Stefan Rebenich zeigt in seiner eindrucksvollen Biographie Theodor Mommsens, daß sich dessen Bedeutung nicht allein auf die Erforschung der Antike reduzieren läßt. Er erinnert an den eminent politischen Mommsen, der als junger Professor für römisches Recht wegen seines Engagements für die 48er-Revolution seines Amtes enthoben wurde, dann als liberaler Abgeordneter im deutschen Reichstag saß und sich wegen seiner demokratisch-freiheitlichen Gesinnung als Gegner Bismarcks positionierte. Die politische Genesis Mommsens interpretiert Stefan Rebenich auch als Schlüssel zum Verständnis seiner monumentalen wissenschaftlichen Werke. Darüber hinaus beschreibt er Mommsens Rolle als Wissenschaftsorganisator großen Stils, mit dessen Namen nicht zuletzt das Corpus der Lateinischen Inschriften (CIL) verbunden bleiben wird. Ein besonderes Verdienst des Autors liegt darin, daß er in allen Teilen seiner Darstellung die Persönlichkeit Mommsens nicht hinter der Fülle der Fakten und Daten aus den Augen verliert, so daß der Leser sich auf eine echte Biographie im eigentlichen Sinne des Wortes freuen darf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2003Mommsens Blockade
Das Leben eines Forschers, der nicht erforscht werden wollte
"Mit unserer biographischen Kenntnis Mommsens steht es eigentümlich schlecht." Diese Warnung stellte Alfred Heuß 1956 dem Anmerkungsapparat seiner Abhandlung über "Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert" voran. Das Buch war aus einem Vortrag entstanden, den Heuß 1953 zum fünfzigsten Todestag Mommsens in Kiel gehalten hatte. Der "entscheidende Grund" dafür, daß es an Unterrichtung "über den inneren Verlauf dieses langen und rüstigen Lebens" fehle, lag Heuß zufolge "an Mommsen selbst". Für dreißig Jahre nach seinem am 1. November 1903 eingetretenen Tod hatte Mommsen seinen Nachlaß versiegeln lassen. Aber dieser letzte Wille zog nur die Konsequenz aus einer das ganze Leben prägenden Haltung. In der Schlußbetrachtung der Studie, die keine Biographie sein konnte oder jedenfalls sein wollte, stellte Heuß bündig fest: "Mommsen war kein Freund von Konfessionen."
Sofern sein Leben die Öffentlichkeit anging, war es in seinem Werk zu finden, in der wissenschaftlichen Arbeit. Die Persönlichkeit verzehrte sich im Feuereifer für die Sache. Im Ethos demonstrativer Selbstauslöschung traf sich Mommsen durchaus mit seinem Berliner Kollegen Ranke, dem anderen Gründervater quellenkritischer, arbeitsteilig organisierter historischer Forschung. Zwar trat Mommsen, wo Ranke in der Kontemplation aufging, auch als Parlamentsredner und Verfasser von Denkschriften vor das Publikum. Aber auch dieses öffentliche Wirken sprach für sich selbst. Gerade die verletzende Schärfe des Polemikers Mommsen wird daraus erklärlich, daß er nicht in eigener Sache das Wort ergriff, sondern, in den Wendungen der berühmten Testamentsklausel von 1899, als der "Bürger", der sich als "animal politicum" im aristotelischen Vollsinn verstand: Jeder Mitbürger müßte mit gleicher Leidenschaft für das Richtige streiten, weil die Natur dem Menschen die Sorge um die öffentlichen Dinge mitgegeben hat.
Nun zieht die innere Seite eines äußerlich in so imposanter Weise geschlossenen Daseins eine Neugier auf sich, die dem Menschen ebenso natürlich sein mag. Steht es denn, nachdem ein zweites halbes Jahrhundert verstrichen ist, heute besser mit unserer biographischen Kenntnis? "Eine Biographie" nennt sich im Untertitel das Buch, das der Mannheimer Althistoriker Stefan Rebenich im vergangenen Jahr zur Hundertjahrfeier des Nobelpreises vorgelegt hat. Den Verdacht, daß alle Fortschritte der Quellenerschließung das Problem der Mommsen-Biographik unberührt gelassen haben, weckt schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis. "Der Mensch" ist Gegenstand des vorletzten Kapitels. "Der Wissenschaftler", "Der Wissenschaftsorganisator" und "Der Politiker" können offenbar ohne Rücksicht auf den Menschen betrachtet werden.
Zwischen Heuß und Rebenich erschien die vierbändige Biographie Lothar Wickerts, der im Auftrag der Berliner Akademie den Nachlaß ausgewertet hat. Mit Wickert geht Rebenich im abschließenden Kapitel über das Nachleben unter Berufung auf Heuß harsch ins Gericht; er habe weder das neunzehnte Jahrhundert verstanden noch "den Gegenstand seiner jahrzehntelangen Forschungen: Theodor Mommsen". Heuß zollt Rebenich Tribut, bevor er auf seine eigene Habilitationsschrift, die Edition des Briefwechsels mit Harnack, sowie auf Mommsen-Briefmarken und auf den Intercity Theodor Mommsen zu sprechen kommt, der aus Gründen, die der Verfasser nicht erhellt, von Nürnberg und nicht von Kiel nach Berlin fährt.
