Von Keats über Baudelaire bis Hofmannsthal, von Majakowskij über Celan bis Durs Grünbein - 140 Selbstauskünfte über das Dichten: bildhaft und theoretisch, einzelkämpferisch und richtungweisend, glühend und spielerisch. Zusätzlich ist jedem der Dichter ein bio-bibliographischer Artikel gewidmet, was diese beiden Bände nicht nur zu einer Fundgrube an schwer zugänglichen poetologischen Texten macht, sondern darüber hinaus zu einem praktischen Handbuch für alle, die sich für die literarische Moderne interessieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2003Der Lyrik eine Startbahn
Walter Höllerers klassische Theorie-Anthologie, neu herausgegeben
Die 1965 in der Reihe "rowohlts deutsche enzyklopädie" erschienene Dokumentensammlung "Theorie der modernen Lyrik" wurde sofort zum Standardwerk, und sie blieb uns über Jahrzehnte hinweg unentbehrlich. Ihr Herausgeber, der kürzlich verstorbene Walter Höllerer, war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein unübertroffener Impresario der Literatur; er gab mit Hans Bender jungen Autoren ein Forum in den "Akzenten" und stieß auf neues Terrain vor mit der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter". Bis zum Anfang der achtziger Jahre wurde auch die Stimme des Lyrikers Höllerer gehört; spröde fiel das Echo auf seinen Roman "Die Elephantenuhr" (1973) aus. Aber dauerhaft wirkte der Gründer des "Literarischen Colloquiums Berlin" als Initiator und Vermittler; sein literaturwissenschaftliches Seminar an der Technischen Universität in Berlin entwickelte sich zur Talentschmiede.
Zwei der Begabtesten, Norbert Miller und Harald Hartung, haben die Sammlung von theoretischen Beiträgen, deren Autorenreihe von Samuel Taylor Coleridge und Edgar Allan Poe bis Dylan Thomas und Tadeusz Rózewicz reicht, nun auf den neuesten Stand gebracht und um einen zweiten Band erweitert, der bis zu Thomas Kling und Durs Grünbein führt. Verantwortlich für den ersten Band ist Miller, für den zweiten Hartung, der auf die Aufgabe bestens vorbereitet war durch seine vielgepriesene Anthologie "Luftfracht. Internationale Poesie 1940-1990" (1991).
Beibehalten bleibt das Prinzip Höllerers, nur Texte von Autoren aufzunehmen, die zugleich als Lyriker hervorgetreten sind, Texte also, die aus dem "Zusammenhang von Produktion und Reflexion" entstanden. So wird der Autor des erfolgreichen wissenschaftlichen Buches "Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart" (1956), der Romanist Hugo Friedrich, nicht einmal mit Namen genannt, und so bleibt auch Theodor W. Adornos fast schon legendäre "Rede über Lyrik und Gesellschaft" unberücksichtigt. Unverändert wieder abgedruckt ist das Nachwort von Walter Höllerer, ein bemerkenswerter Sonderfall seines Genres.
Höllerer stellt hier nicht die Autoren noch einmal vor, versucht sich auch nicht an einer großräumigen historischen Einordnung der theoretischen Ansätze, sondern ermittelt etwas wie eine "Struktur" der modernen Lyriktheorie, und zwar mit Hilfe einer antithetischen, manchmal auch dialektischen Beweisführung. Stichworte solcher Strukturanalyse sind beispielsweise Lyrik als mathematische Musik oder als kinetische Bildkunst, das Maschinengedicht, Laut- und Geräuschnachahmung, Inspiration und Sehertum, das Widerspiel von Beschwörung und Ironie, Mischung von Groteske und Tragik, Schönheit noch in der Deformation zum Bizarren, die Erhebung der Darstellungsmittel zur Substanz des Gedichts. Strikt wendet sich Höllerer gegen eine "Ideologie" des Schweigens, des Verstummens (polemisiert also indirekt auch gegen Paul Celan) und setzt dagegen seine eigenen "Thesen zum langen Gedicht". Sein Einwand gegen Theorie und Kritik überhaupt, daß die entscheidenden Erneuerer des Gedichts die "gegenwärtigen Beurteilungsmöglichkeiten" immer hinter sich lassen, steht auch im Hintergrund eines seiner Kernsätze: "Der kritische Geist der modernen Lyrik, der sich in der Kritik und im Gedicht selbst rein manifestieren kann, stellt die Theorien immer auch in Frage."
