Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2022Werdegang einer Symbolfigur
Derek Penslar legt eine Biographie Theodor Herzls vor, die Hagiographie wie Dekonstruktion vermeidet
Über Theodor Herzl, Gründungsvater des Zionismus, wurden bislang rund zwanzig Biographien geschrieben. Nur etwa ein halbes Dutzend davon erschien auf Deutsch, zuletzt 2016 jene von Shlomo Avineri. Die vor zwei Jahren in Amerika veröffentlichte Biographie des kanadisch-jüdischen Judaisten Derek Penslar hat mit Avineris Werk gemein, dass sie für eine Reihe über berühmte jüdische Persönlichkeiten entstand - in Penslars Fall für die "Jewish Lives" der Yale University Press.
Derek Penslars Herzl-Biographie ist deshalb nicht nur relativ schmal, sie ist auch deutlich neutraler als etliche der Vorgängerwerke, die zwischen Hagiographie und Dekonstruktion der fast schon mythischen Figur schwanken. Hat Avineri in Herzl - vor allem anhand der umfangreichen Tagebücher - neben dem Visionär auch den Zweifler ausgemacht, liest Penslar Herzls ständiges Ringen mit sich selbst vor allem auch als Ausdruck psychischer und innerfamiliärer Probleme. Dabei bezieht er, was nur wenige Biographen bislang getan haben, ebenso Herzls Theaterstücke, Pressebeiträge und sein Wirken als Zeitungsredakteur wie seine selbstkritische Reflexion über die eigene Publizistik in die Analyse mit ein. Und dies aus gutem Grund. Als Theaterautor und Journalist ist der 1860 in Ungarn geborene Wiener Jude nämlich schon in jungen Jahren außerordentlich fleißig und zielstrebig, selten aber mit sich zufrieden.
Erfolgreich ist Herzl, der anfangs von einer Karriere als Bühnenautor träumt, zu seinem Leidwesen denn auch zunächst nur als Feuilletonist - eine Tätigkeit, die er schon als Autor und später Feuilletonchef (1895-1904) der angesehenen Wiener "Neuen Freien Presse" nicht sonderlich schätzt, weil er sich darin nicht als Literat verwirklicht fühlt. Belastend kommen noch der frühe Tod seiner ein Jahr älteren Schwester Pauline und eine enttäuschte Liebe hinzu, die Penslar zufolge Herzls melancholische Ader nicht nur verstärken. Er zieht sich auch innerlich zurück und flüchtet als bereits Mittzwanziger in erotische Phantasien über "kaum pubertierende Mädchen". Julie Naschauer ist achtzehn Jahre alt, als er sie kennenlernt, und die drei Jahre später geschlossene Ehe ist von Beginn an problembehaftet. Die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns, von deren Mitgift der umtriebige Herzl noch Jahre zehren wird, neigt zu Wutausbrüchen und ist psychisch offenbar noch labiler als er. Penslar, der Psychoanalytiker konsultiert hat, stuft Herzl als manisch-depressiv ein. Das zum Schlachtfeld werdende Eheleben bleibt nicht ohne Wirkungen auf Herzls ohnehin schwankende Gemütszustände.
Als Herzl 1889 heiratet, ist er ein angesehener Journalist, der bereits zwei Sammlungen seiner Feuilletonbeiträge in Leipzig veröffentlicht hat, über deren Rezeption der Leser jedoch nichts erfährt. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass auch eine Auswahl seiner von 1891 bis 1895 als Korrespondent in Paris verfassten Frankreich-Berichte in Buchform erscheint, was Herzl noch bekannter macht. Indes geht Penslar auf mehrere dieser Frankreich-Feuilletons detailliert ein, um - wie schon Avineri vor ihm - die These zu untermauern, dass Herzl in Paris zwar zu einem politisch denkenden Intellektuellen wird, es aber nicht die Dreyfus-Affäre ist, die ihn zum Zionismus führt.
Die "Judensache" beschäftigt Herzl während seiner Zeit in Frankreich durchaus, jedoch weniger als Berichterstatter denn als Theaterautor. Erst kurz vor seiner Rückkehr nach Wien im Sommer 1895 kommen mehrere Faktoren zusammen, die aus dem Journalisten auch einen politischen Aktivisten machen: vor allem die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt und eine tiefe existenzielle Krise, die in einem später als "zionistisch" überschriebenen Tagebuch dokumentiert ist. Was Penslar als "Anfälle von Paranoia", gemischt mit "weiser Voraussicht, mit Größenwahn und altruistischem Idealismus", bezeichnet, beschreibt Herzl im Nachhinein als Tage der Angst davor, "irrsinnig zu werden": "So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele."
