"Im Umgang mit der Liturgie entscheidet sich das Geschick von Glaube und Kirche." Joseph Ratzinger Der erste Band der Gesammelten Schriften versammelt die Texte zur Theologie der Liturgie. Die Liturgie steht im Zentrum des theologischen Denkens Joseph Ratzingers. Sie ist - in seinen Worten - »die Berührung mit dem Schönen selbst, mit der ewigen Liebe. Von ihr muss die Freude ins Haus hinausstrahlen, in ihr kann immer wieder die Mühsal des Tages verwandelt und überwunden werden. Wo Liturgie zur Lebensmitte wird, stehen wir im Raum des Apostelwortes: Freuet euch, wiederum sage ich euch: Freuet euch ... der Herr ist nahe (Phil 4,4)«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2008Wachstum im Leiden
Ratzingers Gesammelte Schriften beginnen mit der Liturgie
Der Mensch, der auf diesen 700 Seiten das Wort ergreift, ist ein Mensch der Krise. Krisenhaft sind die Zeitumstände, die ihn bedrängen und zum Widerwort reizen, kritisch ist es um den Menschen selbst wie um die Menschheit bestellt. Krise herrscht überall, in Kirche und Welt, Krise ist der Aggregatszustand der Schöpfung, die Normalfunktion jeder Gesellschaft. Dennoch gibt nicht das Lamento den Ton vor, sondern der trotzige Wille zur Revolution, der ein Wille ist zur radikalen inneren Schubumkehr. Joseph Ratzinger zeigt sich in dem jetzt zuerst publizierten Band der Edition seiner „Gesammelten Schriften” als Denker einer ins Praktische gewendeten Innerlichkeit.
Ein solches welthaltiges Panorama mag überraschen, deutet der Titel doch eher auf ein akademisches Fachgebiet. „Theologie der Liturgie” steht mattrot eingeprägt auf dem elfenbeinernen Grund der Werkausgabe. Doch nicht erst seit der Rehabilitierung der tridentinischen Messe durch Benedikt XVI. im vergangenen Jahr sind solche Überlegungen von gesamtkirchlichem, ja politischem Belang. Im Vorwort nennt er die Liturgie das „Zentrum meines theologischen Mühens” und zugleich die „zentrale Wirklichkeit meines Lebens”. Der Theologe und spätere Papst (seit 2005), ließe sich sagen, holt denkend die Intuitionen und Erfahrungen seiner Kindheit ein. Er bewältigt das ihm Vorgegebene und universalisiert es so. Nicht anders verfahren Dichter.
Hinzu kommt, dass das Zweite Vatikanische Konzil sich bei seinen Beratungen zuerst der Liturgie zuwandte. Benedikt will der „Prioritätenordnung des Konzils” folgen. Insofern konnten tatsächlich nur liturgische Interventionen aus den Jahren 1965 bis 2004 am Anfang stehen eines ambitionierten Projektes. Sechzehn Bände soll die Edition umfassen, zu deren wissenschaftlicher und redaktioneller Betreuung das Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.” gegründet wurde. Herausgeber ist der amtierende Ortsbischof Gerhard Ludwig Müller. Erstrebt wird die „möglichst vollständige Präsentation des gedruckten Werkes, ergänzt um bislang ungedruckte Texte in einer systematischen Ordnung”.
Wo Krise ist, da ist etwas nicht im Lot, geriet etwas aus der Balance, da ist deshalb die Chance zum Neubeginn, zur Besserung. Diesem auch rhetorisch fruchtbaren Doppelaspekt gehorcht das Denken Ratzingers. Im Juli vergangenen Jahres beschied er den Klerus zweier italienischer Diözesen: „Nur im Leiden findet auch Wachstum statt. Wachstum ist stets mit Leiden verbunden.” Kriselnden Eheleuten gab er vor wenigen Wochen den Ratschlag, dass jede Krise den Übergang zu einer neuen Lebensphase darstelle, wenn man der Verzweiflung hoffend die Stirn biete.
