Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.1998Meergreis, ich dich grüße
Mommsen, Harnack & Co.: Aus der Chefetage einer Denkfabrik
Auf dem Totenbett hatte Theodor Mommsen gewünscht, daß Adolf Harnack seine Grabrede halten solle. Der prominente Prediger wählte einen Vers aus dem Johannesevangelium über die Bestimmung des Menschen, "daß er Frucht bringt und seine Frucht bleibe". In der Auslegung des Textes konnte Harnack die wissenschaftlichen Werke des "Führers der deutschen Geschichtswissenschaft" preisen und das umstrittene politische Engagement des kämpferischen Bürgers würdigen. Der Trauergemeinde beschrieb er Mommsen als einen schwierigen, widersprüchlichen Menschen, der äußerst schroff und verletzend, aber auch unendlich sensibel und zärtlich habe sein können: "Lag doch im Grunde seiner Seele ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, wie ich es so tief, so weich und so stark niemals geschaut habe. Die unter dieser warmen Sonne gestanden haben, wissen es, mit welcher Kraft und mit welchem Zartsinn er ein Freund war. Hier erst war dieser lebendigste Geist ganz er selbst. Dieser Verkehr von Herz zu Herz und von Mund zu Mund, er war das Element seines Lebens."
Der Prediger wußte, wovon er sprach. Schon bald nach seiner 1888 erfolgten Berufung an die Berliner Universität war er dem vierunddreißig Jahre älteren berühmten Althistoriker vorgestellt worden. Der durch seine Herkunft aus einem Pfarrhaus traumatisierte Theodor Mommsen blieb zunächst reserviert, hielt er die christliche Religion doch für einen Köhlerglauben und die Theologen für Ignoranten. Schon bald erkannte er aber die hohe geschichtswissenschaftliche Kompetenz und das außergewöhnliche Organisationstalent des jungen Kirchenhistorikers. Seit 1892 bezeichnete er ihn als seinen "werten Freund". Er nutzte seinen großen Einfluß, um Harnack in der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Schlüsselstellung bei der Planung und Durchführung geisteswissenschaftlicher Großunternehmen zu verschaffen. Für seine Publikationen nahm er gern die "doctrina und sagacitas" des Patristikers in Anspruch. Umgekehrt bereitete es ihm Freude, die Druckfahnen von Harnacks 1902 erschienener Monographie über "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten" mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen. Der alte Mommsen sah in Harnack den wichtigsten Garanten für den Ausbau der Vormachtstellung Deutschlands in den historischen Kulturwissenschaften. Diese Kronprinzenrolle trug Harnack in Universität und Akademie viel Feindschaft ein. Besonders gekränkt war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der unter der Distanz seines autoritären Schwiegervaters litt und vergeblich versuchte, in der Akademie dessen geschicktes Zusammenspiel mit Harnack zu vereiteln.
Stefan Rebenich hat in seiner Mannheimer althistorischen Habilitationsschrift nun den fragmentarisch erhaltenen Briefwechsel der beiden Gelehrten ediert und ausgewertet. Insgesamt sind 232 Briefe überliefert. Hinzu kommen ein Brief Harnacks an Marie Mommsen, zwei Briefe Amalie Harnacks an Theodor Mommsen sowie ein 1923 geschriebener Brief des Mommsen-Sohnes Ernst. Rebenichs philologische Leistung verdient höchsten Respekt. Mommsens Handschrift läßt sich nur unter größten Anstrengungen entziffern. Harnack hatte zwar eine feine, schnurgerade Handschrift, entwickelte in seiner permanenten Rastlosigkeit aber ein System von Kürzeln, dessen Entschlüsselung großen Scharfsinn verlangt. Beide Aufgaben hat der Herausgeber überzeugend gelöst. Alle Briefe sind präzise, bisweilen zu präzise kommentiert. Störend wirken auch kleinere Druckfehler, etwa die falsche Schreibweise des Namens von Karl Lamprecht.