Aus diesem brodelnden Gedankenstrom geht schließlich die auf Penslar fast schon bürokratisch wirkende Schrift "Der Judenstaat" hervor, die im Februar 1896 erscheint. Dass der dem Kolonialismus zugeneigte Herzl hier schon Palästina als künftigen Besiedlungsort nennt, führt der Autor nicht nur auf eine immer stärkere Identifizierung mit dem Judentum zurück. Herzl überzeugten auch befreundete zionistische Aktivisten davon, dass nur mit Palästina als propagiertem Zielland eine jüdische Volksbewegung mobilisiert werden könnte. "Der Judenstaat" beschert Herzl allerdings mindestens so viele Feinde wie Unterstützer, was ihn nur darin bestärkt, das jüdische Volk nicht nur retten, sondern es nun auch selbst führen zu wollen. Mit dem von ihm 1897 ins Leben gerufenen Zionistenkongress gelingt es Herzl tatsächlich, eine nationale Institution zu etablieren, die sich unabhängig von seinen scheiternden Siedlungsprojekten, ob in Palästina oder Ostafrika, als dauerhaft erweisen sollte - Herzls nicht nur in Penslars Augen wichtigste Errungenschaft.
Je größer Herzls Ruhm wird, umso autoritärer wird sein Führungsstil. Nicht nur das bringt ihm noch mehr Gegner ein, sondern auch seine minimalistische Auffassung vom Judentum: "Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden." Herzls selbst auferlegtes ungeheures Arbeitspensum - 1902 veröffentlicht er auch noch den Roman "Altneuland", den Penslar weniger als utopisch denn als national-programmatisch wie sozialreformerisch versteht - bringt den häufig auch reisenden sendungsbewussten Aktivisten und Feuilletonleiter an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit. Der schon länger an Herzproblemen leidende Herzl stirbt schließlich 1904 mit nur vierundvierzig Jahren vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung. Dass er zu einer "universalen Symbolfigur des Zionismus" wurde, lag laut Penslar nicht zuletzt daran, "dass er sich selbst so erfolgreich zu einer Ikone machte". So sei es auch kein Zufall, dass Herzl in Israel heute weitgehend auf dieses eindimensionale Bild reduziert werde. JOSEPH CROITORU
Derek Penslar: "Theodor Herzl". Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Derek Penslar legt eine Biographie Theodor Herzls vor, die Hagiographie wie Dekonstruktion vermeidet
Über Theodor Herzl, Gründungsvater des Zionismus, wurden bislang rund zwanzig Biographien geschrieben. Nur etwa ein halbes Dutzend davon erschien auf Deutsch, zuletzt 2016 jene von Shlomo Avineri. Die vor zwei Jahren in Amerika veröffentlichte Biographie des kanadisch-jüdischen Judaisten Derek Penslar hat mit Avineris Werk gemein, dass sie für eine Reihe über berühmte jüdische Persönlichkeiten entstand - in Penslars Fall für die "Jewish Lives" der Yale University Press.
Derek Penslars Herzl-Biographie ist deshalb nicht nur relativ schmal, sie ist auch deutlich neutraler als etliche der Vorgängerwerke, die zwischen Hagiographie und Dekonstruktion der fast schon mythischen Figur schwanken. Hat Avineri in Herzl - vor allem anhand der umfangreichen Tagebücher - neben dem Visionär auch den Zweifler ausgemacht, liest Penslar Herzls ständiges Ringen mit sich selbst vor allem auch als Ausdruck psychischer und innerfamiliärer Probleme. Dabei bezieht er, was nur wenige Biographen bislang getan haben, ebenso Herzls Theaterstücke, Pressebeiträge und sein Wirken als Zeitungsredakteur wie seine selbstkritische Reflexion über die eigene Publizistik in die Analyse mit ein. Und dies aus gutem Grund. Als Theaterautor und Journalist ist der 1860 in Ungarn geborene Wiener Jude nämlich schon in jungen Jahren außerordentlich fleißig und zielstrebig, selten aber mit sich zufrieden.
