Schneller, oft filmschnitthafter Wechsel der Szenen (Wilfried Minks baute ein System von Schiebewänden). Es herrschte bannende Distanz. Zweimal drei Stunden. Am Ende Ovationen, ,ein Ereignis'. - So begann das Jahr, in dem der Krieg in Vietnam auch in Europa erlebbar wurde." Und so packend, so unmittelbar liest es sich, wenn Günther Rühle vergegenwärtigende Beschreibung und Zeitgeschichte miteinander verschränkt.
Für den ersten, 2007 erschienenen Band seiner monumentalen Darstellung, der 1887 einsetzt, hat Rühle aus dem Abstand von Jahrzehnten die Kritikerkollegen früherer Theaterepochen als Quelle in die Pflicht genommen, um beschreiben und vergegenwärtigen zu können, was er selbst weder auf der Bühne noch als Aufzeichnung sehen konnte. Auch für große Teile des zweiten Bandes, der die Jahre von 1945 bis 1966 umfasst und 2014 erschienen ist, gilt diese Einschränkung noch. Der dritte, jetzt posthum erschienene Band, nimmt die Jahre von 1967 bis 1995 in den Blick. Rühle hat fast bis zu seinem Lebensende daran gearbeitet, bevor er das Augenlicht verlor. Da war die Arbeit, die er nun in andere Hände legen musste, zwar schon weit fortgeschritten und umfasste mehr als siebenhundert Seiten, aber auch die durchgesehene und an etlichen Stellen ergänzte Fassung, die Hermann Beil und Stephan Dörschel jetzt herausgegeben haben, ist noch Fragment geblieben. Im September 2020 schickte der Autor seinen Herausgebern das Manuskript, am 10. Dezember 2021 starb Günther Rühle im Alter von 97 Jahren. Drei Monate zuvor war noch ein letztes Werk erschienen: ein Lebens- und Abschiedsbuch mit dem Titel "Ein alter Mann wird älter" (F.A.Z. vom 24. September).
Im dritten Band von "Theater in Deutschland" musste geschehen, wovor sich Rühle, wie der längst selbst zur Theatergeschichte gehörende Hermann Beil berichtet, geradezu gefürchtet habe: Er wandelte sich während des Schreibens nicht nur vom Rekonstrukteur lange vergangener Aufführungen zum Augenzeugen, der nun vieles aus eigener Anschauung berichten und kommentieren konnte, sondern er wird selbst auch zum handelnden Objekt seiner Geschichte. Denn Rühle, der seine journalistische Laufbahn 1953 in Frankfurt begonnen hatte und 1960 in die Redaktion der F.A.Z. eingetreten war, deren Feuilleton von 1974 bis 1985 leitete, übernahm 1985 die Intendanz des Frankfurter Schauspiels. Den Mann, den der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann zum Nachfolger Adolf Dresens machen wollte, beschreibt Günther Rühle so: "Seit dreißig Jahren Kritiker in Frankfurt, seit zehn Jahren Feuilletonchef der F.A.Z., 60 Jahre alt, an Herbert Iherings Theaterzerlegekunst geschult. Rühle lehnte zweimal ab, dann wuchs der Druck. Im Februar 1985 wechselte er die Fronten . . ."
Der Skandal um Rainer Werner Fassbinders als antisemitisch verstandenes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" schien da bereits ausgestanden, denn Dresen hatte im Jahr zuvor nach einem Gespräch mit der Jüdischen Gemeinde der Stadt auf die geplante Aufführung verzichtet, und als der Direktor der Alten Oper sich die Frankfurter Aufführung des Stücks sichern wollte, wurde er von seinem Dienstherrn, dem damaligen Frankfurter Oberbürgermeister, zurückgepfiffen. Der Intendant Rühle, der das Stück auf den Spielplan setzte, ließ einen Skandal wieder auflodern, den der Kritiker Rühle zuvor aus der Distanz verfolgt hatte.
Es sollte nicht der einzige Skandal in Rühles Intendantenzeit bleiben: Einar Schleef, den Rühle als einen der Ersten angesprochen hatte, als er Stücke, Regisseure und Schauspieler zu suchen begann, inszenierte "Mütter". Mehr als die Hälfte des Publikums verließ die Premiere. Rühle hielt zu ihm, und Schleef setzte sich schließlich durch. Und noch ein großer Erfolg war zu verzeichnen: Als der Regisseur Holger Berg sich während der Proben mit seinem Hauptdarsteller überwarf und rasch Ersatz hermusste, stieg ein junger Schauspieler, der für die Nebenrolle des Osrik vorgesehen war, über Nacht zum Hamlet auf: Martin Wuttke. "Es war eine Art von Bühnengeburt", schreibt Rühle.
