Produktdetails
- Verlag: Steidl
- Seitenzahl: 174
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 328g
- ISBN-13: 9783865210524
- ISBN-10: 386521052X
- Artikelnr.: 12785947
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2005Selig die Kräche
Die Kunst der Eloge: Jürgen Flimm als Festredner
Ein guter Intendant, zitiert der Regisseur Jürgen Flimm den einstigen Leiter der Münchner Kammerspiele, Hans Schweikart, müsse vor allem eines können: gute Trauerreden halten. Später selbst Intendant in Köln und Hamburg, dann Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele und demnächst Leiter der Ruhrtriennale, hat er diesen Rat so klug wie charmant, so dauerhaft wie einfallsreich beherzigt, auch in der Version der Laudatio, der Geburtstagsansprache oder der allgemeinen Festrede. Unter dem Titel "Theatergänger", der angesichts der vielen verstorbenen Kollegen, verschwundenen Traditionen, verschütteten Erinnerungen, die hier nochmals lebendig werden, gewiß nicht von ungefähr nach "Wiedergänger" klingt, sind Flimms schönste Elogen nun als Buch erschienen.
Es handelt sich dabei um neunzehn Beiträge, die ohne erkennbares Ordnungsprinzip mit "Peter Zadek" - zum 75. Geburtstag 2001 - beginnen und mit Will Quadflieg - zur Trauerfeier 2004 - enden. Um sie zu aktualisieren, hat Flimm jeweils kleine Einleitungen verfaßt, die etwa vom traurigen Rücktritt Christoph Marthalers als Intendant des Schauspielhauses Zürich berichten, um seine Laudatio zur Verleihung des Kortner-Preises 1997 auf den heutigen Stand zu bringen. Oder die den Nachruf auf den Dirigenten Giuseppe Sinopoli ergänzen, mit dem er in Bayreuth im Jahr 2000 den "Ring des Nibelungen" erarbeitet hatte.
Ein paar zusätzliche Erläuterungen zu den historischen Theaterschlachten und ihren Zeitumständen hätten dem leider schlampig edierten Buch auch in seiner kuscheligen Memorabilien-Ecke einen höheren Gebrauchswert gegeben. Zudem fehlt ein Personenregister, was schade ist, da Flimm beim Erzählen natürlich vom einen über den anderen zum nächsten kommt. So flicht er in die Rede zum 70. Geburtstag des Wuppertaler Intendanten Arno Wüstenhofer, bei dem er als Regisseur debütiert hatte, eine kuriose Episode mit dem am selben Haus engagierten Schauspieler Kurt Weinzierl ein. Frustriert von der Provinz, sandten die beiden, nicht mehr ganz nüchtern, Anfang der siebziger Jahre ein denkbar knappes Telegramm an Boleslaw Barlog, damals Intendant der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin: "Kennen Sie uns? Weinzierl und Flimm." Eine Antwort auf ihren Wink mit dem Bewerbungsmast erhielten sie indes nie.
Die beste aller Theaterwelten bedeutete für Flimm, wie er des öfteren gesteht, nicht einfach Berlin, sondern die 1970 von Peter Stein übernommene Schaubühne am Halleschen Ufer, "ein Erweckungserlebnis im Zeitalter der staubigen Graugänse und schneidezähnigen Brechtmäuse". Beeindruckt und beschämt ob der Qualität der Aufführungen, hätte er mitunter fast seine Demission als Regisseur eingereicht.
Auf diese Weise verraten die Beiträge natürlich immer auch viel über den Autor, seine Vorlieben und Abneigungen, sein großes Herz und seine Lust am streitbaren Diskurs. Unterhaltsam, amüsant und gescheit plaudert Jürgen Flimm - ohne Dampf, aber mit freundlich-kritischem Engagement - etwa über Fritz Kortner, dem er in München assistierte, über die Bayreuther Festspiele, deren optimierter Kunstbetrieb ihm gar nicht behagte, oder über Rudolf Augstein, den er als "verdammt hellen Kopf" schätzte.
Es empfiehlt sich freilich, die Beiträge einzeln und mit Pausen zu lesen, denn am Stück wirken sie - durch den ähnlichen Duktus und die Glorifizierung der Vergangenheit - bald wie eine Heldensaga in eigener Sache: trinkfeste Kerle am Regiepult, tolle Weiber auf der Bühne, durchdiskutierte Kneipennächte, herrliche Kräche, grandiose Siege. Dazu mischt sich einige Altherren-Melancholie angesichts der wilden, frühen Jahre, denen nichts Besseres folgte - zwar ist die Republik nun größer, die Kämpfe hingegen sind banaler geworden, und sogar "die Skandale sind nicht mehr das, was sie einst waren".