Zu kurz komme bei Heuß die Darstellung des Wissenschaftspolitikers - mithin jenes Feld von Mommsens Wirksamkeit, dessen Einzelheiten das größere Publikum am wenigsten interessieren dürften. Nicht vorrangig an Fachleute richtet sich aber offenkundig ein Werk, das über Mommsens Italienaufenthalt von 1844 bis 1847 mitzuteilen weiß: "Mit Winckelmann und Goethe suchte er ,die edle Einfalt und stille Größe' der Antike". Die große Zeit der geisteswissenschaftlichen Großforschung ist längst selbst Gegenstand wohlorganisierter gelehrter Großanstrengungen. Kein Zettelkasten einer Fragment gebliebenen Edition der griechischen Nachsokratiker, der vor der Publikation durch William M. Calder III sicher wäre. Das "System Althoff" ist so minutiös dokumentiert wie der Aufstieg des Hauses Krupp; es fehlt eigentlich nur noch die Firmengeschichte mit Geleitwort von Edelgard Bulmahn. Es ist schon seltsam, daß eine Forschergeneration, deren Panier das permanente Fortschreiten der Erkenntnis war, zum Objekt solcher Erbepflege geworden ist. Die Leistungen der von Mommsen gelenkten Corpora und Lexika bleiben für den Nichtfachmann römische Dörfer.
Ihn gehen nur die Folgen der neuen Organisation der Forschung für Denkungsart und Lebensweise des Forschers an. Welche Rolle Mommsen bei der Umstellung auf fabrikmäßige Wissensproduktion spielte, hat schon Heuß in aller Schärfe herausgearbeitet: "Mommsen hat mit einer schonungslosen Rückhaltlosigkeit und Rücksichtslosigkeit, die er in gleicher Weise gegen sich wie gegen andere kehrte, das wissenschaftliche Arbeiten am Fließband als Typus und als Generalform durchgesetzt." Dem Nutzen und Nachteil solchen Arbeitens widmet sich im gelehrten Industrierevier heute ein ganz besonderer Sonderforschungsbereich: die Historismusdebatte, deren Eigentümliches ist, daß es sich um eine Debatte über eine Debatte handelt. Nähme Max Weber an den seinem Andenken geweihten Tagungen teil, würde er wohl an seiner These von der progressiven Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis irre. Häufiger als ein Zuwachs des Wissens ist ein Nachlassen der intellektuellen Kraft zu bemerken.
Man mache den Textvergleich. Rebenich 2002: "Der kulturpessimistische Basler Historiker Jacob Burckhardt kritisierte in seinen Vorlesungen die lebensfeindliche Wirkung einer auf individualisierendem Verstehen gegründeten Geschichtswissenschaft, die nicht mit dem praktischen Leben verbunden sei." Heuß 1956: "Wenn Jacob Burckhardt mit einem unverkennbaren Grauen nach Berlin blickte und dem angestrengten Treiben der viri doctissimi mit einem skeptischen Respekt begegnete, um sich die Freiheit des aristokratischen dilettante vorzubehalten, so konnte er gar nicht anders als in erster Linie an Mommsen denken, in dessen Augen Dilettantismus die schärfste Verurteilung darstellte."
Heuß hat eben doch eine Biographie verfaßt, den Gegenständen entlang, wie es einem Leben angemessen ist, das sich selbst objektivierte. Rebenich folgt bis in die Gliederung diesem Muster, mit geringerer plastischer Energie bei knapperem Umfang. Könnten diskurshistorische Bohrungen den Panzer der Methode durchlöchern, wie man es bei Gibbon und Michelet, Bloch und Kantorowicz probiert hat? Solche Experimentalbiographik ist Rebenichs Sache nicht; er liest die "Römische Geschichte" nicht als biographische Quelle.
Prägnant ist der Aufriß des "Römischen Staatsrechts", das Mommsen selbst für sein Hauptwerk hielt. Der streng systematische Zugriff, an dem so viele Historikerkollegen Anstoß genommen haben, erscheint als Zuspitzung der modernen Hermeneutik, die die Alten besser verstehen wollte, als diese sich selbst verstanden hatten. "Nur so vermochte er etwas vorzulegen, was es im Altertum nicht gab: ein römisches Staatsrecht." Ebenso schlagend Rebenichs politische Lesart des gelehrten Monuments: Mommsen agierte gleichsam selbst als Verfassungsgeber eines liberalen Musterstaats, wenn er Königtum und Prinzipat als Varianten der Republik deutete und die Rechtsbindung aller Staatsgewalt postulierte.
Unscharf gerät dagegen die Einordnung von Mommsens direkter politischer Rede, gerade wo sie kritisch gemeint ist. Die Annexion Schleswig-Holsteins rechtfertigte Mommsen mit der mythischen Denkfigur, der Staat, der jede Wunde heilen könne, dürfe auch jede schlagen. Der Kommentar des jüngsten Biographen: "Mommsen leitete die Legitimität einer destruktiven Machtpolitik aus der historischen Notwendigkeit ab." Könnte der Skandal nicht gerade die Legitimierung einer konstruktiven Machtpolitik gewesen sein? Das Buch von Alfred Heuß, der an der Schleswig-Holstein-Frage die "Krise des Mommsenschen Liberalismus" verdeutlicht, dessen "Auflösung der Macht in einen komplexen geschichtlichen Rechtsbegriff" der posthegelianisch entzweiten Zeit nicht plausibel werden wollte, ist im Franz Steiner Verlag für 38 Euro lieferbar.