Die Basis auch der älteren liturgischen Diagnosen ist ein hoch entwickeltes, stellenweise überempfindliches Krisenbewusstsein – etwa bei den Warnungen vor einem Abdriften des Gottesdienstes in den rauschhaften, apersonalen Gegenkult, sobald Sacro-Pop und -Rock ihr Haupt erheben: „Nicht aus ästhetischen Gründen, nicht aus restaurativer Verbohrtheit, nicht aus historistischer Unbeweglichkeit, sondern vom Grund her muss daher Musik dieses Typs aus der Kirche ausgeschlossen werden.” In der „Kulturkrise, die wir durchleben”, sei eine liturgische Musik nötig, kraft derer der Mensch das Singen und das Schweigen neu lerne. Eine solche Musik lebe aus der „Synthese von Geist, Intuition und sinnenhaftem Klang”, vorgebildet vom Gregorianischen Choral „bis hin zu Bruckner und darüber hinaus”. So hieß es 1985.
Außerdem lernen wir kennen: Die „Krise der sakramentalen Idee” (1966), die Krise der „inneren Beziehung des Glaubens zur Kultur” (1978), die „Krise des Katholizismus in der Neuzeit” (1979), die „Krise des Sonntags” (1985) und ganz allgemein und schon 1978 die „Krise der Liturgie und damit der Kirche”. Das vielgestaltige Krisenfeld lässt sich auf den Begriff des Glaubensabbruchs bringen. Der christliche Glaube verlor seine Selbstverständlichkeit, das christliche Menschenbild seine spontane Plausibilität. Und der Kirche gelang es nicht, den Sand, der ihr zwischen den Fingern zerrann, in neuen oder alten Gefäßen aufzufangen.
Der Realitätsgehalt der Bestandsaufnahme lässt sich kaum anzweifeln. Joseph Ratzinger mag sich nicht mit „Schein und Linsenmus” beruhigen. Bereits 1975, zum tausendjährigen Weihejubiläum des Mainzer Domes, störte er die festgemeindliche Stimmung mit der Mahnung, „die Größe unserer Geschichte und unsere finanzielle Potenz retten uns nicht. Beides kann zum Schutt werden, in dem wir ersticken.” Jeder Kirchenbau, auch der Dom zu Mainz, „kann uns genommen werden, wenn die Kraft erlischt, die ihn rechtfertigt.” Der ernste Gedanke fand 2007 auch Eingang in das Papstbuch über Jesus von Nazareth: Die Größe „auch der Institutionen muss weggeschnitten werden; was allzu groß geworden ist, muss wieder in die Einfachheit und Armut des Herrn selbst zurückgeführt werden.”
Fragt man nach entscheidenden Zäsuren in der liturgischen Krisengeschichte, stößt man auf deren zwei: den Beginn der Neuzeit und das Zweite Vatikanische Konzil. In einer hier erstmals auf Deutsch veröffentlichten Rede von 2001, gehalten bei einer Tagung im französischen Fontgombault, führt Ratzinger den „Ausbruch der Reformation” auch auf ein falsches Verständnis der Liturgie zurück; „für Luther blieb von der Messe nichts übrig als die Wandlung und die Austeilung der Heiligen Kommunion.”
Für Ratzinger hingegen zeigt sich gerade im Kernbereich der Eucharistie der „mitmenschliche, leibhaftige, geschichtliche” Charakter der ganzen Kirche. Die Sakramente dienten der „Einfügung des Menschen in den von Christus her kommenden Geschichtszusammenhang”, die Messe sei der denkbar größte Einspruch gegen die Alleinherrschaft des Messbaren und Nützlichen, wie sie in der Neuzeit sich ausbildete. Die in Leib und Blut Christi verwandelten Gaben – „sie sind nun so in ihrem Wesen Zeichen, wie sie vorher in ihrem Wesen Dinge waren” – bedeuteten, dass Materie umgeschmolzen werden kann, ohne spurlos zu vergehen. In der Eucharistie manifestiere sich die „Erlösungsfähigkeit” von Geist und Materie.
