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Ziel ist es, den in der Forschung erhobenen Anspruch einzulösen, Lyrik als »Paradigma der Moderne« zu erweisen. Die Voraussetzungen dafür werden in einer neuen Einschätzung der Ästhetik Kants und der Literaturtheorien Schillers und Friedrich Schlegels geschaffen. Der Entfaltung der Theorie folgt eine exemplarische Interpretation dreier programmatischer Gedichte von Paul Celan.

Produktbeschreibung
Ziel ist es, den in der Forschung erhobenen Anspruch einzulösen, Lyrik als »Paradigma der Moderne« zu erweisen. Die Voraussetzungen dafür werden in einer neuen Einschätzung der Ästhetik Kants und der Literaturtheorien Schillers und Friedrich Schlegels geschaffen. Der Entfaltung der Theorie folgt eine exemplarische Interpretation dreier programmatischer Gedichte von Paul Celan.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.1999

Abschied vom Unverständlichen
Schlüsseldienst: Renate Homann gibt der Lyrik ein Grundgesetz

Moderne Gedichte erkennt man an ihrer Unverständlichkeit. So lautet ein Vorurteil, das auch von Literaturwissenschaft und Ästhetik gepflegt wird. Dagegen richtet sich Renate Homanns Theorie der Lyrik: "Moderne Gedichte sind gerade nicht hermetisch, sondern extrem kommunikativ." Es geht der Autorin um die, wie sie im Soziologen-Neudeutsch formuliert, "Akzeptanz" der Lyrik. Diese sieht sie vor allem deshalb im Schwinden begriffen, weil es bislang an einer Theorie fehlte, die Lyrik als das Paradigma der Moderne schlechthin zu legitimieren in der Lage gewesen wäre. Dem Mangel soll nun abgeholfen werden.

Akzeptanz meint, in der Minimal-Variante, nicht mehr als Duldung. Die Allgemeinheit nimmt hin, dass es Gedichte gibt und weiterhin geben darf. Homann aber pocht auf eine umfassende Anerkennung der gesellschaftlichen Funktion von Lyrik. Kann man Gedichten "zustimmen"? Man muss, sagt sie, oder vielmehr: man muss können, wenn und sofern diese wirklich "modern" sind. Ihr Moderne-Begriff folgt den ausgeflaggten Pisten: funktionale Ausdifferenzierung von Teilsystemen, Triumph der Rationalität, des Kommunikativen und der zukunftsoffenen Konstruktion über Intuition und Gedächtnis - über solche Qualitäten also, die traditionell gerade der Lyrik zugeschrieben wurden. Dass Homann indes die philosophischen Leitvorstellungen ihrer Theorie den Protagonisten des deutschen Idealismus entlehnt, namentlich Kant und Schiller, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Denn bei diesen wird die historische "Querelle" zwischen alt und neu erstmals in reflexiver Form eingeholt und als Bedingung des Modernen selbst aufgefasst.

Mit Schillers Leitdifferenz des Naiven und Sentimentalischen gewinnt die Ästhetik einen geschichtsphilosophischen Richtungssinn, der nicht (wie dann wieder bei Friedrich Schlegel) als Epochendifferenz verstanden wird, sondern als innerpoetische Dynamik von Hervorbringung und Diskriminierung. Das Sentimentalische setzt und "erfindet" das Naive als synchronen, systematischen Platzhalter einer entschwundenen Ganzheit. Die Abstoßung des Vormodernen wird zur "interioren Fremdreferenz", der die konstruktive Poetik des Sentimentalischen ihren Auftrieb verdankt. Diesem Rückstoßeffekt hatte Kant im Begriff des Erhabenen eine systematische Stelle gegeben; aus dem Dilemma unvermittelbarer empirischer und ethischer Gesetzmäßigkeit wird ein antagonistisches Kraftfeld. Die Moderne, gefasst als Überwindung je neu zu stiftender Aporien, ist damit ihrerseits freilich nicht mehr periodisierbar.

An prominenten Versuchen, Lyrik und Gesellschaft in Beziehung zu setzen, hat es von der romantischen bis zur kritischen Theorie und darüber hinaus nicht gefehlt. Dass man dabei Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen hatte, gehörte sozusagen zum Programm. Homanns Entwurf ist die denkbar ambitionierteste Rehabilitierung des aufrechten Deutschlehrer-Gemeinplatzes, dass Gedichte uns etwas zu sagen haben. Die Gegenprobe darauf wäre freilich nicht hermetische Lyrik, sondern der Kommunikationsverweigerer aus purer Boshaftigkeit, der Poeta malignus; einen solchen wird man in ihrem Band vergeblich suchen. Dabei erfolgt die Beweisführung des allgemeinen Grenznutzens lyrischen Eigensinns methodisch gewitzt, denn sie durchquert wacker die miteinander verbündeten Feindesländer der Dekonstruktion und der Postmoderne. Von ihnen ist zu lernen, dass kaum ein Wert, einschließlich des von der Lyrik reklamierten Autonomie-Statuts, der Verwicklung in Aporien zu entgehen vermag. Leicht einzusehen ist ebenfalls, dass weder aus Adornos Ästhetik der Negativität noch aus der poststrukturalistischen Lieblingsübung der Aufspaltung von Signifikationsprozessen ein Beitrag zur gesellschaftlichen "Selbstverständigung" hervorgeht - ein Ziel, an dem Homann geradezu axiomatisch festhält.