Kurioserweise befindet sich unter all den Geehrten und Gelobten dieses Sammelbandes keine einzige Frau. Ein paar Bemerkungen gibt es lediglich zu Anna Viebrock als bewährter Bühnenbildnerin Marthalers und zu Ruth Berghaus, jedoch nur im Vorwort zum Nachruf auf Heiner Müller.
In Frankfurt am Main hatte Flimm 1978 Luigi Nonos Oper "Al gran sole carico d'amore" als deutsche Erstaufführung inszeniert. Noch lange danach schwärmte er nachdrücklich, aber aus einer hochachtungsvollen Distanz in einem freien, ohne Jubiläumszwang entstandenen Zeitungsartikel: "Es gibt eigentlich keinen Anlaß, über Luigi Nono zu schreiben, es braucht allerdings auch keinen." Der venezianische Musiker des Unbedingten, ein engagierter Linker und leidenschaftlicher Denker, erscheint in Flimms Schilderung wie das mediterran-sinnliche Traumbild des evangelisch-rheinländischen "Stadttheaterindianers" aus dem "nebligen Norden". Daß er wohl selbst gern ein wenig so geworden wäre wie jener in seiner ästhetisch-politischen Kühnheit, ja, daß er seine eigenen Grenzen nennt und den anderen trotzdem neidlos bewundert, macht den Verfasser nicht geringer - und gibt seiner Eloge einen besonderen Stellenwert.
IRENE BAZINGER
Jürgen Flimm: "Theatergänger". Begegnungen und Stationen. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kunst der Eloge: Jürgen Flimm als Festredner
Ein guter Intendant, zitiert der Regisseur Jürgen Flimm den einstigen Leiter der Münchner Kammerspiele, Hans Schweikart, müsse vor allem eines können: gute Trauerreden halten. Später selbst Intendant in Köln und Hamburg, dann Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele und demnächst Leiter der Ruhrtriennale, hat er diesen Rat so klug wie charmant, so dauerhaft wie einfallsreich beherzigt, auch in der Version der Laudatio, der Geburtstagsansprache oder der allgemeinen Festrede. Unter dem Titel "Theatergänger", der angesichts der vielen verstorbenen Kollegen, verschwundenen Traditionen, verschütteten Erinnerungen, die hier nochmals lebendig werden, gewiß nicht von ungefähr nach "Wiedergänger" klingt, sind Flimms schönste Elogen nun als Buch erschienen.
Es handelt sich dabei um neunzehn Beiträge, die ohne erkennbares Ordnungsprinzip mit "Peter Zadek" - zum 75. Geburtstag 2001 - beginnen und mit Will Quadflieg - zur Trauerfeier 2004 - enden. Um sie zu aktualisieren, hat Flimm jeweils kleine Einleitungen verfaßt, die etwa vom traurigen Rücktritt Christoph Marthalers als Intendant des Schauspielhauses Zürich berichten, um seine Laudatio zur Verleihung des Kortner-Preises 1997 auf den heutigen Stand zu bringen. Oder die den Nachruf auf den Dirigenten Giuseppe Sinopoli ergänzen, mit dem er in Bayreuth im Jahr 2000 den "Ring des Nibelungen" erarbeitet hatte.
Ein paar zusätzliche Erläuterungen zu den historischen Theaterschlachten und ihren Zeitumständen hätten dem leider schlampig edierten Buch auch in seiner kuscheligen Memorabilien-Ecke einen höheren Gebrauchswert gegeben. Zudem fehlt ein Personenregister, was schade ist, da Flimm beim Erzählen natürlich vom einen über den anderen zum nächsten kommt. So flicht er in die Rede zum 70. Geburtstag des Wuppertaler Intendanten Arno Wüstenhofer, bei dem er als Regisseur debütiert hatte, eine kuriose Episode mit dem am selben Haus engagierten Schauspieler Kurt Weinzierl ein. Frustriert von der Provinz, sandten die beiden, nicht mehr ganz nüchtern, Anfang der siebziger Jahre ein denkbar knappes Telegramm an Boleslaw Barlog, damals Intendant der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin: "Kennen Sie uns? Weinzierl und Flimm." Eine Antwort auf ihren Wink mit dem Bewerbungsmast erhielten sie indes nie.
