Theobald von Bethmann Hollweg war nach Bismarck der wichtigste Reichskanzler des deutschen Kaiserreichs. Seine Regierungszeit (1900 - 1917) begann mit einer Phase äußerlichen Glanzes und endete im Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Das Wilhelminische Deutschland war im Innern kaum regierbar und, nicht zuletzt wegen seiner unsteten Weltpolitik, von außen "eingekreist". Bethmann stellte sich die Aufgabe, dieses Reich von Grund auf zu sanieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.1995Eine Art zweite Reichsgründung
Günter Wollstein wird Bethmann Hollweg gerechter als gerecht
Günter Wollstein: Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende. Persönlichkeit und Geschichte, Band 146/147. Muster-Schmidt Verlag, Göttingen und Zürich 1995. 171 Seiten, 20,80 Mark.
Zu den bis heute umrätselten Gestalten der deutschen Geschichte zählt Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921), der von 1909 bis 1917 als Reichskanzler amtierte und Deutschland im Sommer 1914 in den Ersten Weltkrieg führte. Schon unter den Zeitgenossen war seine proteushafte Persönlichkeit auf das heftigste umstritten: Der politischen Linken erschien der Herr auf Rittergut Hohenfinow, für geraume Zeit jedenfalls, eher als ein konservativer Vertreter des bestehenden Obrigkeitsstaates; die politische Rechte dagegen hatte den mit der Frankfurter Bankiersfamilie Bethmann Verwandten durchgehend im Verdacht, traditionelle Machtbastionen schleifen zu wollen. Später lebende Historiker schätzten ihn als eine Hamlet-Natur ein, weil seine grüblerischen Neigungen einer nicht zu verkennenden Tatenscheu Vorschub leisteten. Andere hielten ihn dagegen, weil er, angeblich, beinharte Ziele eigensüchtig verfolgt habe, für einen gewieften Machiavellisten. Wurde er in der hin und her gehenden Debatte sodann auch von diesem moralisch getönten Urteil freigesprochen, so stellte sich umgehend der politisch begründete Vorwurf ein, er habe der anachronistischen Illusion gehuldigt, jenseits der parlamentarischen und gesellschaftlichen Niederungen seiner Zeit ein längst obsolet gewordenes Ideal vom Staat über den Parteien hilflos kultiviert zu haben.
Nunmehr hat Günter Wollstein den kühnen Versuch unternommen, ein ganz neues Bild des "Philosophen von Hohenfinow" zu zeichnen: Sein bedenkenswerter Vorschlag beruht nicht auf neuen Quellenfunden, sondern auf einer eingehenden Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Materialien. Vor dem Hintergrund der knapp und bündig entworfenen Biographie Bethmann Hollwegs legt der Kölner Historiker eine Interpretation vor, die Diskussionen auslösen wird. Mit unübersehbarer Sympathie für eine "Persönlichkeit nicht ohne Größe" erkennt er in ihrer Reichskanzlerschaft zwei vorwaltende Ziele; sie seien von dem letztlich gescheiterten Reformer, am Beginn seiner Karriere noch konservativ verbrämt, im Laufe der Entwicklung dann zunehmend offener, verfolgt worden: Zum einen habe Bethmann Hollweg beabsichtigt, zur Sicherheitspolitik Bismarcks zurückzukehren, um das gefährdete Reich zu erhalten, um ihm in juniorpartnerschaftlicher Anlehnung an Großbritannien, vor allem im weltwirtschaftlichen Zusammenhang, eine gedeihliche Existenz zu ermöglichen und um, wie die weitgehende Schlußfolgerung Wollsteins lautet, "eine neue internationale Friedensordnung" zu schaffen, die in vielem an angelsächsische Vorstellungen von Schiedsgerichtsbarkeit und Abrüstung erinnerte. Zum anderen habe Bethmann Hollweg von Beginn an den Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht aufgenommen, um die konstitutionell verfaßte Hohenzollernmonarchie zu parlamentarisieren, ja um, zuerst mit einer Mitte-rechts-Koalition, später mit einer Mitte-links-Koalition, "eine Demokratisierung Deutschlands" herbeizuführen. Beide Vorhaben scheiterten an der Übermacht der traditionellen Verhältnisse, freilich "nicht vollständig", wie Wollstein vorausblickend bemerkt, "denn Bethmanns Wirken gehört zum demokratischen Fundament der Weimarer Republik".