Kärrnerarbeit für alle
424 Seiten Quellen und Kommentar stehen 573 Seiten Interpretation gegenüber. Rebenich beschreibt zunächst die wissenschaftspolitischen Aktivitäten der machtbewußten Gelehrten. Gemeinsam zog man im Hintergrund die Fäden, um mit teils staatlichen, teils von privaten Mäzenen stammenden Mitteln Editionsprojekte auf den Weg zu bringen. Man stellte ein Heer selbstloser Mitarbeiter ein und entwickelte Strategien, um junge Gelehrte durch harte philologische Kleinarbeit auf ihre Tauglichkeit für eine akademische Laufbahn zu prüfen. Harnack war fasziniert von Mommens Arbeitsethos und sah in der genauen Kontrolle von Doktoranden ein Vorbild für die Organisation des historischen Großbetriebs. Umgekehrt war Mommsen von der Entschlossenheit beeindruckt, mit der Harnack die protestantische Theologie in eine rein historisch verfahrende Kulturwissenschaft des Christentums umformen wollte. Beide gewannen Arbeitszeit durch einen festen Tagesrhythmus, beantworteten die zahlreichen an sie gerichteten Briefe innerhalb zweier Tage und lasen wichtige Neuerscheinungen frühmorgens im Bett, um durch schnell erscheinende Rezensionen das Urteil der Fachgenossen zu präjudizieren.
Als positivistische Fachmenschen betrieben sie philologische und prosopographische Spezialforschung. Zugleich suchten sie die Fülle neuen Wissens in sprachlich glänzenden Synthesen darzustellen. Besessene Hingabe ans Detail und großer Wurf waren eng verknüpft. "Der König" im Reich des Geistes müsse, wie Harnack Mommsen schrieb, "sein eigener Kärrner sein, wenn er königlich bauen will". Die Entäußerung an die Sache gewann religiöse Züge. "Arbeiten haben Sie uns gelehrt, im wörtlichen Sinn und im höhern: Sie haben uns gelehrt, das Leben durch Arbeit zu steigern, und, wo es nötig, durch Arbeit zu bekämpfen", erklärte Harnack zum goldenen Ordinariatsjubiläum des Nobelpreisträgers Mommsen.
Das Zusammenwirken in der Akademie verdeutlicht Rebenich an der gemeinsam geplanten, wesentlich von Harnack geleiteten "Kirchenväterkommission", die die "Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte" kritisch edieren sollte. Zwar gelang es Mommsen nicht, Harnack zu seinem Nachfolger als Sekretär der historisch-philologischen Klasse wählen zu lassen. Die Majorität der Philologen wollte in diesem Amt keinen Theologen sehen. Religionswissenschaftlich arbeitende Gelehrte wie Julius Wellhausen und Hermann Usener konnten Harnack später auch peinliche philologische Flüchtigkeitsfehler nachweisen. Wilamowitz spottete, daß der Theologe "mehr für die Fixigkeit als für die Richtigkeit" gut sei. Den Aufstieg Harnacks zum Repräsentanten des deutschen Wissenschaftssystems und Ratgeber des Kaisers konnten die Philologen durch Textkritik aber nicht verhindern. 1896 erhielt Harnack den Auftrag, zum zweihundertjährigen Jubiläum die Geschichte der Akademie zu schreiben. Das Manuskript lag pünktlich, im Mai 1899, vor. Vor einer internationalen akademischen Öffentlichkeit und in Anwesenheit des Kaisers hielt der Theologe bei der Jubiläumsfeier 1900 die Festrede. Seinem kulturidealistischen Credo entsprach es, durch Geschichtsschreibung Normen für die Gegenwart zu gewinnen. So erhob der zum Historiker der Akademie avancierte Theologe den Anspruch, die aktuellen Ziele deutscher Wissenschaftspolitiker zu bestimmen.
Einsam wurde nur einer
In Universität, Akademie und wissenschaftlicher Öffentlichkeit übernahm Harnack seit der Jahrhundertwende weithin Mommsens Rolle. Doch politisch verweigerte er dem Älteren die Gefolgschaft. Mommsen war durch die Achtundvierziger-Erhebung in Schleswig-Holstein geprägt worden. Er verstand sich als ein parteilicher "politischer Professor", der gegen die Herrschenden für bürgerliche Freiheit eintrat. Im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag kämpfte er für die Fortschrittspartei und später für die Nationalliberalen gegen Bismarck. Der zornige Bekenntnisliberale wurde seit den neunziger Jahren politisch immer einsamer und hatte nach Ludwig Bambergers Tod 1899 keine bedeutenden Mitstreiter mehr.