PATRICK BAHNERS
Stefan Rebenich: "Theodor Mommsen". Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2002. 272 S., 21 Abb., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben eines Forschers, der nicht erforscht werden wollte
"Mit unserer biographischen Kenntnis Mommsens steht es eigentümlich schlecht." Diese Warnung stellte Alfred Heuß 1956 dem Anmerkungsapparat seiner Abhandlung über "Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert" voran. Das Buch war aus einem Vortrag entstanden, den Heuß 1953 zum fünfzigsten Todestag Mommsens in Kiel gehalten hatte. Der "entscheidende Grund" dafür, daß es an Unterrichtung "über den inneren Verlauf dieses langen und rüstigen Lebens" fehle, lag Heuß zufolge "an Mommsen selbst". Für dreißig Jahre nach seinem am 1. November 1903 eingetretenen Tod hatte Mommsen seinen Nachlaß versiegeln lassen. Aber dieser letzte Wille zog nur die Konsequenz aus einer das ganze Leben prägenden Haltung. In der Schlußbetrachtung der Studie, die keine Biographie sein konnte oder jedenfalls sein wollte, stellte Heuß bündig fest: "Mommsen war kein Freund von Konfessionen."
Sofern sein Leben die Öffentlichkeit anging, war es in seinem Werk zu finden, in der wissenschaftlichen Arbeit. Die Persönlichkeit verzehrte sich im Feuereifer für die Sache. Im Ethos demonstrativer Selbstauslöschung traf sich Mommsen durchaus mit seinem Berliner Kollegen Ranke, dem anderen Gründervater quellenkritischer, arbeitsteilig organisierter historischer Forschung. Zwar trat Mommsen, wo Ranke in der Kontemplation aufging, auch als Parlamentsredner und Verfasser von Denkschriften vor das Publikum. Aber auch dieses öffentliche Wirken sprach für sich selbst. Gerade die verletzende Schärfe des Polemikers Mommsen wird daraus erklärlich, daß er nicht in eigener Sache das Wort ergriff, sondern, in den Wendungen der berühmten Testamentsklausel von 1899, als der "Bürger", der sich als "animal politicum" im aristotelischen Vollsinn verstand: Jeder Mitbürger müßte mit gleicher Leidenschaft für das Richtige streiten, weil die Natur dem Menschen die Sorge um die öffentlichen Dinge mitgegeben hat.
Nun zieht die innere Seite eines äußerlich in so imposanter Weise geschlossenen Daseins eine Neugier auf sich, die dem Menschen ebenso natürlich sein mag. Steht es denn, nachdem ein zweites halbes Jahrhundert verstrichen ist, heute besser mit unserer biographischen Kenntnis? "Eine Biographie" nennt sich im Untertitel das Buch, das der Mannheimer Althistoriker Stefan Rebenich im vergangenen Jahr zur Hundertjahrfeier des Nobelpreises vorgelegt hat. Den Verdacht, daß alle Fortschritte der Quellenerschließung das Problem der Mommsen-Biographik unberührt gelassen haben, weckt schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis. "Der Mensch" ist Gegenstand des vorletzten Kapitels. "Der Wissenschaftler", "Der Wissenschaftsorganisator" und "Der Politiker" können offenbar ohne Rücksicht auf den Menschen betrachtet werden.
Zwischen Heuß und Rebenich erschien die vierbändige Biographie Lothar Wickerts, der im Auftrag der Berliner Akademie den Nachlaß ausgewertet hat. Mit Wickert geht Rebenich im abschließenden Kapitel über das Nachleben unter Berufung auf Heuß harsch ins Gericht; er habe weder das neunzehnte Jahrhundert verstanden noch "den Gegenstand seiner jahrzehntelangen Forschungen: Theodor Mommsen". Heuß zollt Rebenich Tribut, bevor er auf seine eigene Habilitationsschrift, die Edition des Briefwechsels mit Harnack, sowie auf Mommsen-Briefmarken und auf den Intercity Theodor Mommsen zu sprechen kommt, der aus Gründen, die der Verfasser nicht erhellt, von Nürnberg und nicht von Kiel nach Berlin fährt.
