Auf Reisen durch Sizilien ist, neben all den Naturschönheiten und herausragenden Kulturdenkmälern, eine vielfältige Theaterlandschaft zu entdecken, die die Autoren zu weiteren Nachforschungen inspirierte. In Fortsetzung ihrer früheren Publikation zu den oberitalienischen Theatern konzipierten sie nun ein Buch über die Theater des Südens. "Theater in Sizilien" widmet sich einem weiten Spektrum von Theaterformen und -bauten aus 2500 Jahren: antiken Theatern, Festinszenierungen und Prozessionen, barocken Villen- und Palasttheatern, bürgerlichen Theatern und Opernhäusern, Volks- und Puppentheatern sowie modernen Theaterformen.Das Buch vereint lebendige Textbeiträge und reiches, neu angefertigtes Bildmaterial.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Rossmann freut sich über die von Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht zusammengestellte Reise durch 2500 Jahre sizilianischer Theatergeschichte. Dass es dabei nicht nur um Aufführungspraxis geht, sondern vor allem auch um die Bauten in Messina, Palermo oder Syracusa (das größte Theater der Antike!), gefällt Rossmann gut. Souverän erscheint ihm, wie die Autoren sowohl kunsthistorisches, soziales, politisches und baugeschichtliches Interesse bedienen als auch Lesern von Kulturreiseführern entgegenkommen, aspekt-, detail- und bildreich, findet Rossmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2020Auf dieser Insel pflegt man dramatische Exzesse
Gesteigerter Ausdruck des Lebens: Ein Band führt bilderreich durch zweieinhalbtausend Jahre sizilianische Theatergeschichte.
Nach Sizilien reist man auch, um sich Theater anzuschauen. Weniger der Aufführungen als der Bauten und Orte wegen. Wer beim ersten Besuch des Teatro Massimo in Palermo eine dreißig Jahre alte Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" über die Bühne rumpeln sah, kam als Zuschauer dennoch auf seine Kosten. Nach Paris und Wien ist es das drittgrößte Opernhaus Europas. Sein klassizistischer Portikus nimmt auf Schinkels Theater am Gendarmenmarkt Bezug, und seine Foyers, Salons und Cafés, vor allem aber sein Auditorium mit fünf Logenrängen und einer Galerie, das von einem prächtig ausgemalten Plafond überfangen wird, bieten mehr Augenfutter als manche Aufführung. Ein Bilbao-Effekt ohne Absicht. Die Auftritte der vornehmen Gesellschaft, der zwei Pausen von fünfundvierzig Minuten eingeräumt wurden, waren die Zugaben: Schaulaufen mit Grandezza, als sei man zum Fest des Fürsten Salina geladen.
Sizilien selbst ist Theater. Der Schriftsteller Gesualdo Bufalino spricht von einem Fieber, das in diesem "Land der Exzesse" wirkt und "aus jedem Gefühl, sei es aus Liebe oder Hass, Hoffnung oder Verzweiflung, ein ständig herausgeschrienes Theater" macht. Das Theater als gesteigerter Ausdruck des Lebens: Patronatsfeste, Prozessionen, Aufmärsche und Umzüge erzählen davon. Das Buch "Theater in Sizilien" unternimmt eine Reise über die Insel und eine Zeitreise durch die zweieinhalbtausendjährige Geschichte der Kunstform. Die Geburtsstunde des Dramas schlug in Athen, doch "der Gedanke, Handlungen zu erfinden", so Aristoteles, "kam ursprünglich aus Sizilien". Das größte Theater der Antike stand in Syrakus, als Hieron II. es im dritten Jahrhundert vor Christus auf ein Fassungsvermögen von vierzehntausend Zuschauern ausbaute.