Die beste aller Theaterwelten bedeutete für Flimm, wie er des öfteren gesteht, nicht einfach Berlin, sondern die 1970 von Peter Stein übernommene Schaubühne am Halleschen Ufer, "ein Erweckungserlebnis im Zeitalter der staubigen Graugänse und schneidezähnigen Brechtmäuse". Beeindruckt und beschämt ob der Qualität der Aufführungen, hätte er mitunter fast seine Demission als Regisseur eingereicht.
Auf diese Weise verraten die Beiträge natürlich immer auch viel über den Autor, seine Vorlieben und Abneigungen, sein großes Herz und seine Lust am streitbaren Diskurs. Unterhaltsam, amüsant und gescheit plaudert Jürgen Flimm - ohne Dampf, aber mit freundlich-kritischem Engagement - etwa über Fritz Kortner, dem er in München assistierte, über die Bayreuther Festspiele, deren optimierter Kunstbetrieb ihm gar nicht behagte, oder über Rudolf Augstein, den er als "verdammt hellen Kopf" schätzte.
Es empfiehlt sich freilich, die Beiträge einzeln und mit Pausen zu lesen, denn am Stück wirken sie - durch den ähnlichen Duktus und die Glorifizierung der Vergangenheit - bald wie eine Heldensaga in eigener Sache: trinkfeste Kerle am Regiepult, tolle Weiber auf der Bühne, durchdiskutierte Kneipennächte, herrliche Kräche, grandiose Siege. Dazu mischt sich einige Altherren-Melancholie angesichts der wilden, frühen Jahre, denen nichts Besseres folgte - zwar ist die Republik nun größer, die Kämpfe hingegen sind banaler geworden, und sogar "die Skandale sind nicht mehr das, was sie einst waren".
Kurioserweise befindet sich unter all den Geehrten und Gelobten dieses Sammelbandes keine einzige Frau. Ein paar Bemerkungen gibt es lediglich zu Anna Viebrock als bewährter Bühnenbildnerin Marthalers und zu Ruth Berghaus, jedoch nur im Vorwort zum Nachruf auf Heiner Müller.
In Frankfurt am Main hatte Flimm 1978 Luigi Nonos Oper "Al gran sole carico d'amore" als deutsche Erstaufführung inszeniert. Noch lange danach schwärmte er nachdrücklich, aber aus einer hochachtungsvollen Distanz in einem freien, ohne Jubiläumszwang entstandenen Zeitungsartikel: "Es gibt eigentlich keinen Anlaß, über Luigi Nono zu schreiben, es braucht allerdings auch keinen." Der venezianische Musiker des Unbedingten, ein engagierter Linker und leidenschaftlicher Denker, erscheint in Flimms Schilderung wie das mediterran-sinnliche Traumbild des evangelisch-rheinländischen "Stadttheaterindianers" aus dem "nebligen Norden". Daß er wohl selbst gern ein wenig so geworden wäre wie jener in seiner ästhetisch-politischen Kühnheit, ja, daß er seine eigenen Grenzen nennt und den anderen trotzdem neidlos bewundert, macht den Verfasser nicht geringer - und gibt seiner Eloge einen besonderen Stellenwert.
IRENE BAZINGER
Jürgen Flimm: "Theatergänger". Begegnungen und Stationen. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ob Laudatio oder Trauerrede - der Regisseur und Intendant Jürgen Flimm beherrscht die Kunst der Eloge, wovon man sich in diesem Band überzeugen kann, der Irene Bazinger trotz einiger Mängel und einer gewissen "Altherren-Melancholie" große Freude bereitet hat: "Unterhaltsam, amüsant und gescheit plaudert Jürgen Flimm - ohne Dampf, aber mit freundlich- kritischem Engagement", über Kortner, Augstein, Zadek, die Bayreuther Festspiele und die anderen Institutionen im Theater- und Kulturland. Über sie alle erfährt man etwas, vor allem aber über Flimms "Vorlieben und Abneigungen, sein großes Herz und seine Lust am streitbaren Diskurs". Zur optimalen Verdauung empfiehlt die Rezensentin allerdings: Nicht am Stück lesen! Denn sonst könnte der unangenehme Eindruck einer "Heldensaga in eigener Sache" entstehen, mit "trinkfesten Kerlen am Regiepult, tollen Weibern auf der Bühne, durchdiskutierten Kneipennächten, herrlichen Krächen, grandiosen Siegen". Außerdem auf der Minusseite: fehlende Erläuterungen zu Hintergründen, fehlendes Personenregister. Aber abgesehen davon ist der Daumen oben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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