Eine systematische Theorie der modernen Lyrik liefern die beiden Bände nicht. Was den Leser erwartet, sind deren Facetten in der Selbstinterpretation der Lyriker. Manchmal verfestigen sich die Selbstkommentare zu den Formeln von Programmen. Manchmal konnte die Auskunftswilligkeit der Autoren erst in Gesprächen oder Interviews flottgemacht werden. Gelegentlich scheint die Bedeutung des Lyrikers, nicht die seiner theoretischen Verlautbarung Kriterium der Aufnahme gewesen zu sein. Nobelpreisträger unter den Lyrikern besitzen ohnehin ein Privileg (T. S. Eliot, Eugenio Montale, Pablo Neruda, Czeslaw Milosz, Octavio Paz, Seamus Heaney, Derek Walcott, Günter Grass). Krasse Fälle einer bloßen Verlegenheitswahl aber sind nicht zu verzeichnen.
In Zweifel gerät man mitunter über die Auslegung des Begriffs "moderne Lyrik". Meint er die Lyrik seit jener ästhetischen Wende, als deren Angelpunkt nach wie vor Baudelaire gilt, oder einfach die Lyrik der neueren Zeit? Natürlich ist die Aufnahme von Léopold Sédar Senghors Anmerkungen zur "Negro-afrikanischen Sprache und Dichtung" vollauf gerechtfertigt, aber diese noch psalmodierende Dichtung hat mit unserer modernen Lyrik wenig zu tun, um so mehr mit der Sprache und Gesang verbindenden antik-mythischen Dichtung.
Zum Problem wird die Datierung des Anfangs "moderner Lyrik". Höllerer stellt an den Beginn Coleridge (1772 bis 1834), weil er als erster Lyriker den Einfluß von Drogen auf die Einbildungskraft beschreibe und damit eine Reihe eröffne, die über Baudelaire bis zu Michaux führe. Miller nimmt in seine Neufassung auch Percy Bysshe Shelley und John Keats mit auf. Beide werden der englischen Romantik zugerechnet. So deutet sich eine Überlagerung der Epochen an. Und fast ohne Grenze ist das Feld der Vorwegnahmen. Bei Baudelaire lesen wir: "Das Concetto ist ein Meisterwerk." Dieses höchst artifizielle Sprachspiel hat aber seine Blüte im Spanien des "goldenen Zeitalters". Und es ist der moderne Lyriker Federico García Lorca, der einen Artisten des Concetto, seinen Landsmann aus dem siebzehnten Jahrhundert Luis de Góngora, rühmt und sich auf seine "lyrische Revolution", seine Methode, "Bilder zu erjagen", beruft.
Wer beherrscht die Schaltstellen in der Theorie der modernen Lyrik? Die Väter des Symbolismus und des absoluten Gedichts Baudelaire und Mallarmé, Filippo Tommaso Marinetti mit seinem "Technischen Manifest der Futuristischen Literatur", Wladimir W. Majakowski mit Anmerkungen zum "technischen Aspekt der poetischen Arbeit", Tristan Tzara mit seinem Vortrag auf dem Dadakongreß, André Breton mit seinen Manifesten des Surrealismus (an die in Argentinien Jorge Luis Borges' "Ultraismus" anknüpft). Gottfried Benn mit seiner These von der Lyrik als dem "Laboratorium für Worte", Eugen Gomringer mit seiner Theorie der Konkreten Poesie und Jacques Roubaud mit seinem Beitrag aus der Werkstatt für potentielle Literatur, "Der oulipotische Autor". Die Selbstkommentare des überwiegenden Teils der Autoren bewegen sich zwischen den Festungswällen der Programme. Zum Grenzfall der Theorie überhaupt wird Paul Celans Poetik des Gedichts, das "sich am Rande seiner selbst" behauptet.
Man kann diese Sammlung auch gegen den Strich lesen und die Texte nicht nur an ihrem theoretischen Gewicht, sondern auch an ihrer sprachlichen Eleganz, an einem poetischen Sonderwert der theoretischen Formulierung messen. So bleiben Sätze haften, mit denen Karl Mickel vom Gedicht auf niederer das Gedicht auf "hoher" Ebene unterscheidet: "Hier ist der erste Satz so wichtig wie die Startbahn für das Flugzeug: es erhebt sich dort. Dann aber hat es den Boden verlassen."