Wenn Sizilien das "Amerika der Antike" (Tomasi di Lampedusa) war, dann war Syrakus New York, eine Halbmillionenmetropole, die Stadt des Theokrit und Archimedes, mit den Theatern am Temenite-Hügel. Syrakus bildet das mächtige Fundament des Themas, von dem nicht nur Postkartenikonen (wie Taormina oder Segesta), sondern auch entlegene Orte (wie Morgantina) vorgestellt sowie gerade erst entdeckte oder nur aus Berichten bekannte Theater katalogisiert werden. Es folgt ein Zeitsprung von tausend Jahren, denn "Vandalen, Goten, Christen und Muslime wollten kein Theater": Die antik-rituellen Theaterformen werden in den kirchlichen Festen aufgegriffen, Mysterienspiele und religiöse Dramen kommen auf, für die in Palermo Ende des sechzehnten Jahrhunderts die profanierte Kirche Santa Maria dello Spasimo, die bis heute ohne Dach dasteht, genutzt wird.
Das Theater der Renaissance übernimmt von der Malerei die neu entwickelte Zentralperspektive. Die Rückverräumlichung szenischer Bilder macht die Bühne zum Illusionskasten und zum Labor für Architekten, in dem Bildwirkungen ausprobiert und auf die reale Stadt übertragen werden. In Palermo wird der Cassaro, heute Via Vittorio Emanuele, im späten sechzehnten Jahrhundert zur Ost-West-Achse begradigt, die vom Königspalast bis ans Meer läuft: eine Straße des Sehens und Gesehenwerdens, deren zentrale Kreuzung, die Quattro Canti, Plätze und Tore zu Bühnen des gesellschaftlichen Rollenspiels werden. Auch in anderen Küstenstädten werden Uferzonen zu repräsentativen Promenaden umgebaut und Blicke aufs Meer inszeniert. In den vom Erdbeben 1693 zerstörten Städten im Südosten bestimmen szenographisch aneinandergefügte Räume den Wiederaufbau.
Adelspaläste und Sommerresidenzen mit Festsälen für Bälle und Theater werden ebenso einbezogen. Schon 1693 wird in Palermo mit dem Teatro Santa Cecilia das erste Opernhaus eröffnet, dem ab 1742 das Teatro Santa Lucia, das 1848 den Namen von Vincenzo Bellini annimmt, Konkurrenz bietet: Vorgänger des Teatro Massimo und des Teatro Politeama, die erst 1897 beziehungsweise 1874 eröffnet, vom Gründergeist der nationalen Einigung und dem Anspruch getragen werden, zu den europäischen Kulturmetropolen aufschließen zu wollen. Catania, das sein Teatro Bellini 1890 einweiht, und Messina sehen sich herausgefordert. Auch kleinere Kommunen leisten sich stolz ein teatro all'italiana mit einem Auditorium in Hufeisenform, das an eine Guckkastenbühne anschließt und zum Ballsaal umgestaltet werden kann. In die kleinsten dieser Schmuckkästen wie das Teatro Idea in Sambuca passen gerade mal zweihundert Zuschauer.
Die drei Autoren bewegen sich souverän zwischen kunsthistorischer Studie und Kulturreiseführer, aspektreich und mit erhellenden Details wird die Baugeschichte zur sozialen und politischen Entwicklung Siziliens in Bezug gesetzt. Gebäudetypen des bürgerlichen Unterhaltungstheaters wie der an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert auch in Italien in Mode kommende "Kursaal" werden geradeso berücksichtigt wie die volkstümliche Tradition des Puppenspiels, das die alte Heldenoper en miniature konserviert.
Seitenblicke gelten den "Contastorie" und "Cantastorie", den Geschichtenerzählern und Bänkelsängern. Als Theater der Moderne werden das Teatro Consagra in der nach dem Erdbeben 1968 neu gegründeten Stadt Gibellina und das Teatro Samonà in Sciacca angeführt: Dass beide, überdimensioniert und nie ganz fertiggestellt, auch Zeugnisse von Misswirtschaft sind, kommt etwas zu kurz. Dagegen fehlt ein Naturtheater wie das auf eine Bergkuppe gesetzte Teatro Andromeda in Santo Stefano Quisquina.