Harnack hingegen konnte seinen politischen Einfluß seit der Jahrhundertwende konsequent ausweiten. Als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses wollte er die Regierenden durch wissenschaftliche Reflexion sozialpolitisch beraten, ohne Partei zu ergreifen. Niemals trat er in eine Partei ein. Die Vorstellung, ins Parlament zu gehen, lag ihm fern. Zu Recht schildert Rebenich ihn als einen gouvernementalen Gelehrtenpolitiker, der ein überparteiliches, konsensorientiertes Wächteramt wahrzunehmen suchte. Die Freiheit der Wissenschaft sah Harnack weniger durch den Staat als durch einen von den Parteien und Verbänden ausgehenden Politisierungsdruck bedroht. Seine vermeintlich neutrale, etatistische Gelehrtenpolitik folgte dem kulturprotestantischen Ideal, die Spannungen zwischen Bürgerfreiheit und Gemeinwohl durch wissenschaftlich begründete Kulturwerte aufzuheben. Faktisch legte er die deutsche Kulturnation auf spezifisch protestantische Werte fest. Darin lag die Grenze, aber auch die Anziehungskraft seines Integrationskonzepts in der halbkonstitutionellen Monarchie evangelischer Hohenzollern.
Rebenich deutet den gelehrten Austausch seiner Helden mit Begriffen, die seit Rüdiger vom Bruchs Studie zur "Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland" zum Gemeingut der Wissenschaftstheoretiker gehören. Ihm geht es um Wissenschaftspolitik, Fächergrenzen, Leitwissenschaften und die Institutionalisierung akademischer Rationalitätskriterien. Selbst große Fachmenschen gehen in jener szientifischen Vernünftigkeit aber nicht auf, die sie lehren und durch asketische Selbstdisziplinierung leben. Sie haben auch Gefühle und müssen die Kontingenzen endlichen Lebens deuten. Über die persönliche Nähe der Freunde weiß Rebenich leider nur wenig zu sagen. Mit gediegenem Positivismus bleibt er auf akademische Scharmützel und den Austausch von Sonderdrucken fixiert. Für Mommsen und Harnack aber ging es um sehr viel mehr. Da hatte ein alter Mann, der sich vor dem Sterben fürchtete, einen jungen Theologen getroffen, mit dem er über den Glauben seiner Väter reden konnte, den er durch kritische Wissenschaft verloren hatte. Als Junge hatte Mommsen lieber Jens statt Theodor - Gottesgeschenk - gerufen werden wollen. Mit religionskritischem Pathos hatte er in seiner "Römischen Geschichte" die Christen für den Untergang des römischen Reiches verantwortlich gemacht.
Im hohen Alter begann der Historiker, der Fachmann fürs Zeitliche, über Johann Rists altes Kirchenlied "O Ewigkeit, du Donnerwort, o Ewigkeit, Zeit ohne Zeit" nachzusinnen. Im Jüngeren sah er sein alter ego, und durch die Seelenverwandtschaft erschloß sich ihm eine neue Intensität des Lebens. Bei Harnacks fünfzigstem Geburtstag hielt der dreiundachtzigjährige Mommsen 1901 die Geburtstagsrede: "Ich alter Meergreis konnte keinen Anspruch mehr auf Freundschaften machen - daher betrachte ich es als ein unerwartetes Glück, daß ich noch meine Rose von Jericho gefunden habe in diesem Mann, der den Orient mit dem Occident verbunden hat." Harnacks Grabrede ist als Antwort auf diese Liebeserklärung zu lesen. FRIEDRICH WILHELM GRAF
Stefan Rebenich: "Theodor Mommsen und Adolf Harnack". Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. XXI, 1018 S., 2 Abb., geb., 348,- DM.