Dem universalhistorischen, anthropologischen Einschnitt namens Neuzeit, den die Kirche weder aufhalten konnte noch moderieren wollte, entspricht ein innerkirchlicher Einschnitt, der von ihr herbeigeführt wurde und dessen sie nicht Herr wird. So unmissverständlich Benedikt XVI. die Früchte des Konzils lobt, so ambivalent schildert Ratzinger dessen Wirkungsgeschichte. Ein Vortrag von 1978 beginnt mit der Feststellung, „seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil” habe sich eine „generelle Krise der Kirche entfaltet”. Damit ist nicht gemeint, das Konzil sei ein nur Krisen erzeugendes Krisenprodukt; wohl aber folgten ihm in Ratzingers Perspektive gedankenlose Aktionismen, die er für den Motor des modernen Unglaubens hält und denen zu widerstehen er aufruft: „Die Abwechslung ist auf die Dauer langweilig.”
Leider fehlt die Schrift zur „christlichen Brüderlichkeit” (1958) hier ebenso wie der Rückblick auf die erste Sitzungsperiode des Konzils von 1963. Dort wäre zu lesen gewesen, dass für eine kurze Weile auch Ratzinger sich eine grundlegende Reform der Messe erhoffte, hin zum „Brudersakrament”, weg vom „einsamen Hierarchen” an der Spitze. Mit dem Furor des Enttäuschten kritisiert er in der Folgezeit die Liturgiereform, die die Form entleert und den Inhalt entwürdigt habe. Ihn verdrießen alle „Ideologien der Gemeinschaftlichkeit”, die aus der Kirche ein „Vehikel zum sozialen Zweck” oder gar ein Varieté machen wollen, jeder „platte pädagogische Rationalismus”. Er will Reißaus nehmen vor unbrauchbarer Gebrauchsmusik, vor der „bürgerlichen Begrüßung der Anwesenden” und vor den „freundlichen Wünschen zum Abschied”. Ihn befällt „ein leise fröstelndes Gefühl ob zu viel Rede, zu wenig Schweigen und zu wenig Schönheit”.
Das Klagelied von 1979 hat sich zum Evergreen entwickelt, ebenso das Verdikt von 1989, „mit modischen Mätzchen und mit kessen Moralismen” verwüste man die Liturgie, statt sie zu beleben. Und peinlich berühren muss es Ratzingers eigene Kirche, dass er durchgängig das Wesen der Liturgie anhand des römischen Messkanons erklärt. Dieser aber, herabgestuft zum ersten von vier eucharistischen Hochgebeten, wird heute von keinem Bischof, kaum einem Priester verwendet; in der Alten Messe lebt er fort.
Für die künftigen Bände wäre ein sorgsameres Lektorat wünschenswert, das etwa Widersprüche in der Numerierung der Beiträge verhindert. Unklar ist, warum trotz angestrebter Vollständigkeit die liturgischen Stellungnahmen Ratzingers im „Klerusblatt” ausgeblendet blieben. Die Gesammelten Schriften sind dennoch eine gute Gelegenheit, neben dem Theologen den streitlustigen Aphoristiker Joseph Ratzinger zu entdecken. Die Kirche, schreibt er einmal, „ist der erste Gedanke Gottes”. Eucharistie hingegen „bedeutet: Gott hat geantwortet.” ALEXANDER KISSLER
JOSEPH RATZINGER: Gesammelte Schriften. Band 11: Theologie der Liturgie. Herausgegeben von Gerhard Ludwig Müller. Herder, Freiburg 2008. 758 Seiten, 45 Euro.
Der spätere Papst sah die Kirche und überhaupt alles in der Krise
„Zu viel Rede, zu wenig Schweigen und zu wenig Schönheit”
Die Liturgie sei das „Zentrum meines theologischen Mühens”, sagt Papst Benedikt XVI. Das Foto zeigt Joseph Ratzinger als Regensburger Theologieprofessor im Jahr 1965. Mit dem jetzt erschienen Band zur Liturgie beginnt die auf 16 Bände angelegte Edition seiner „Gesammelten Schriften”. Foto: KNA
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Ratzingers Gesammelte Schriften beginnen mit der Liturgie
Der Mensch, der auf diesen 700 Seiten das Wort ergreift, ist ein Mensch der Krise. Krisenhaft sind die Zeitumstände, die ihn bedrängen und zum Widerwort reizen, kritisch ist es um den Menschen selbst wie um die Menschheit bestellt. Krise herrscht überall, in Kirche und Welt, Krise ist der Aggregatszustand der Schöpfung, die Normalfunktion jeder Gesellschaft. Dennoch gibt nicht das Lamento den Ton vor, sondern der trotzige Wille zur Revolution, der ein Wille ist zur radikalen inneren Schubumkehr. Joseph Ratzinger zeigt sich in dem jetzt zuerst publizierten Band der Edition seiner „Gesammelten Schriften” als Denker einer ins Praktische gewendeten Innerlichkeit.