Die konzise, anschauliche und reichbebilderte Darstellung des komplexen Themas wird dem Motto, das das Teatro Massimo hochhält, auf ihre Weise gerecht. "L'arte rinnova i popoli e ne rivela la vita", steht über dem Eingangsportal: Die Kunst erneuert die Völker und offenbart ihnen das Leben.
ANDREAS ROSSMANN.
Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: "Theater in Sizilien". Mit Fotografien von Roberto Sigismondi und Christian Stein.
Jonas Verlag, arts + science weimar, Ilmtal-Weinstraße 2020. 240 S., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gesteigerter Ausdruck des Lebens: Ein Band führt bilderreich durch zweieinhalbtausend Jahre sizilianische Theatergeschichte.
Nach Sizilien reist man auch, um sich Theater anzuschauen. Weniger der Aufführungen als der Bauten und Orte wegen. Wer beim ersten Besuch des Teatro Massimo in Palermo eine dreißig Jahre alte Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" über die Bühne rumpeln sah, kam als Zuschauer dennoch auf seine Kosten. Nach Paris und Wien ist es das drittgrößte Opernhaus Europas. Sein klassizistischer Portikus nimmt auf Schinkels Theater am Gendarmenmarkt Bezug, und seine Foyers, Salons und Cafés, vor allem aber sein Auditorium mit fünf Logenrängen und einer Galerie, das von einem prächtig ausgemalten Plafond überfangen wird, bieten mehr Augenfutter als manche Aufführung. Ein Bilbao-Effekt ohne Absicht. Die Auftritte der vornehmen Gesellschaft, der zwei Pausen von fünfundvierzig Minuten eingeräumt wurden, waren die Zugaben: Schaulaufen mit Grandezza, als sei man zum Fest des Fürsten Salina geladen.
Sizilien selbst ist Theater. Der Schriftsteller Gesualdo Bufalino spricht von einem Fieber, das in diesem "Land der Exzesse" wirkt und "aus jedem Gefühl, sei es aus Liebe oder Hass, Hoffnung oder Verzweiflung, ein ständig herausgeschrienes Theater" macht. Das Theater als gesteigerter Ausdruck des Lebens: Patronatsfeste, Prozessionen, Aufmärsche und Umzüge erzählen davon. Das Buch "Theater in Sizilien" unternimmt eine Reise über die Insel und eine Zeitreise durch die zweieinhalbtausendjährige Geschichte der Kunstform. Die Geburtsstunde des Dramas schlug in Athen, doch "der Gedanke, Handlungen zu erfinden", so Aristoteles, "kam ursprünglich aus Sizilien". Das größte Theater der Antike stand in Syrakus, als Hieron II. es im dritten Jahrhundert vor Christus auf ein Fassungsvermögen von vierzehntausend Zuschauern ausbaute.
Wenn Sizilien das "Amerika der Antike" (Tomasi di Lampedusa) war, dann war Syrakus New York, eine Halbmillionenmetropole, die Stadt des Theokrit und Archimedes, mit den Theatern am Temenite-Hügel. Syrakus bildet das mächtige Fundament des Themas, von dem nicht nur Postkartenikonen (wie Taormina oder Segesta), sondern auch entlegene Orte (wie Morgantina) vorgestellt sowie gerade erst entdeckte oder nur aus Berichten bekannte Theater katalogisiert werden. Es folgt ein Zeitsprung von tausend Jahren, denn "Vandalen, Goten, Christen und Muslime wollten kein Theater": Die antik-rituellen Theaterformen werden in den kirchlichen Festen aufgegriffen, Mysterienspiele und religiöse Dramen kommen auf, für die in Palermo Ende des sechzehnten Jahrhunderts die profanierte Kirche Santa Maria dello Spasimo, die bis heute ohne Dach dasteht, genutzt wird.