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Mommsen, Harnack & Co.: Aus der Chefetage einer Denkfabrik
Auf dem Totenbett hatte Theodor Mommsen gewünscht, daß Adolf Harnack seine Grabrede halten solle. Der prominente Prediger wählte einen Vers aus dem Johannesevangelium über die Bestimmung des Menschen, "daß er Frucht bringt und seine Frucht bleibe". In der Auslegung des Textes konnte Harnack die wissenschaftlichen Werke des "Führers der deutschen Geschichtswissenschaft" preisen und das umstrittene politische Engagement des kämpferischen Bürgers würdigen. Der Trauergemeinde beschrieb er Mommsen als einen schwierigen, widersprüchlichen Menschen, der äußerst schroff und verletzend, aber auch unendlich sensibel und zärtlich habe sein können: "Lag doch im Grunde seiner Seele ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, wie ich es so tief, so weich und so stark niemals geschaut habe. Die unter dieser warmen Sonne gestanden haben, wissen es, mit welcher Kraft und mit welchem Zartsinn er ein Freund war. Hier erst war dieser lebendigste Geist ganz er selbst. Dieser Verkehr von Herz zu Herz und von Mund zu Mund, er war das Element seines Lebens."
Der Prediger wußte, wovon er sprach. Schon bald nach seiner 1888 erfolgten Berufung an die Berliner Universität war er dem vierunddreißig Jahre älteren berühmten Althistoriker vorgestellt worden. Der durch seine Herkunft aus einem Pfarrhaus traumatisierte Theodor Mommsen blieb zunächst reserviert, hielt er die christliche Religion doch für einen Köhlerglauben und die Theologen für Ignoranten. Schon bald erkannte er aber die hohe geschichtswissenschaftliche Kompetenz und das außergewöhnliche Organisationstalent des jungen Kirchenhistorikers. Seit 1892 bezeichnete er ihn als seinen "werten Freund". Er nutzte seinen großen Einfluß, um Harnack in der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Schlüsselstellung bei der Planung und Durchführung geisteswissenschaftlicher Großunternehmen zu verschaffen. Für seine Publikationen nahm er gern die "doctrina und sagacitas" des Patristikers in Anspruch. Umgekehrt bereitete es ihm Freude, die Druckfahnen von Harnacks 1902 erschienener Monographie über "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten" mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen. Der alte Mommsen sah in Harnack den wichtigsten Garanten für den Ausbau der Vormachtstellung Deutschlands in den historischen Kulturwissenschaften. Diese Kronprinzenrolle trug Harnack in Universität und Akademie viel Feindschaft ein. Besonders gekränkt war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der unter der Distanz seines autoritären Schwiegervaters litt und vergeblich versuchte, in der Akademie dessen geschicktes Zusammenspiel mit Harnack zu vereiteln.
Stefan Rebenich hat in seiner Mannheimer althistorischen Habilitationsschrift nun den fragmentarisch erhaltenen Briefwechsel der beiden Gelehrten ediert und ausgewertet. Insgesamt sind 232 Briefe überliefert. Hinzu kommen ein Brief Harnacks an Marie Mommsen, zwei Briefe Amalie Harnacks an Theodor Mommsen sowie ein 1923 geschriebener Brief des Mommsen-Sohnes Ernst. Rebenichs philologische Leistung verdient höchsten Respekt. Mommsens Handschrift läßt sich nur unter größten Anstrengungen entziffern. Harnack hatte zwar eine feine, schnurgerade Handschrift, entwickelte in seiner permanenten Rastlosigkeit aber ein System von Kürzeln, dessen Entschlüsselung großen Scharfsinn verlangt. Beide Aufgaben hat der Herausgeber überzeugend gelöst. Alle Briefe sind präzise, bisweilen zu präzise kommentiert. Störend wirken auch kleinere Druckfehler, etwa die falsche Schreibweise des Namens von Karl Lamprecht.