Zu kurz komme bei Heuß die Darstellung des Wissenschaftspolitikers - mithin jenes Feld von Mommsens Wirksamkeit, dessen Einzelheiten das größere Publikum am wenigsten interessieren dürften. Nicht vorrangig an Fachleute richtet sich aber offenkundig ein Werk, das über Mommsens Italienaufenthalt von 1844 bis 1847 mitzuteilen weiß: "Mit Winckelmann und Goethe suchte er ,die edle Einfalt und stille Größe' der Antike". Die große Zeit der geisteswissenschaftlichen Großforschung ist längst selbst Gegenstand wohlorganisierter gelehrter Großanstrengungen. Kein Zettelkasten einer Fragment gebliebenen Edition der griechischen Nachsokratiker, der vor der Publikation durch William M. Calder III sicher wäre. Das "System Althoff" ist so minutiös dokumentiert wie der Aufstieg des Hauses Krupp; es fehlt eigentlich nur noch die Firmengeschichte mit Geleitwort von Edelgard Bulmahn. Es ist schon seltsam, daß eine Forschergeneration, deren Panier das permanente Fortschreiten der Erkenntnis war, zum Objekt solcher Erbepflege geworden ist. Die Leistungen der von Mommsen gelenkten Corpora und Lexika bleiben für den Nichtfachmann römische Dörfer.
Ihn gehen nur die Folgen der neuen Organisation der Forschung für Denkungsart und Lebensweise des Forschers an. Welche Rolle Mommsen bei der Umstellung auf fabrikmäßige Wissensproduktion spielte, hat schon Heuß in aller Schärfe herausgearbeitet: "Mommsen hat mit einer schonungslosen Rückhaltlosigkeit und Rücksichtslosigkeit, die er in gleicher Weise gegen sich wie gegen andere kehrte, das wissenschaftliche Arbeiten am Fließband als Typus und als Generalform durchgesetzt." Dem Nutzen und Nachteil solchen Arbeitens widmet sich im gelehrten Industrierevier heute ein ganz besonderer Sonderforschungsbereich: die Historismusdebatte, deren Eigentümliches ist, daß es sich um eine Debatte über eine Debatte handelt. Nähme Max Weber an den seinem Andenken geweihten Tagungen teil, würde er wohl an seiner These von der progressiven Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis irre. Häufiger als ein Zuwachs des Wissens ist ein Nachlassen der intellektuellen Kraft zu bemerken.
Man mache den Textvergleich. Rebenich 2002: "Der kulturpessimistische Basler Historiker Jacob Burckhardt kritisierte in seinen Vorlesungen die lebensfeindliche Wirkung einer auf individualisierendem Verstehen gegründeten Geschichtswissenschaft, die nicht mit dem praktischen Leben verbunden sei." Heuß 1956: "Wenn Jacob Burckhardt mit einem unverkennbaren Grauen nach Berlin blickte und dem angestrengten Treiben der viri doctissimi mit einem skeptischen Respekt begegnete, um sich die Freiheit des aristokratischen dilettante vorzubehalten, so konnte er gar nicht anders als in erster Linie an Mommsen denken, in dessen Augen Dilettantismus die schärfste Verurteilung darstellte."
Heuß hat eben doch eine Biographie verfaßt, den Gegenständen entlang, wie es einem Leben angemessen ist, das sich selbst objektivierte. Rebenich folgt bis in die Gliederung diesem Muster, mit geringerer plastischer Energie bei knapperem Umfang. Könnten diskurshistorische Bohrungen den Panzer der Methode durchlöchern, wie man es bei Gibbon und Michelet, Bloch und Kantorowicz probiert hat? Solche Experimentalbiographik ist Rebenichs Sache nicht; er liest die "Römische Geschichte" nicht als biographische Quelle.
Prägnant ist der Aufriß des "Römischen Staatsrechts", das Mommsen selbst für sein Hauptwerk hielt. Der streng systematische Zugriff, an dem so viele Historikerkollegen Anstoß genommen haben, erscheint als Zuspitzung der modernen Hermeneutik, die die Alten besser verstehen wollte, als diese sich selbst verstanden hatten. "Nur so vermochte er etwas vorzulegen, was es im Altertum nicht gab: ein römisches Staatsrecht." Ebenso schlagend Rebenichs politische Lesart des gelehrten Monuments: Mommsen agierte gleichsam selbst als Verfassungsgeber eines liberalen Musterstaats, wenn er Königtum und Prinzipat als Varianten der Republik deutete und die Rechtsbindung aller Staatsgewalt postulierte.
Unscharf gerät dagegen die Einordnung von Mommsens direkter politischer Rede, gerade wo sie kritisch gemeint ist. Die Annexion Schleswig-Holsteins rechtfertigte Mommsen mit der mythischen Denkfigur, der Staat, der jede Wunde heilen könne, dürfe auch jede schlagen. Der Kommentar des jüngsten Biographen: "Mommsen leitete die Legitimität einer destruktiven Machtpolitik aus der historischen Notwendigkeit ab." Könnte der Skandal nicht gerade die Legitimierung einer konstruktiven Machtpolitik gewesen sein? Das Buch von Alfred Heuß, der an der Schleswig-Holstein-Frage die "Krise des Mommsenschen Liberalismus" verdeutlicht, dessen "Auflösung der Macht in einen komplexen geschichtlichen Rechtsbegriff" der posthegelianisch entzweiten Zeit nicht plausibel werden wollte, ist im Franz Steiner Verlag für 38 Euro lieferbar.