Das Theater der Renaissance übernimmt von der Malerei die neu entwickelte Zentralperspektive. Die Rückverräumlichung szenischer Bilder macht die Bühne zum Illusionskasten und zum Labor für Architekten, in dem Bildwirkungen ausprobiert und auf die reale Stadt übertragen werden. In Palermo wird der Cassaro, heute Via Vittorio Emanuele, im späten sechzehnten Jahrhundert zur Ost-West-Achse begradigt, die vom Königspalast bis ans Meer läuft: eine Straße des Sehens und Gesehenwerdens, deren zentrale Kreuzung, die Quattro Canti, Plätze und Tore zu Bühnen des gesellschaftlichen Rollenspiels werden. Auch in anderen Küstenstädten werden Uferzonen zu repräsentativen Promenaden umgebaut und Blicke aufs Meer inszeniert. In den vom Erdbeben 1693 zerstörten Städten im Südosten bestimmen szenographisch aneinandergefügte Räume den Wiederaufbau.
Adelspaläste und Sommerresidenzen mit Festsälen für Bälle und Theater werden ebenso einbezogen. Schon 1693 wird in Palermo mit dem Teatro Santa Cecilia das erste Opernhaus eröffnet, dem ab 1742 das Teatro Santa Lucia, das 1848 den Namen von Vincenzo Bellini annimmt, Konkurrenz bietet: Vorgänger des Teatro Massimo und des Teatro Politeama, die erst 1897 beziehungsweise 1874 eröffnet, vom Gründergeist der nationalen Einigung und dem Anspruch getragen werden, zu den europäischen Kulturmetropolen aufschließen zu wollen. Catania, das sein Teatro Bellini 1890 einweiht, und Messina sehen sich herausgefordert. Auch kleinere Kommunen leisten sich stolz ein teatro all'italiana mit einem Auditorium in Hufeisenform, das an eine Guckkastenbühne anschließt und zum Ballsaal umgestaltet werden kann. In die kleinsten dieser Schmuckkästen wie das Teatro Idea in Sambuca passen gerade mal zweihundert Zuschauer.
Die drei Autoren bewegen sich souverän zwischen kunsthistorischer Studie und Kulturreiseführer, aspektreich und mit erhellenden Details wird die Baugeschichte zur sozialen und politischen Entwicklung Siziliens in Bezug gesetzt. Gebäudetypen des bürgerlichen Unterhaltungstheaters wie der an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert auch in Italien in Mode kommende "Kursaal" werden geradeso berücksichtigt wie die volkstümliche Tradition des Puppenspiels, das die alte Heldenoper en miniature konserviert.
Seitenblicke gelten den "Contastorie" und "Cantastorie", den Geschichtenerzählern und Bänkelsängern. Als Theater der Moderne werden das Teatro Consagra in der nach dem Erdbeben 1968 neu gegründeten Stadt Gibellina und das Teatro Samonà in Sciacca angeführt: Dass beide, überdimensioniert und nie ganz fertiggestellt, auch Zeugnisse von Misswirtschaft sind, kommt etwas zu kurz. Dagegen fehlt ein Naturtheater wie das auf eine Bergkuppe gesetzte Teatro Andromeda in Santo Stefano Quisquina.
Die konzise, anschauliche und reichbebilderte Darstellung des komplexen Themas wird dem Motto, das das Teatro Massimo hochhält, auf ihre Weise gerecht. "L'arte rinnova i popoli e ne rivela la vita", steht über dem Eingangsportal: Die Kunst erneuert die Völker und offenbart ihnen das Leben.
ANDREAS ROSSMANN.
Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: "Theater in Sizilien". Mit Fotografien von Roberto Sigismondi und Christian Stein.
Jonas Verlag, arts + science weimar, Ilmtal-Weinstraße 2020. 240 S., br., 28,- [Euro].
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