Kärrnerarbeit für alle
424 Seiten Quellen und Kommentar stehen 573 Seiten Interpretation gegenüber. Rebenich beschreibt zunächst die wissenschaftspolitischen Aktivitäten der machtbewußten Gelehrten. Gemeinsam zog man im Hintergrund die Fäden, um mit teils staatlichen, teils von privaten Mäzenen stammenden Mitteln Editionsprojekte auf den Weg zu bringen. Man stellte ein Heer selbstloser Mitarbeiter ein und entwickelte Strategien, um junge Gelehrte durch harte philologische Kleinarbeit auf ihre Tauglichkeit für eine akademische Laufbahn zu prüfen. Harnack war fasziniert von Mommens Arbeitsethos und sah in der genauen Kontrolle von Doktoranden ein Vorbild für die Organisation des historischen Großbetriebs. Umgekehrt war Mommsen von der Entschlossenheit beeindruckt, mit der Harnack die protestantische Theologie in eine rein historisch verfahrende Kulturwissenschaft des Christentums umformen wollte. Beide gewannen Arbeitszeit durch einen festen Tagesrhythmus, beantworteten die zahlreichen an sie gerichteten Briefe innerhalb zweier Tage und lasen wichtige Neuerscheinungen frühmorgens im Bett, um durch schnell erscheinende Rezensionen das Urteil der Fachgenossen zu präjudizieren.
Als positivistische Fachmenschen betrieben sie philologische und prosopographische Spezialforschung. Zugleich suchten sie die Fülle neuen Wissens in sprachlich glänzenden Synthesen darzustellen. Besessene Hingabe ans Detail und großer Wurf waren eng verknüpft. "Der König" im Reich des Geistes müsse, wie Harnack Mommsen schrieb, "sein eigener Kärrner sein, wenn er königlich bauen will". Die Entäußerung an die Sache gewann religiöse Züge. "Arbeiten haben Sie uns gelehrt, im wörtlichen Sinn und im höhern: Sie haben uns gelehrt, das Leben durch Arbeit zu steigern, und, wo es nötig, durch Arbeit zu bekämpfen", erklärte Harnack zum goldenen Ordinariatsjubiläum des Nobelpreisträgers Mommsen.
Das Zusammenwirken in der Akademie verdeutlicht Rebenich an der gemeinsam geplanten, wesentlich von Harnack geleiteten "Kirchenväterkommission", die die "Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte" kritisch edieren sollte. Zwar gelang es Mommsen nicht, Harnack zu seinem Nachfolger als Sekretär der historisch-philologischen Klasse wählen zu lassen. Die Majorität der Philologen wollte in diesem Amt keinen Theologen sehen. Religionswissenschaftlich arbeitende Gelehrte wie Julius Wellhausen und Hermann Usener konnten Harnack später auch peinliche philologische Flüchtigkeitsfehler nachweisen. Wilamowitz spottete, daß der Theologe "mehr für die Fixigkeit als für die Richtigkeit" gut sei. Den Aufstieg Harnacks zum Repräsentanten des deutschen Wissenschaftssystems und Ratgeber des Kaisers konnten die Philologen durch Textkritik aber nicht verhindern. 1896 erhielt Harnack den Auftrag, zum zweihundertjährigen Jubiläum die Geschichte der Akademie zu schreiben. Das Manuskript lag pünktlich, im Mai 1899, vor. Vor einer internationalen akademischen Öffentlichkeit und in Anwesenheit des Kaisers hielt der Theologe bei der Jubiläumsfeier 1900 die Festrede. Seinem kulturidealistischen Credo entsprach es, durch Geschichtsschreibung Normen für die Gegenwart zu gewinnen. So erhob der zum Historiker der Akademie avancierte Theologe den Anspruch, die aktuellen Ziele deutscher Wissenschaftspolitiker zu bestimmen.
Einsam wurde nur einer
In Universität, Akademie und wissenschaftlicher Öffentlichkeit übernahm Harnack seit der Jahrhundertwende weithin Mommsens Rolle. Doch politisch verweigerte er dem Älteren die Gefolgschaft. Mommsen war durch die Achtundvierziger-Erhebung in Schleswig-Holstein geprägt worden. Er verstand sich als ein parteilicher "politischer Professor", der gegen die Herrschenden für bürgerliche Freiheit eintrat. Im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag kämpfte er für die Fortschrittspartei und später für die Nationalliberalen gegen Bismarck. Der zornige Bekenntnisliberale wurde seit den neunziger Jahren politisch immer einsamer und hatte nach Ludwig Bambergers Tod 1899 keine bedeutenden Mitstreiter mehr.