Die Pointe ihrer Theorie besteht in einem Gedanken, dessen Einfachheit vom terminologischen Brimborium (hübsch: die "intraliterarisch fundierte Inter-Literarizität") überwuchert zu werden droht. Das gemeinsame Dritte von Lyrik und Gesellschaft, so die Kernthese, ist in dem gegeben, was modernisierte Staatlichkeit nach den Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts auszeichnet: im Konstitutionalismus. Modern ist es, eine Verfassung zu haben; noch moderner, sie als Selbstgesetzgebung (Kants Begriff der Heautonomie) zu begreifen; unüberbietbar modern schließlich, diese Verfassung als sprachinduzierten, unabschließbaren Prozess von Erfindungen (Autopoiesis) aufzufassen. Gesellschaften haben Verfassungen, Gedichte Verfasser: doch übersteigt ihre Konstitution, die sprachliche Verfasstheit, jede Intention oder Intuition eines subjektiven Erzeugers.

Eine aparte Vorstellung: Das Gedicht gleicht einer verfassungsgebenden Versammlung, deren Gesetzeswerk und Regulativ die Sprache selbst ist. Medium der lyrischen Verfassung ist nicht der Vokalismus oder die Zeile, sondern die Metrik des Verses. Galt die Silbenlänge in der antiken Literatur als natürliches Zeitmaß, so lassen in der Neuzeit Schrift und Prosa als dominante Bedeutungsträger eine unmittelbare Sanglichkeit nicht mehr zu. Das "Verspoetische" ist nicht länger Herr seiner selbst, es existiert "unter den Bedingungen der Prosa". Wie politische Verfassungen auf den Ausgleich antagonistischer Interessen bezogen sind, so Gedichte auf den Grundkonflikt zwischen Prosa und Vers.

Die drei Gedichte Paul Celans, die Homann im letzten Viertel ihres Opus magnum bespricht, würden wie jedes mögliche Fallbeispiel unter der windschief getürmten Beweislast einer Theorie zusammenbrechen, deren Bausteine einzig der Ästhetik des deutschen Idealismus entstammen. Glücklicherweise erweist sich aber die Autorin in der Gedichtlektüre als eine Analytikerin von Gnaden. Die "Todesfuge", die wir zu kennen glaubten, erscheint bei ihr als "tödliche Fuge" einer antiken Metrik, der die Hexameter ausgetrieben wurden vom stammbetonten deutschen Sprachrhythmus. Der einzige Endreim des Gedichts ("sein Auge ist blau / er trifft dich genau") zitiert Goethes "Erlkönig" und mit ihm die Balladenform. Der "Meister aus Deutschland" markiert die gewaltsame Zäsurierung des antiken Metrums, reißt es entzwei just an der Stelle, wo er "mit bleierner Kugel" trifft. Die Juden, denen befohlen wird: "singet und spielt", sind in Homanns Interpretation Figurationen des "Verspoetischen" selbst, dem hier der Prosasatz tödlich gebietend begegnet.

Auch "Sprachgitter" und "Anabasis" führen Versform und Prosa in ein aporetisches Verhältnis, nunmehr die Bedingung der Möglichkeit von Liebesgedichten überprüfend. "Augenrund zwischen den Stäben": darin sind Anklänge an die lyrischen Kassiber zwischen Goethe und Marianne von Willemer. Doch im lesenden Akzentuieren wird der Vers Celans unweigerlich ambig: Nur um den Preis können die Augen im betonten Sinne "rund" sein, kann die deutsche Prosodie realisiert werden, dass der darin geborgene griechische Daktylus suspendiert wird.

In der Verfassung des Gedichts hat die Gesetzeskraft keinen uneingeschränkten Raum, wie Homanns Celan-Lektüren zeigen, vielleicht nicht ganz im Sinne der Autorin. Gegenüber jenem Grundsatz, den Hölderlin als "Apriorität des Individuellen" umschrieb, haben nicht nur die Geltungsansprüche des Sozialen, sondern auch die einer Theorie der Lyrik das Nachsehen.

ALEXANDER HONOLD.

Renate Homann: "Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 752 S., geb., 98,- DM.

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