Ein solches welthaltiges Panorama mag überraschen, deutet der Titel doch eher auf ein akademisches Fachgebiet. „Theologie der Liturgie” steht mattrot eingeprägt auf dem elfenbeinernen Grund der Werkausgabe. Doch nicht erst seit der Rehabilitierung der tridentinischen Messe durch Benedikt XVI. im vergangenen Jahr sind solche Überlegungen von gesamtkirchlichem, ja politischem Belang. Im Vorwort nennt er die Liturgie das „Zentrum meines theologischen Mühens” und zugleich die „zentrale Wirklichkeit meines Lebens”. Der Theologe und spätere Papst (seit 2005), ließe sich sagen, holt denkend die Intuitionen und Erfahrungen seiner Kindheit ein. Er bewältigt das ihm Vorgegebene und universalisiert es so. Nicht anders verfahren Dichter.
Hinzu kommt, dass das Zweite Vatikanische Konzil sich bei seinen Beratungen zuerst der Liturgie zuwandte. Benedikt will der „Prioritätenordnung des Konzils” folgen. Insofern konnten tatsächlich nur liturgische Interventionen aus den Jahren 1965 bis 2004 am Anfang stehen eines ambitionierten Projektes. Sechzehn Bände soll die Edition umfassen, zu deren wissenschaftlicher und redaktioneller Betreuung das Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.” gegründet wurde. Herausgeber ist der amtierende Ortsbischof Gerhard Ludwig Müller. Erstrebt wird die „möglichst vollständige Präsentation des gedruckten Werkes, ergänzt um bislang ungedruckte Texte in einer systematischen Ordnung”.
Wo Krise ist, da ist etwas nicht im Lot, geriet etwas aus der Balance, da ist deshalb die Chance zum Neubeginn, zur Besserung. Diesem auch rhetorisch fruchtbaren Doppelaspekt gehorcht das Denken Ratzingers. Im Juli vergangenen Jahres beschied er den Klerus zweier italienischer Diözesen: „Nur im Leiden findet auch Wachstum statt. Wachstum ist stets mit Leiden verbunden.” Kriselnden Eheleuten gab er vor wenigen Wochen den Ratschlag, dass jede Krise den Übergang zu einer neuen Lebensphase darstelle, wenn man der Verzweiflung hoffend die Stirn biete.
Die Basis auch der älteren liturgischen Diagnosen ist ein hoch entwickeltes, stellenweise überempfindliches Krisenbewusstsein – etwa bei den Warnungen vor einem Abdriften des Gottesdienstes in den rauschhaften, apersonalen Gegenkult, sobald Sacro-Pop und -Rock ihr Haupt erheben: „Nicht aus ästhetischen Gründen, nicht aus restaurativer Verbohrtheit, nicht aus historistischer Unbeweglichkeit, sondern vom Grund her muss daher Musik dieses Typs aus der Kirche ausgeschlossen werden.” In der „Kulturkrise, die wir durchleben”, sei eine liturgische Musik nötig, kraft derer der Mensch das Singen und das Schweigen neu lerne. Eine solche Musik lebe aus der „Synthese von Geist, Intuition und sinnenhaftem Klang”, vorgebildet vom Gregorianischen Choral „bis hin zu Bruckner und darüber hinaus”. So hieß es 1985.