PATRICK BAHNERS
Stefan Rebenich: "Theodor Mommsen". Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2002. 272 S., 21 Abb., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002Rom, Reich und Rasiermesser
Stefan Rebenich bringt das Leben des Gelehrten, Geschichtsschreibers, Organisators und Politikers Theodor Mommsen in Form
Am 11.Mai1885 schrieb Theodor Mommsen an seine Frau: „Auf meinem Grabe soll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmal mein Name stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein und betrachte es nicht als Ehre in ihrem Gedächtnis zu bleiben.” Die „Nation ohne Rückgrat” hat ihm diesen Wunsch nicht erfüllt. Der hervorragende Gelehrte, der klassische Geschichtsschreiber, der als erster Deutscher im Jahre 1902 mit den Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, der innovative Wissenschaftsorganisator und der passionierte Politiker ist noch immer präsent.
Mit seinen Biografien hatte Mommsen bisher freilich wenig Glück. Die erste „biografische Skizze”, die sein Schüler, der österreichische Sozialdemokrat Ludo Moritz Hartmann schon fünf Jahre nach Mommsens Tod veröffentlichte, versuchte insbesondere dem Politiker Mommsen gerecht zu werden, von dem deshalb auch „Ausgewählte Politische Aufsätze” erneut publiziert wurden.
Die 1956 erschienene Monografie von Alfred Heuß „Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert” war sehr viel anspruchsvoller. Durch seine Nähe zum Römischen Recht, seine Neigung zu Abstraktion, Sarkasmus und bitterer Polemik erschien Heuß als kongenialer Autor für seine schwierige Aufgabe. Das hohe Niveau des Werkes wurde allgemein anerkannt; es litt freilich daran, dass es die archivalischen Materialien nicht ausführlich genug heranziehen konnte.
Die breit angelegte, vierbändige Mommsen-Biografie von Lothar Wickert (1959 bis 1980) erstickte dagegen in ihren vielerlei Quellen und konnte – nach einer vernichtenden Kritik von Heuß an den ersten Bänden – Mommsens jahrzehntelanges Berliner Wirken nur noch unter ein dürftiges Notdach bringen.
Gigant der Großwissenschaft
In dem Mannheimer Althistoriker Stefan Rebenich, dem – neben Alexander Demandt – derzeit wohl besten deutschen Mommsenspezialisten mit internationaler Reputation, fand Mommsen endlich einen, wie er selbst, passionierten Gestalter. Souverän werden in Rebenichs Biografie zunächst Herkunft und Werdegang Mommsens besprochen, auch sein anfängliches Schwanken zwischen Jurisprudenz und Geschichte, das für ihn konstitutiv bleiben sollte. Es ist erfreulich, dass neben dem Vater, dem Pfarrer Jens Mommsen, der dem Sohn Bildung und Arbeitsethos vermittelte, schon früh auch die Förderung durch den nur vier Jahre älteren klassischen Philologen Otto Jahn berücksichtigt werden.
Erste Höhepunkte der Darstellung bilden dann Mommsens politisches Engagement als Journalist im Jahre 1848 in Schleswig-Holstein sowie seine Mitwirkung an den revolutionären Vorgängen in Leipzig 1848/49, die ein Jahr später zu seiner Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis und zum Verlust seiner Professur führten. Die Strafe wurde freilich bald erlassen. Das Leben als „kleiner Flüchtling” und Professor für Römisches Recht in Zürich, vor allem jedoch die Arbeit an den ersten Bänden der „Römischen Geschichte” schlossen sich an, dem Werk, dem Rebenich eine besonders eingehende Analyse widmet.
Zu Recht wird betont, dass die einst provozierende Darstellung, die allein zu Mommsens Lebzeiten neun Auflagen erlebte, zu einem „Welterfolg” geworden ist. Dabei ging es Mommsen neben der Vermittlung römischer Geschichte vor allem darum, die „sittlich-politische Tendenz” der Bände mit Hilfe eines „modernen Tons” durchzusetzen, „die Alten... in die reale Welt zu versetzen”, in erster Linie aber ein Instrument politischer Pädagogik zu schaffen.
Rücksichten auf neuhumanistische Ideale kannte Mommsen nicht. Cicero, das Idol der Gymnasiallehrer, wurde deshalb deklassiert. Er war nach Mommsen ein „politischer Achselträger”, „in der Tat so durchaus Pfuscher, dass es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes ... Cicero hatte keine Überzeugung und keine Leidenschaft” – für Mommsen der schwerste Vorwurf. Sein Heros hieß Caesar.
Nach einer Skizze von Mommsens Weg aus Zürich über Breslau nach Berlin wendet sich Rebenich ausführlich den rechtshistorischen, philologischen und historischen Werken des Wissenschaftlers zu. In dem Gesamtüberblick über die Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten wird insbesondere die Bedeutung der von Mommsen geschaffenen rechtshistorischen Grundlagenwerke gewürdigt: des monumentalen, dreibändigen „Römischen Staatsrechts” (1871–88) und des „Römischen Strafrechts”, das noch der 82jährige im Jahr 1899 publizieren konnte. Doch auch seine vielfältigen Einzelforschungen wie seine Editionen kommen zu ihrem Recht.
Aber auch die Defizite von Mommsens Wirken werden nicht beschönigt, seine enttäuschende Lehrtätigkeit kritisch beleuchtet. Mommsen selbst empfand sein vierstündiges Kolleg stets als Last. Sein dünnes Stimmchen verhinderte jede rhetorische Wirkung; die zweistündigen, gut vorbereiteten Übungen standen dagegen auf höherem Niveau. Sie lebten von der Kritik des „Rasiermessers”, wie die Studenten Mommsen bezeichneten.