Erfolgreich ist Herzl, der anfangs von einer Karriere als Bühnenautor träumt, zu seinem Leidwesen denn auch zunächst nur als Feuilletonist - eine Tätigkeit, die er schon als Autor und später Feuilletonchef (1895-1904) der angesehenen Wiener "Neuen Freien Presse" nicht sonderlich schätzt, weil er sich darin nicht als Literat verwirklicht fühlt. Belastend kommen noch der frühe Tod seiner ein Jahr älteren Schwester Pauline und eine enttäuschte Liebe hinzu, die Penslar zufolge Herzls melancholische Ader nicht nur verstärken. Er zieht sich auch innerlich zurück und flüchtet als bereits Mittzwanziger in erotische Phantasien über "kaum pubertierende Mädchen". Julie Naschauer ist achtzehn Jahre alt, als er sie kennenlernt, und die drei Jahre später geschlossene Ehe ist von Beginn an problembehaftet. Die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns, von deren Mitgift der umtriebige Herzl noch Jahre zehren wird, neigt zu Wutausbrüchen und ist psychisch offenbar noch labiler als er. Penslar, der Psychoanalytiker konsultiert hat, stuft Herzl als manisch-depressiv ein. Das zum Schlachtfeld werdende Eheleben bleibt nicht ohne Wirkungen auf Herzls ohnehin schwankende Gemütszustände.
Als Herzl 1889 heiratet, ist er ein angesehener Journalist, der bereits zwei Sammlungen seiner Feuilletonbeiträge in Leipzig veröffentlicht hat, über deren Rezeption der Leser jedoch nichts erfährt. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass auch eine Auswahl seiner von 1891 bis 1895 als Korrespondent in Paris verfassten Frankreich-Berichte in Buchform erscheint, was Herzl noch bekannter macht. Indes geht Penslar auf mehrere dieser Frankreich-Feuilletons detailliert ein, um - wie schon Avineri vor ihm - die These zu untermauern, dass Herzl in Paris zwar zu einem politisch denkenden Intellektuellen wird, es aber nicht die Dreyfus-Affäre ist, die ihn zum Zionismus führt.
Die "Judensache" beschäftigt Herzl während seiner Zeit in Frankreich durchaus, jedoch weniger als Berichterstatter denn als Theaterautor. Erst kurz vor seiner Rückkehr nach Wien im Sommer 1895 kommen mehrere Faktoren zusammen, die aus dem Journalisten auch einen politischen Aktivisten machen: vor allem die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt und eine tiefe existenzielle Krise, die in einem später als "zionistisch" überschriebenen Tagebuch dokumentiert ist. Was Penslar als "Anfälle von Paranoia", gemischt mit "weiser Voraussicht, mit Größenwahn und altruistischem Idealismus", bezeichnet, beschreibt Herzl im Nachhinein als Tage der Angst davor, "irrsinnig zu werden": "So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele."
Aus diesem brodelnden Gedankenstrom geht schließlich die auf Penslar fast schon bürokratisch wirkende Schrift "Der Judenstaat" hervor, die im Februar 1896 erscheint. Dass der dem Kolonialismus zugeneigte Herzl hier schon Palästina als künftigen Besiedlungsort nennt, führt der Autor nicht nur auf eine immer stärkere Identifizierung mit dem Judentum zurück. Herzl überzeugten auch befreundete zionistische Aktivisten davon, dass nur mit Palästina als propagiertem Zielland eine jüdische Volksbewegung mobilisiert werden könnte. "Der Judenstaat" beschert Herzl allerdings mindestens so viele Feinde wie Unterstützer, was ihn nur darin bestärkt, das jüdische Volk nicht nur retten, sondern es nun auch selbst führen zu wollen. Mit dem von ihm 1897 ins Leben gerufenen Zionistenkongress gelingt es Herzl tatsächlich, eine nationale Institution zu etablieren, die sich unabhängig von seinen scheiternden Siedlungsprojekten, ob in Palästina oder Ostafrika, als dauerhaft erweisen sollte - Herzls nicht nur in Penslars Augen wichtigste Errungenschaft.
Je größer Herzls Ruhm wird, umso autoritärer wird sein Führungsstil. Nicht nur das bringt ihm noch mehr Gegner ein, sondern auch seine minimalistische Auffassung vom Judentum: "Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden." Herzls selbst auferlegtes ungeheures Arbeitspensum - 1902 veröffentlicht er auch noch den Roman "Altneuland", den Penslar weniger als utopisch denn als national-programmatisch wie sozialreformerisch versteht - bringt den häufig auch reisenden sendungsbewussten Aktivisten und Feuilletonleiter an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit. Der schon länger an Herzproblemen leidende Herzl stirbt schließlich 1904 mit nur vierundvierzig Jahren vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung. Dass er zu einer "universalen Symbolfigur des Zionismus" wurde, lag laut Penslar nicht zuletzt daran, "dass er sich selbst so erfolgreich zu einer Ikone machte". So sei es auch kein Zufall, dass Herzl in Israel heute weitgehend auf dieses eindimensionale Bild reduziert werde. JOSEPH CROITORU
Derek Penslar: "Theodor Herzl". Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 256 S., geb., 24,- Euro.
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