Harnack hingegen konnte seinen politischen Einfluß seit der Jahrhundertwende konsequent ausweiten. Als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses wollte er die Regierenden durch wissenschaftliche Reflexion sozialpolitisch beraten, ohne Partei zu ergreifen. Niemals trat er in eine Partei ein. Die Vorstellung, ins Parlament zu gehen, lag ihm fern. Zu Recht schildert Rebenich ihn als einen gouvernementalen Gelehrtenpolitiker, der ein überparteiliches, konsensorientiertes Wächteramt wahrzunehmen suchte. Die Freiheit der Wissenschaft sah Harnack weniger durch den Staat als durch einen von den Parteien und Verbänden ausgehenden Politisierungsdruck bedroht. Seine vermeintlich neutrale, etatistische Gelehrtenpolitik folgte dem kulturprotestantischen Ideal, die Spannungen zwischen Bürgerfreiheit und Gemeinwohl durch wissenschaftlich begründete Kulturwerte aufzuheben. Faktisch legte er die deutsche Kulturnation auf spezifisch protestantische Werte fest. Darin lag die Grenze, aber auch die Anziehungskraft seines Integrationskonzepts in der halbkonstitutionellen Monarchie evangelischer Hohenzollern.
Rebenich deutet den gelehrten Austausch seiner Helden mit Begriffen, die seit Rüdiger vom Bruchs Studie zur "Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland" zum Gemeingut der Wissenschaftstheoretiker gehören. Ihm geht es um Wissenschaftspolitik, Fächergrenzen, Leitwissenschaften und die Institutionalisierung akademischer Rationalitätskriterien. Selbst große Fachmenschen gehen in jener szientifischen Vernünftigkeit aber nicht auf, die sie lehren und durch asketische Selbstdisziplinierung leben. Sie haben auch Gefühle und müssen die Kontingenzen endlichen Lebens deuten. Über die persönliche Nähe der Freunde weiß Rebenich leider nur wenig zu sagen. Mit gediegenem Positivismus bleibt er auf akademische Scharmützel und den Austausch von Sonderdrucken fixiert. Für Mommsen und Harnack aber ging es um sehr viel mehr. Da hatte ein alter Mann, der sich vor dem Sterben fürchtete, einen jungen Theologen getroffen, mit dem er über den Glauben seiner Väter reden konnte, den er durch kritische Wissenschaft verloren hatte. Als Junge hatte Mommsen lieber Jens statt Theodor - Gottesgeschenk - gerufen werden wollen. Mit religionskritischem Pathos hatte er in seiner "Römischen Geschichte" die Christen für den Untergang des römischen Reiches verantwortlich gemacht.
Im hohen Alter begann der Historiker, der Fachmann fürs Zeitliche, über Johann Rists altes Kirchenlied "O Ewigkeit, du Donnerwort, o Ewigkeit, Zeit ohne Zeit" nachzusinnen. Im Jüngeren sah er sein alter ego, und durch die Seelenverwandtschaft erschloß sich ihm eine neue Intensität des Lebens. Bei Harnacks fünfzigstem Geburtstag hielt der dreiundachtzigjährige Mommsen 1901 die Geburtstagsrede: "Ich alter Meergreis konnte keinen Anspruch mehr auf Freundschaften machen - daher betrachte ich es als ein unerwartetes Glück, daß ich noch meine Rose von Jericho gefunden habe in diesem Mann, der den Orient mit dem Occident verbunden hat." Harnacks Grabrede ist als Antwort auf diese Liebeserklärung zu lesen. FRIEDRICH WILHELM GRAF
Stefan Rebenich: "Theodor Mommsen und Adolf Harnack". Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. XXI, 1018 S., 2 Abb., geb., 348,- DM.
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"Ungemein materialreiches Werk. Es ermöglicht tiefe Einblicke in die Wissenschafts- und Bildungsgeschichte des Kaiserreichs."
Wolgang Neugebauer in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12/2005
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