Besonders ertragreich ist Rebenichs Würdigung des Wissenschaftsorganisators Theodor Mommsen, ein Aktivitätsbereich, der nur selten adäquat anerkannt wird. Mommsen stand am Übergang von der Individual- zur Großforschung. In seiner Erwiderung auf Harnacks Antrittsrede in der Preussischen Akademie der Wissenschaften erklärte er 1890 programmatisch: „Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Großstaat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein.”
Er selbst hat diese Großforschung im Sektor der Altertumswissenschaften entscheidend stimuliert. Die monumentale Sammlung aller lateinischen Inschriften, die er persönlich leitete, die dreibändige Edition der Daten der Führungsgeschichte des Imperiums, die Collection der Griechischen christlichen Schriftsteller, das Corpus Nummorum, das umfassende Stempelcorpus der griechischen Numismatik, sind nur die wichtigsten Initiativen auf diesem Felde. Daneben stand seine Mitwirkung im Deutschen Archäologischen Institut, den Monumenta Germaniae historica, der Reichslimeskommission und vieles andere mehr – eine kaum vorstellbare Arbeitsleistung.
Bei all dem stand Mommsen in engem Kontakt mit dem späteren preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff, der seit 1882 souverän die staatliche Wissenschafts- und Kulturpolitik leitete. Für Althoff wurde Mommsen einer der wichtigsten Ratgeber und Gutachter; Mommsen seinerseits nutzte trotz aller Kritik am obrigkeitsstaatlichen und autokratischen Regiment des „Systems Althoff” doch auch immer wieder die Einflussmöglichkeiten, die sich ihm hier boten, nicht zuletzt zur beruflichen Förderung seiner Schüler und Freunde.
Rebenich hat Mommsens hochschulpolitisches Wirken in eine Übersicht über die Gesamtentwicklung der deutschen Universitäten während des 19. Jahrhunderts eingeordnet. Mommsens Tätigkeit als Dekan der Philosophischen Fakultät (1871/72) und als Rektor der Berliner Universität (1874/75) finden dabei weniger Beachtung als ein exponierter Kampf für die akademische Freiheit und die Autonomie der Hochschulen.
Die ebenso ausführliche wie ausgewogene Darstellung des Politikers Mommen dominiert im Schlussteil. Tatsächlich durchzog die politische Passion des alten Achtundvierzigers sein ganzes Leben. Mommsen stand lange auf dem linken Flügel der Nationalliberalen, diente seinem Land 1873–1879 als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1881–1884 als Reichstagsabgeordneter, wurde in dieser Funktion 1882 von Bismarck mit einem Beleidigungsprozess überzogen. Geradezu fanatisch kämpfte er gegen „Junkertum” und „Kaplanokratie”, trat zuletzt für ein Bündnis zwischen Liberalen und Sozialdemokraten ein. Er war damals der Ansicht, dass „mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, dass sie unter ihresgleichen glänzen würden.”Dem „Menschen” Mommsen gilt der letzte Aspekt der Biografie. Rebenich zeichnet ein verständnisvolles Bild von Mommsens Persönlichkeit, den Beziehungen zu seiner Frau und den 16 Kindern, seinem Lebensstil und seiner „innerweltlichen Askese” wie des gesellschaftlichen Lebens, an dem er teilnahm. Am Ende schildert er Mommsens bittere letzte Jahre, Schwermut, Einsamkeit und Tod.
Die konzentrierten kritischen Anmerkungen der Anlage belegen einmal mehr die bibliografischen Kenntnisse des Autors und die Basis dieser Biografie. In Kürze werden sich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Mommsen und sein Todestag (1.November1903) zum hundertsten Mal jähren. Während die Symposien und Reden vorbereitet werden, um Mommsen zu feiern, wäre es ein nobile officium der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Mommsens zerstreuten Nachlass und Briefwechsel zu erschließen. Was in Basel für Burckhardt richtig war, gilt auch für Mommsen in Berlin.
KARL CHRIST
STEFAN REBENICH: Theodor Mommsen. Eine Biografie. Verlag C. H. Beck, München 2002. 272 Seiten, 26,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Stefan Rebenich bringt das Leben des Gelehrten, Geschichtsschreibers, Organisators und Politikers Theodor Mommsen in Form
Am 11.Mai1885 schrieb Theodor Mommsen an seine Frau: „Auf meinem Grabe soll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmal mein Name stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein und betrachte es nicht als Ehre in ihrem Gedächtnis zu bleiben.” Die „Nation ohne Rückgrat” hat ihm diesen Wunsch nicht erfüllt. Der hervorragende Gelehrte, der klassische Geschichtsschreiber, der als erster Deutscher im Jahre 1902 mit den Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, der innovative Wissenschaftsorganisator und der passionierte Politiker ist noch immer präsent.