Über dieser Würdigung des Kanzlers als eines weit vorausschauenden Erneuerers, der "eine Art zweite Reichsgründung" im Blick gehabt habe, vergißt Wollstein nicht, die beiden großen, verhängnisvollen Irrtümer dieser Kanzlerschaft zu benennen: Das ist zum einen die katastrophale Fehlkalkulation vom Juli 1914. Sie trieb Deutschland in einen Krieg, den Bethmann Hollweg an sich zu vermeiden bestrebt war und den er dennoch heraufbeschwor, weil er wie in einer "Flucht nach vorn" im Zuge einer diplomatischen Offensive den außenpolitischen Manövrierraum der arg bedrängten Großmacht zu erweitern plante. Und das ist zum anderen die folgenreiche Fehlentscheidung vom August 1916, die Hindenburg und Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung gelangen ließ. Nur im Schutze dieser soldatischen Dioskuren sah der Kanzler überhaupt eine Möglichkeit, den erwünschten Frieden zu schließen, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß die militärischen Halbgötter das genaue Gegenteil des von ihm Erstrebten wollten.
Alles in allem liegt eine biographische Würdigung vor, die Bethmann Hollweg mehr als Gerechtigkeit widerfahren läßt, indem sie ihn in eine zukunftweisende Tradition einreiht, zu der er vielleicht doch nicht so ganz gehört hat. Denn ob der sich in seinen Worten und seinen Handlungen stets vieldeutig Gebende in seinem Wesen und seinen Plänen tatsächlich so eindeutig war, wie Günter Wollsteins gedankenreiches, durchaus bewegendes Plädoyer ihn porträtiert, bleibt nach der über weite Strecken fesselnden Lektüre als zentrale Frage zurück. KLAUS HILDEBRAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Günter Wollstein wird Bethmann Hollweg gerechter als gerecht
Günter Wollstein: Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende. Persönlichkeit und Geschichte, Band 146/147. Muster-Schmidt Verlag, Göttingen und Zürich 1995. 171 Seiten, 20,80 Mark.
Zu den bis heute umrätselten Gestalten der deutschen Geschichte zählt Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921), der von 1909 bis 1917 als Reichskanzler amtierte und Deutschland im Sommer 1914 in den Ersten Weltkrieg führte. Schon unter den Zeitgenossen war seine proteushafte Persönlichkeit auf das heftigste umstritten: Der politischen Linken erschien der Herr auf Rittergut Hohenfinow, für geraume Zeit jedenfalls, eher als ein konservativer Vertreter des bestehenden Obrigkeitsstaates; die politische Rechte dagegen hatte den mit der Frankfurter Bankiersfamilie Bethmann Verwandten durchgehend im Verdacht, traditionelle Machtbastionen schleifen zu wollen. Später lebende Historiker schätzten ihn als eine Hamlet-Natur ein, weil seine grüblerischen Neigungen einer nicht zu verkennenden Tatenscheu Vorschub leisteten. Andere hielten ihn dagegen, weil er, angeblich, beinharte Ziele eigensüchtig verfolgt habe, für einen gewieften Machiavellisten. Wurde er in der hin und her gehenden Debatte sodann auch von diesem moralisch getönten Urteil freigesprochen, so stellte sich umgehend der politisch begründete Vorwurf ein, er habe der anachronistischen Illusion gehuldigt, jenseits der parlamentarischen und gesellschaftlichen Niederungen seiner Zeit ein längst obsolet gewordenes Ideal vom Staat über den Parteien hilflos kultiviert zu haben.
