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Theodor Fontane erweist sich immer mehr als der überragende deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts. Seine Romane sind bis heute, hundert und mehr Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, erstaunlich lesbar, lebendig und gegenwärtig geblieben. Norbert Mecklenburg fragt in seinem Buch nach den Bedingungen dieser Gegenwärtigkeit und verknüpft gezielt, was in bisherigen Analysen der Fontane-Forschung häufig auseinandergefallen ist: die ästhetische und die gesellschaftliche Betrachtung. Die Studien dieses Buches verbinden in Form von Essays Durchblicke durch das gesamte erzählerische Werk mit…mehr

Produktbeschreibung
Theodor Fontane erweist sich immer mehr als der überragende deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts. Seine Romane sind bis heute, hundert und mehr Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, erstaunlich lesbar, lebendig und gegenwärtig geblieben. Norbert Mecklenburg fragt in seinem Buch nach den Bedingungen dieser Gegenwärtigkeit und verknüpft gezielt, was in bisherigen Analysen der Fontane-Forschung häufig auseinandergefallen ist: die ästhetische und die gesellschaftliche Betrachtung. Die Studien dieses Buches verbinden in Form von Essays Durchblicke durch das gesamte erzählerische Werk mit exemplarischen Einzelanalysen. Literaturwissenschaftliche Anforderungen werden dabei ebenso erfüllt wie die Erwartungen eines geübten Lesers Fontanescher oder anderer anspruchsvoller Prosa.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1998

An den Marmorkrippen
Norbert Mecklenburg über die Romankunst Fontanes

Verehrung und Bewunderung, wenn sie in großer Fülle ausgeschüttet werden, reizen gelegentlich zu der Frage, ob nicht des Guten zuviel getan werde. Bekannt sind solche Reaktionen, wenn es um den Kult geht, der mit alten und neuen "Klassikern" getrieben wird, bei Goethe zum Beispiel oder bei Brecht. Soll nun auch Theodor Fontane diesem Risiko der Klassizität ausgesetzt werden? Zuteil wird ihm gegenwärtig der Ruhm mit allen Insignien, mit Symposien, Kolloquien, Konferenzen, Ausstellungen, mit einer ihm und seinem Werk dienenden Gesellschaft samt Zeitschrift sowie mit einer kaum übersehbaren Menge von Biographien, wissenschaftlichen Abhandlungen und Aufsätzen, mit Werk- und Briefausgaben, Breviers, Lexika, Reiseführern, Bildbänden und einem Kochbuch.

Im Zentrum von Theodor Fontanes Ruhm steht, nüchtern betrachtet, kaum mehr als ein halbes Dutzend Romane, die ihn bei seinen deutschen Lesern beliebt machten, was nichts gegen den Wert seiner Gedichte, Erzählungen, Reisebücher und Kritiken sagt. Aber rechtfertigen diese Romane die Gunst, die ihm so reichlich zuteil wird? Ernsthafte Aufmerksamkeit seitens der Verleger und der Literaturwissenschaftler wurde Fontane nicht von seinen Anfängen an geschenkt; damals sah man in ihm vor allem den Verfasser von moralisch anfechtbaren Geschichten, die vorwiegend in der Darstellung erotischer Unkonventionalität ihren Unterhaltungswert und eine gewisse Anrüchigkeit besaßen. Daß in ihnen Kritik am deutschen Kaiserreich und seinen "Gesellschaftsgötzen" - ein Wort Fontanes - zum Ausdruck kam, machte ihn später bei den marxistischen Literaturexegeten beliebt. Außerdem gehört er zu Berlin und der Mark Brandenburg, die er liebevoll beschrieb. Der jahrhundertealte Partikularismus bei den Deutschen bildete ja einen Lokalpatriotismus für ihre Dichter heraus; man muß hier nur an die Schwaben und ihre Schiller-, Uhland- oder Hölderlin-Pflege und -Hege denken. Ist der gegenwärtig üppig blühende Ruhm Fontanes ein Resultat der deutschen Wiedervereinigung und der Entscheidung für Berlin als Hauptstadt?

In die Weltliteratur ist Fontane nicht eingegangen, zumindest nicht in dem Maße wie Balzac, Flaubert, Zola, Dickens, Turgenjew, Dostojewski oder Tolstoi, Namen, die herangezogen werden, um seinen Rang und seine Bedeutung zu bestimmen. Die Frage, ob jenes halbe Dutzend populär gewordener Romane genügend hergebe für seinen deutschen Ruhm, findet eine simple Antwort: Man kann diese Bücher immer wieder lesen, ohne ihrer müde zu werden. Der Sog des "Fontane-Tons", wie Thomas Mann einmal sagte, erweist sich stärker als alle Bedenken gegen seinen Gleichklang.