Mit seinen Biografien hatte Mommsen bisher freilich wenig Glück. Die erste „biografische Skizze”, die sein Schüler, der österreichische Sozialdemokrat Ludo Moritz Hartmann schon fünf Jahre nach Mommsens Tod veröffentlichte, versuchte insbesondere dem Politiker Mommsen gerecht zu werden, von dem deshalb auch „Ausgewählte Politische Aufsätze” erneut publiziert wurden.
Die 1956 erschienene Monografie von Alfred Heuß „Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert” war sehr viel anspruchsvoller. Durch seine Nähe zum Römischen Recht, seine Neigung zu Abstraktion, Sarkasmus und bitterer Polemik erschien Heuß als kongenialer Autor für seine schwierige Aufgabe. Das hohe Niveau des Werkes wurde allgemein anerkannt; es litt freilich daran, dass es die archivalischen Materialien nicht ausführlich genug heranziehen konnte.
Die breit angelegte, vierbändige Mommsen-Biografie von Lothar Wickert (1959 bis 1980) erstickte dagegen in ihren vielerlei Quellen und konnte – nach einer vernichtenden Kritik von Heuß an den ersten Bänden – Mommsens jahrzehntelanges Berliner Wirken nur noch unter ein dürftiges Notdach bringen.
Gigant der Großwissenschaft
In dem Mannheimer Althistoriker Stefan Rebenich, dem – neben Alexander Demandt – derzeit wohl besten deutschen Mommsenspezialisten mit internationaler Reputation, fand Mommsen endlich einen, wie er selbst, passionierten Gestalter. Souverän werden in Rebenichs Biografie zunächst Herkunft und Werdegang Mommsens besprochen, auch sein anfängliches Schwanken zwischen Jurisprudenz und Geschichte, das für ihn konstitutiv bleiben sollte. Es ist erfreulich, dass neben dem Vater, dem Pfarrer Jens Mommsen, der dem Sohn Bildung und Arbeitsethos vermittelte, schon früh auch die Förderung durch den nur vier Jahre älteren klassischen Philologen Otto Jahn berücksichtigt werden.
Erste Höhepunkte der Darstellung bilden dann Mommsens politisches Engagement als Journalist im Jahre 1848 in Schleswig-Holstein sowie seine Mitwirkung an den revolutionären Vorgängen in Leipzig 1848/49, die ein Jahr später zu seiner Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis und zum Verlust seiner Professur führten. Die Strafe wurde freilich bald erlassen. Das Leben als „kleiner Flüchtling” und Professor für Römisches Recht in Zürich, vor allem jedoch die Arbeit an den ersten Bänden der „Römischen Geschichte” schlossen sich an, dem Werk, dem Rebenich eine besonders eingehende Analyse widmet.
Zu Recht wird betont, dass die einst provozierende Darstellung, die allein zu Mommsens Lebzeiten neun Auflagen erlebte, zu einem „Welterfolg” geworden ist. Dabei ging es Mommsen neben der Vermittlung römischer Geschichte vor allem darum, die „sittlich-politische Tendenz” der Bände mit Hilfe eines „modernen Tons” durchzusetzen, „die Alten... in die reale Welt zu versetzen”, in erster Linie aber ein Instrument politischer Pädagogik zu schaffen.
Rücksichten auf neuhumanistische Ideale kannte Mommsen nicht. Cicero, das Idol der Gymnasiallehrer, wurde deshalb deklassiert. Er war nach Mommsen ein „politischer Achselträger”, „in der Tat so durchaus Pfuscher, dass es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes ... Cicero hatte keine Überzeugung und keine Leidenschaft” – für Mommsen der schwerste Vorwurf. Sein Heros hieß Caesar.
Nach einer Skizze von Mommsens Weg aus Zürich über Breslau nach Berlin wendet sich Rebenich ausführlich den rechtshistorischen, philologischen und historischen Werken des Wissenschaftlers zu. In dem Gesamtüberblick über die Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten wird insbesondere die Bedeutung der von Mommsen geschaffenen rechtshistorischen Grundlagenwerke gewürdigt: des monumentalen, dreibändigen „Römischen Staatsrechts” (1871–88) und des „Römischen Strafrechts”, das noch der 82jährige im Jahr 1899 publizieren konnte. Doch auch seine vielfältigen Einzelforschungen wie seine Editionen kommen zu ihrem Recht.
Aber auch die Defizite von Mommsens Wirken werden nicht beschönigt, seine enttäuschende Lehrtätigkeit kritisch beleuchtet. Mommsen selbst empfand sein vierstündiges Kolleg stets als Last. Sein dünnes Stimmchen verhinderte jede rhetorische Wirkung; die zweistündigen, gut vorbereiteten Übungen standen dagegen auf höherem Niveau. Sie lebten von der Kritik des „Rasiermessers”, wie die Studenten Mommsen bezeichneten.
Besonders ertragreich ist Rebenichs Würdigung des Wissenschaftsorganisators Theodor Mommsen, ein Aktivitätsbereich, der nur selten adäquat anerkannt wird. Mommsen stand am Übergang von der Individual- zur Großforschung. In seiner Erwiderung auf Harnacks Antrittsrede in der Preussischen Akademie der Wissenschaften erklärte er 1890 programmatisch: „Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Großstaat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein.”