Nunmehr hat Günter Wollstein den kühnen Versuch unternommen, ein ganz neues Bild des "Philosophen von Hohenfinow" zu zeichnen: Sein bedenkenswerter Vorschlag beruht nicht auf neuen Quellenfunden, sondern auf einer eingehenden Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Materialien. Vor dem Hintergrund der knapp und bündig entworfenen Biographie Bethmann Hollwegs legt der Kölner Historiker eine Interpretation vor, die Diskussionen auslösen wird. Mit unübersehbarer Sympathie für eine "Persönlichkeit nicht ohne Größe" erkennt er in ihrer Reichskanzlerschaft zwei vorwaltende Ziele; sie seien von dem letztlich gescheiterten Reformer, am Beginn seiner Karriere noch konservativ verbrämt, im Laufe der Entwicklung dann zunehmend offener, verfolgt worden: Zum einen habe Bethmann Hollweg beabsichtigt, zur Sicherheitspolitik Bismarcks zurückzukehren, um das gefährdete Reich zu erhalten, um ihm in juniorpartnerschaftlicher Anlehnung an Großbritannien, vor allem im weltwirtschaftlichen Zusammenhang, eine gedeihliche Existenz zu ermöglichen und um, wie die weitgehende Schlußfolgerung Wollsteins lautet, "eine neue internationale Friedensordnung" zu schaffen, die in vielem an angelsächsische Vorstellungen von Schiedsgerichtsbarkeit und Abrüstung erinnerte. Zum anderen habe Bethmann Hollweg von Beginn an den Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht aufgenommen, um die konstitutionell verfaßte Hohenzollernmonarchie zu parlamentarisieren, ja um, zuerst mit einer Mitte-rechts-Koalition, später mit einer Mitte-links-Koalition, "eine Demokratisierung Deutschlands" herbeizuführen. Beide Vorhaben scheiterten an der Übermacht der traditionellen Verhältnisse, freilich "nicht vollständig", wie Wollstein vorausblickend bemerkt, "denn Bethmanns Wirken gehört zum demokratischen Fundament der Weimarer Republik".
Über dieser Würdigung des Kanzlers als eines weit vorausschauenden Erneuerers, der "eine Art zweite Reichsgründung" im Blick gehabt habe, vergißt Wollstein nicht, die beiden großen, verhängnisvollen Irrtümer dieser Kanzlerschaft zu benennen: Das ist zum einen die katastrophale Fehlkalkulation vom Juli 1914. Sie trieb Deutschland in einen Krieg, den Bethmann Hollweg an sich zu vermeiden bestrebt war und den er dennoch heraufbeschwor, weil er wie in einer "Flucht nach vorn" im Zuge einer diplomatischen Offensive den außenpolitischen Manövrierraum der arg bedrängten Großmacht zu erweitern plante. Und das ist zum anderen die folgenreiche Fehlentscheidung vom August 1916, die Hindenburg und Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung gelangen ließ. Nur im Schutze dieser soldatischen Dioskuren sah der Kanzler überhaupt eine Möglichkeit, den erwünschten Frieden zu schließen, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß die militärischen Halbgötter das genaue Gegenteil des von ihm Erstrebten wollten.
Alles in allem liegt eine biographische Würdigung vor, die Bethmann Hollweg mehr als Gerechtigkeit widerfahren läßt, indem sie ihn in eine zukunftweisende Tradition einreiht, zu der er vielleicht doch nicht so ganz gehört hat. Denn ob der sich in seinen Worten und seinen Handlungen stets vieldeutig Gebende in seinem Wesen und seinen Plänen tatsächlich so eindeutig war, wie Günter Wollsteins gedankenreiches, durchaus bewegendes Plädoyer ihn porträtiert, bleibt nach der über weite Strecken fesselnden Lektüre als zentrale Frage zurück. KLAUS HILDEBRAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main