Von einer solchen Erfahrung des Wiederlesens berichtet der Kölner Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg in einem Buch mit Studien zur Romankunst Fontanes. "Kunst" als ästhetische Leistung ist ausdrücklich gemeint, freilich nicht im Sinne eines wertneutralen Dekonstruktivismus und einer Postmoderne, die als "Affe" der Moderne abgewiesen wird. Statt dessen wird zurückgegangen auf Michail Bachtin mit seinem Begriff der "Dialogizität", womit die Fäden gemeint sind, die sich von einem Kunstwerk zum anderen spinnen können, und auf Pierre Bourdieu, von dem die Theorie der feinen Unterschiede entliehen wird. Das führt zu aufschlußreichen Betrachtungen, zum Beispiel über die "Poetik der Gänsefüßchen", über "Volksmund und fingierte Mündlichkeit" in der Sprache Fontanes und über die "osmotische Offenheit des Fontaneschen Erzählens".

Mit einer Analyse der Kunst um der Kunst willen hat das nichts zu tun. Mir scheint sogar, daß Mecklenburgs Interesse auf eine ethische Wertung hinausläuft, auf die freilich oft gestellte Frage, wie ernst es Fontane mit seiner Kunst meint und wie sehr er hinter dem steht, was seine Figuren in ihren Gesprächen sagen, behaupten, fragen oder bezweifeln. Daß er ein Meister des Dialogs ist und daß Dialoge in einem Kunstwerk nicht die Meinungen des Autors wiedergeben müssen, das weiß man. Aber wo steht der Autor letztendlich? Wie verhalten sich die Gedanken seiner Figuren zu dem, was Fontane in Briefen, also biographisch-authentischen Dokumenten, zur Sprache bringt?

Immer wieder begegnen einem in Mecklenburgs Aufsätzen Bemerkungen über Fontanes Verhältnis zu den Juden, das sich in seinen Romanen, Gedichten und in den Briefen auf widerspruchsvolle Weise darbietet. Aufmerksamkeit auf dieses Thema ist angesichts der späteren deutschen Geschichte verständlich und notwendig, ist es doch erwägenswert, ob Ebenezer Rubehn aus dem Roman "L'Adultera" nicht sechzig Jahre später "den zusätzlichen Vornamen ,Israel'" hätte annehmen müssen und "ein ,J' in seinen Paß gestempelt" bekam. Mecklenburgs Kommentar zu den jüdischen Namen bei Fontane ist aufschlußreich, und ebenso seine minuziöse Beobachtung über die Umwandlung der "Taufbecken" in "Marmorkrippen" als Verdrängungserscheinung im Roman "Unwiederbringlich". Fraglich bleibt, ob die Feststellung, daß bei Fontane neben dem philosemitischen auch ein antisemitischer Zug zum Vorschein komme, in dieser Ausschließlichkeit richtig ist.

Marcel Reich-Ranicki wies bei der Interpretation des Gedichts "An meinem Fünfundsiebzigsten" (F.A.Z. vom 19. September) darauf hin, daß Fontane im Grunde seines Wesens weder Philosemit noch Antisemit war und daß jede einseitige Betrachtung falsch, ja schädlich sei. Es ist eine späte Folge der kriminellen Polarisierungen des Nationalsozialismus bei der Judenverfolgung im "Dritten Reich", daß ein Denken außerhalb dieser Begriffe schwer vorstellbar geworden ist.

Mecklenburg hat recht, wenn er auf Ambivalenzen in Fontanes Werk hinweist, auf Widersprüche zwischen den Ansichten des Autors und seiner Gestalten, nicht nur im einzelnen, sondern auch in der Handlung der Bücher als ganzem. Das kann zu folgenden Schlüssen führen: "Was der Autor als Einsicht oder sogar als Weisheit gemeint hat, stellt sein Roman als Blindheit und Dummheit bloß." Auch das ist ein Phänomen, das aus der Literatur bekannt ist. Man weiß es von Balzac zum Beispiel, an dem Friedrich Engels - es wurde ein locus classicus marxistischer Literaturwissenschaft - dergleichen Widersprüchlichkeit einmal demonstrierte und damit unabsichtlich auch, daß Literatur mit ideologischen Begriffen nicht faßbar ist.

Mecklenburgs Lektüre Fontanes läuft jedoch nicht darauf hinaus, sondern er sucht dessen Ethos vor allem darin, was das Werk als Medium "für Selbsterkenntnis, Wahrhaftigkeit, Herzenswärme, Offenheit für andere, Befähigung zu Freude an geschenktem Glück" zu bieten habe. Ob das auch die Bedeutung dieser Bücher einschränkt gegenüber der Unnachsichtigkeit, ja Unbarmherzigkeit anderer großer Romane europäischer Literatur in Fontanes Jahrhundert, also seinen Eintritt in die Weltliteratur behinderte, mag hier offenbleiben. Im Ausmessen einiger "bis heute ethisch und lebenspraktisch belangvoller Konflikte" liege jedenfalls seine Aktualität, meint Mecklenburg. Kein neues Fontane-Bild also, aber Anleitungen zu neuem, wiederholtem Lesen. GERHARD SCHULZ

Norbert Mecklenburg: "Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 325 S., geb., 48,- DM.

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