Er selbst hat diese Großforschung im Sektor der Altertumswissenschaften entscheidend stimuliert. Die monumentale Sammlung aller lateinischen Inschriften, die er persönlich leitete, die dreibändige Edition der Daten der Führungsgeschichte des Imperiums, die Collection der Griechischen christlichen Schriftsteller, das Corpus Nummorum, das umfassende Stempelcorpus der griechischen Numismatik, sind nur die wichtigsten Initiativen auf diesem Felde. Daneben stand seine Mitwirkung im Deutschen Archäologischen Institut, den Monumenta Germaniae historica, der Reichslimeskommission und vieles andere mehr – eine kaum vorstellbare Arbeitsleistung.
Bei all dem stand Mommsen in engem Kontakt mit dem späteren preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff, der seit 1882 souverän die staatliche Wissenschafts- und Kulturpolitik leitete. Für Althoff wurde Mommsen einer der wichtigsten Ratgeber und Gutachter; Mommsen seinerseits nutzte trotz aller Kritik am obrigkeitsstaatlichen und autokratischen Regiment des „Systems Althoff” doch auch immer wieder die Einflussmöglichkeiten, die sich ihm hier boten, nicht zuletzt zur beruflichen Förderung seiner Schüler und Freunde.
Rebenich hat Mommsens hochschulpolitisches Wirken in eine Übersicht über die Gesamtentwicklung der deutschen Universitäten während des 19. Jahrhunderts eingeordnet. Mommsens Tätigkeit als Dekan der Philosophischen Fakultät (1871/72) und als Rektor der Berliner Universität (1874/75) finden dabei weniger Beachtung als ein exponierter Kampf für die akademische Freiheit und die Autonomie der Hochschulen.
Die ebenso ausführliche wie ausgewogene Darstellung des Politikers Mommen dominiert im Schlussteil. Tatsächlich durchzog die politische Passion des alten Achtundvierzigers sein ganzes Leben. Mommsen stand lange auf dem linken Flügel der Nationalliberalen, diente seinem Land 1873–1879 als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1881–1884 als Reichstagsabgeordneter, wurde in dieser Funktion 1882 von Bismarck mit einem Beleidigungsprozess überzogen. Geradezu fanatisch kämpfte er gegen „Junkertum” und „Kaplanokratie”, trat zuletzt für ein Bündnis zwischen Liberalen und Sozialdemokraten ein. Er war damals der Ansicht, dass „mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, dass sie unter ihresgleichen glänzen würden.”Dem „Menschen” Mommsen gilt der letzte Aspekt der Biografie. Rebenich zeichnet ein verständnisvolles Bild von Mommsens Persönlichkeit, den Beziehungen zu seiner Frau und den 16 Kindern, seinem Lebensstil und seiner „innerweltlichen Askese” wie des gesellschaftlichen Lebens, an dem er teilnahm. Am Ende schildert er Mommsens bittere letzte Jahre, Schwermut, Einsamkeit und Tod.
Die konzentrierten kritischen Anmerkungen der Anlage belegen einmal mehr die bibliografischen Kenntnisse des Autors und die Basis dieser Biografie. In Kürze werden sich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Mommsen und sein Todestag (1.November1903) zum hundertsten Mal jähren. Während die Symposien und Reden vorbereitet werden, um Mommsen zu feiern, wäre es ein nobile officium der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Mommsens zerstreuten Nachlass und Briefwechsel zu erschließen. Was in Basel für Burckhardt richtig war, gilt auch für Mommsen in Berlin.
KARL CHRIST
STEFAN REBENICH: Theodor Mommsen. Eine Biografie. Verlag C. H. Beck, München 2002. 272 Seiten, 26,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Patrick Bahners vergleicht diese neue Biografie des Historikers Theodor Mommsen mit derjenigen von Alfred Heuß von 1956 - und empfiehlt am Ende letztere, die "im Franz Steiner Verlag für 38 Euro lieferbar" sei. Wie Heuß nämlich folge Stefan Rebenich zunächst einmal bis in die Gliederung hinein dem Muster klassischer Biografien, "den Gegenständen entlang, wie es einem Leben angemessen ist, das sich selbst objektivierte". Doch wie für Tagungen zum Andenken an Max Weber etwa, so gelte auch hier: "Häufiger als ein Zuwachs des Wissens ist ein Nachlassen der intellektuellen Kraft zu bemerken." Dann also doch lieber gleich das Original sozusagen, anstelle der Kopie mit "geringerer plastischer Energie bei knapperem Umfang". Etwas Neues, findet der Rezensent, hätten wohl nur "diskurshistorische Bohrungen" erbringen können, wie man sie "bei Gibbon, Michelet, Bloch und Kantorowicz" probiert habe. Doch diese Art "Experimentalbiografik" sei Rebenichs Sache nicht. Immerhin "prägnant" fand Bahners Rebenichs Aufriss von Mommsens "Römisches Staatsrecht", dessen streng systematischer Zugriff hier als Zuspitzung der modernen Hermeneutik erscheine. Sogar "schlagend" findet Bahners die dazugehörige "politische Lesart des gelehrten Monuments" durch Rebenich - demnach hat Mommsen hier gleichsam "selbst als Verfassungsgeber eines liberalen Musterstaats" agiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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