Fünf Jahre später veranstaltete das Schauspiel Frankfurt die Heiner Müller gewidmete "Experimenta 6". Es war "die umfassendste Werkschau, die je einem Dramatiker in Deutschland eingerichtet wurde". Ulrich Mühe, den Heiner Müller 1982 aus Karl-Marx-Stadt ans BE geholt hatte, stand auf der Bühne, "im Rücken die Ruinen Europas". Aber es waren nur die Ruinen der DDR, deren Sterben kurz zuvor begonnen hatte. Heiner Müller sollte die "Experimenta 6" zwar als "Begräbnis erster Klasse" bezeichnen, aber für Rühle blieb sie die "intensivste Begegnung der BRD mit einem in der DDR gewachsenen Werk im Augenblick vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten". Das Theater hatte den "politischen Einigungsprozess im noch gespaltenen Land" nicht mitgestaltet, aber es hatte ihn "berührt".
Allzu viele solcher Berührungsmomente zwischen Politik und Theater hatte Rühle nicht mehr zu verzeichnen. Die Epoche des bürgerlichen Theaters ist vorüber. Rühle misst ihr die Zeitspanne von 250 Jahren zu und wählte für die drei Bände seines Opus magnum einen Ausschnitt, der mit Ibsens Aufstieg begann und mit Heiner Müllers Tod endete. Peter Steins Inszenierung des ganzen " Faust", verteilt auf vier Teile an zwei Tagen auf der Expo 2000 in Hannover, war bereits ein Epitaph. Rühle beschließt sein überwältigendes, durchgehend spannungsreich zu lesendes Fragment, an dessen Anfang er Brechts Siegeszug setzt, mit einer kurzen Bilanz, die nicht ganz frei ist von Bitterkeit. Aber das kann nicht anders sein am Ende eines Lebens, das siebzig Jahre lang von einer großen Konstante geprägt war: das Theater und die Prozesse seines Wandels zu beobachten, zu analysieren und, wann immer möglich, denkend zu genießen.
Günther Rühle: "Theater in Deutschland 1967 - 1995". Seine Ereignisse - seine Menschen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 800 S., geb., 98,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Katja Kollmann kommt mit der nötigen Portion Hintergrundwissen auf ihre Kosten in Günther Rühles fragmentarischer deutscher Theatergeschichte der Jahre 1967-1995. Der nach dem Tod des Theaterkritikers von Hermann Beil und Stephan Dörschel herausgegebene Band besticht laut Kollmann durch Rühles Liebe zum Theater und seiner Protagonisten. Mit Hilfe des Glossars kann sich die Leserin die Theaterlandschaft der Zeit über Schauspieler, Regisseure oder Bühnenbildner erschließen, wobei der Autor auf Stein, Peymann und Zadek fokussiert, wie Kollmann erklärt. Dass Tanz- und Jugendtheater im Buch kaum beziehungsweise gar nicht vorkommen, bedauert Kollmann. Rühles Eloquenz und Fachkenntnis aber überzeugt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Buch-Trilogie ist eine Ruhmestat und - allein für sich genommen - eine Lebensleistung. Andreas Wilink kultur.west 20230124
Rezensentin Katja Kollmann kommt mit der nötigen Portion Hintergrundwissen auf ihre Kosten in Günther Rühles fragmentarischer deutscher Theatergeschichte der Jahre 1967-1995. Der nach dem Tod des Theaterkritikers von Hermann Beil und Stephan Dörschel herausgegebene Band besticht laut Kollmann durch Rühles Liebe zum Theater und seiner Protagonisten. Mit Hilfe des Glossars kann sich die Leserin die Theaterlandschaft der Zeit über Schauspieler, Regisseure oder Bühnenbildner erschließen, wobei der Autor auf Stein, Peymann und Zadek fokussiert, wie Kollmann erklärt. Dass Tanz- und Jugendtheater im Buch kaum beziehungsweise gar nicht vorkommen, bedauert Kollmann. Rühles Eloquenz und Fachkenntnis aber überzeugt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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