Außerdem lernen wir kennen: Die „Krise der sakramentalen Idee” (1966), die Krise der „inneren Beziehung des Glaubens zur Kultur” (1978), die „Krise des Katholizismus in der Neuzeit” (1979), die „Krise des Sonntags” (1985) und ganz allgemein und schon 1978 die „Krise der Liturgie und damit der Kirche”. Das vielgestaltige Krisenfeld lässt sich auf den Begriff des Glaubensabbruchs bringen. Der christliche Glaube verlor seine Selbstverständlichkeit, das christliche Menschenbild seine spontane Plausibilität. Und der Kirche gelang es nicht, den Sand, der ihr zwischen den Fingern zerrann, in neuen oder alten Gefäßen aufzufangen.
Der Realitätsgehalt der Bestandsaufnahme lässt sich kaum anzweifeln. Joseph Ratzinger mag sich nicht mit „Schein und Linsenmus” beruhigen. Bereits 1975, zum tausendjährigen Weihejubiläum des Mainzer Domes, störte er die festgemeindliche Stimmung mit der Mahnung, „die Größe unserer Geschichte und unsere finanzielle Potenz retten uns nicht. Beides kann zum Schutt werden, in dem wir ersticken.” Jeder Kirchenbau, auch der Dom zu Mainz, „kann uns genommen werden, wenn die Kraft erlischt, die ihn rechtfertigt.” Der ernste Gedanke fand 2007 auch Eingang in das Papstbuch über Jesus von Nazareth: Die Größe „auch der Institutionen muss weggeschnitten werden; was allzu groß geworden ist, muss wieder in die Einfachheit und Armut des Herrn selbst zurückgeführt werden.”
Fragt man nach entscheidenden Zäsuren in der liturgischen Krisengeschichte, stößt man auf deren zwei: den Beginn der Neuzeit und das Zweite Vatikanische Konzil. In einer hier erstmals auf Deutsch veröffentlichten Rede von 2001, gehalten bei einer Tagung im französischen Fontgombault, führt Ratzinger den „Ausbruch der Reformation” auch auf ein falsches Verständnis der Liturgie zurück; „für Luther blieb von der Messe nichts übrig als die Wandlung und die Austeilung der Heiligen Kommunion.”
Für Ratzinger hingegen zeigt sich gerade im Kernbereich der Eucharistie der „mitmenschliche, leibhaftige, geschichtliche” Charakter der ganzen Kirche. Die Sakramente dienten der „Einfügung des Menschen in den von Christus her kommenden Geschichtszusammenhang”, die Messe sei der denkbar größte Einspruch gegen die Alleinherrschaft des Messbaren und Nützlichen, wie sie in der Neuzeit sich ausbildete. Die in Leib und Blut Christi verwandelten Gaben – „sie sind nun so in ihrem Wesen Zeichen, wie sie vorher in ihrem Wesen Dinge waren” – bedeuteten, dass Materie umgeschmolzen werden kann, ohne spurlos zu vergehen. In der Eucharistie manifestiere sich die „Erlösungsfähigkeit” von Geist und Materie.
Dem universalhistorischen, anthropologischen Einschnitt namens Neuzeit, den die Kirche weder aufhalten konnte noch moderieren wollte, entspricht ein innerkirchlicher Einschnitt, der von ihr herbeigeführt wurde und dessen sie nicht Herr wird. So unmissverständlich Benedikt XVI. die Früchte des Konzils lobt, so ambivalent schildert Ratzinger dessen Wirkungsgeschichte. Ein Vortrag von 1978 beginnt mit der Feststellung, „seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil” habe sich eine „generelle Krise der Kirche entfaltet”. Damit ist nicht gemeint, das Konzil sei ein nur Krisen erzeugendes Krisenprodukt; wohl aber folgten ihm in Ratzingers Perspektive gedankenlose Aktionismen, die er für den Motor des modernen Unglaubens hält und denen zu widerstehen er aufruft: „Die Abwechslung ist auf die Dauer langweilig.”
Leider fehlt die Schrift zur „christlichen Brüderlichkeit” (1958) hier ebenso wie der Rückblick auf die erste Sitzungsperiode des Konzils von 1963. Dort wäre zu lesen gewesen, dass für eine kurze Weile auch Ratzinger sich eine grundlegende Reform der Messe erhoffte, hin zum „Brudersakrament”, weg vom „einsamen Hierarchen” an der Spitze. Mit dem Furor des Enttäuschten kritisiert er in der Folgezeit die Liturgiereform, die die Form entleert und den Inhalt entwürdigt habe. Ihn verdrießen alle „Ideologien der Gemeinschaftlichkeit”, die aus der Kirche ein „Vehikel zum sozialen Zweck” oder gar ein Varieté machen wollen, jeder „platte pädagogische Rationalismus”. Er will Reißaus nehmen vor unbrauchbarer Gebrauchsmusik, vor der „bürgerlichen Begrüßung der Anwesenden” und vor den „freundlichen Wünschen zum Abschied”. Ihn befällt „ein leise fröstelndes Gefühl ob zu viel Rede, zu wenig Schweigen und zu wenig Schönheit”.
Das Klagelied von 1979 hat sich zum Evergreen entwickelt, ebenso das Verdikt von 1989, „mit modischen Mätzchen und mit kessen Moralismen” verwüste man die Liturgie, statt sie zu beleben. Und peinlich berühren muss es Ratzingers eigene Kirche, dass er durchgängig das Wesen der Liturgie anhand des römischen Messkanons erklärt. Dieser aber, herabgestuft zum ersten von vier eucharistischen Hochgebeten, wird heute von keinem Bischof, kaum einem Priester verwendet; in der Alten Messe lebt er fort.
Für die künftigen Bände wäre ein sorgsameres Lektorat wünschenswert, das etwa Widersprüche in der Numerierung der Beiträge verhindert. Unklar ist, warum trotz angestrebter Vollständigkeit die liturgischen Stellungnahmen Ratzingers im „Klerusblatt” ausgeblendet blieben. Die Gesammelten Schriften sind dennoch eine gute Gelegenheit, neben dem Theologen den streitlustigen Aphoristiker Joseph Ratzinger zu entdecken. Die Kirche, schreibt er einmal, „ist der erste Gedanke Gottes”. Eucharistie hingegen „bedeutet: Gott hat geantwortet.” ALEXANDER KISSLER
JOSEPH RATZINGER: Gesammelte Schriften. Band 11: Theologie der Liturgie. Herausgegeben von Gerhard Ludwig Müller. Herder, Freiburg 2008. 758 Seiten, 45 Euro.
Der spätere Papst sah die Kirche und überhaupt alles in der Krise
„Zu viel Rede, zu wenig Schweigen und zu wenig Schönheit”
Die Liturgie sei das „Zentrum meines theologischen Mühens”, sagt Papst Benedikt XVI. Das Foto zeigt Joseph Ratzinger als Regensburger Theologieprofessor im Jahr 1965. Mit dem jetzt erschienen Band zur Liturgie beginnt die auf 16 Bände angelegte Edition seiner „Gesammelten Schriften”. Foto: KNA
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dem Theologen und scharfzüngigen Aphoristiker Joseph Ratzinger ist Alexander Kissler in diesem zuerst erscheinenden Band seiner "Gesammelten Schriften" begegnet. Das von Ratzinger entworfene Weltpanorama des Menschen in der Krise (des Glaubens nämlich) scheint Kissler nach der Lektüre durchaus Anlass zur Hoffnung zu geben. Nach Lamento hört sich das für ihn nicht an, wenn der Denker Ratzinger anhebt, Innerlichkeit praktisch zu wenden und mit der Liturgie als Zentrum seiner theologischen Arbeit seinen "trotzigen Willen zu Revolution" zu bekunden. So realitätsnah Kissler die Bestandsaufnahme des amtierenden Papstes vorkommt, als so ambivalent empfindet er dessen Schilderungen zum Zweiten Vatikanischen Konzil als zu einem die Krise initiierenden innerkirchlichen Einschnitt. An diesem Punkt der Lektüre vermisst Kissler einige Schriften, die Ratzingers eigene Hoffnungen in das Konzil hätten belegen können. Für die kommenden Bände wünscht sich der Rezensenrt ein sorgsameres Lektorat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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