Oder Bemerkungen von Lars Gustafsson zu seinem Gedicht: "Die Maschinen": Der symbolische Wert von Maschinen liegt darin, uns an die Möglichkeit zu erinnern, "daß unser eigenes Leben in ähnlichem Sinne etwas Simuliertes sein könne wie das ihrige". Oder Durs Grünbeins Differenzbestimmung: "Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, läßt sich Baudelaires Formel vom Babylonischen Herzen variieren: der neue Schauplatz, leidenschaftsloser und in der kälteren Lust, ist das Babylonische Hirn." Dagegen hat manche schmissige Attacke, wie Rolf Dieter Brinkmanns Polemik gegen "die ausgebufften Kerle", die "sich Lyriker nennen lassen", ihren Biß verloren, seit ihre provokatorische Stoßkraft erschöpft ist.
Die beiden Bände stellen etwa hundertvierzig Autoren vor, und den Herausgebern ist kein Eurozentrismus vorzuwerfen. Nicht nur bis zur Gegenwart ist die Sammlung vervollständigt worden; die Herausgeber haben auch Höllerers Auswahl noch einmal überprüft. So wird Rudolf Borchardt zu Recht "rehabilitiert". Nicht von gleichem Kaliber ist der exilierte, verhältnismäßig spät zur Lyrik gekommene Ludwig Greve, dessen Wendung zur Tradition hinter die Moderne zurückgreift und der dennoch einen Platz in dieser Anthologie verdient. Wenn er, warum aber dann nicht Hilde Domin, deren Leben im Zeichen einer Lebensodyssee steht? Sie hat sich in mehreren Essays auf die Frage "Wozu Lyrik heute?" eingelassen.
Zu allen in diesen beiden Bänden vertretenen Autoren haben die Herausgeber Einleitungstexte geschrieben, die in knapper Diktion über die wichtigsten biographischen Daten und über die Bedeutung der Autoren in der Geschichte der Lyrik und ihrer Theorie informieren. Diese präzisen Texte ergeben, herausgenommen, ein veritables Kleines Lexikon moderner Lyrik. Sie runden eine Anthologie ab, die nun ebenso unentbehrlich sein wird wie der alte "Höllerer".
WALTER HINCK
Walter Höllerer: "Theorie der modernen Lyrik". Neu herausgegeben von Norbert Miller und Harald Hartung. Band I: "Dokumente zur Poetik I". Hrsg. von Norbert Miller in Verbindung mit Thomas Markwart. Band II: "Dokumente zur Poetik II". Hrsg. von Harald Hartung in Verbindung mit Alexander Gumz. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003. Zus. 993 S., geb., 54,- [Euro].
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Walter Höllerers klassische Theorie-Anthologie, neu herausgegeben
Die 1965 in der Reihe "rowohlts deutsche enzyklopädie" erschienene Dokumentensammlung "Theorie der modernen Lyrik" wurde sofort zum Standardwerk, und sie blieb uns über Jahrzehnte hinweg unentbehrlich. Ihr Herausgeber, der kürzlich verstorbene Walter Höllerer, war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein unübertroffener Impresario der Literatur; er gab mit Hans Bender jungen Autoren ein Forum in den "Akzenten" und stieß auf neues Terrain vor mit der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter". Bis zum Anfang der achtziger Jahre wurde auch die Stimme des Lyrikers Höllerer gehört; spröde fiel das Echo auf seinen Roman "Die Elephantenuhr" (1973) aus. Aber dauerhaft wirkte der Gründer des "Literarischen Colloquiums Berlin" als Initiator und Vermittler; sein literaturwissenschaftliches Seminar an der Technischen Universität in Berlin entwickelte sich zur Talentschmiede.
Zwei der Begabtesten, Norbert Miller und Harald Hartung, haben die Sammlung von theoretischen Beiträgen, deren Autorenreihe von Samuel Taylor Coleridge und Edgar Allan Poe bis Dylan Thomas und Tadeusz Rózewicz reicht, nun auf den neuesten Stand gebracht und um einen zweiten Band erweitert, der bis zu Thomas Kling und Durs Grünbein führt. Verantwortlich für den ersten Band ist Miller, für den zweiten Hartung, der auf die Aufgabe bestens vorbereitet war durch seine vielgepriesene Anthologie "Luftfracht. Internationale Poesie 1940-1990" (1991).
Beibehalten bleibt das Prinzip Höllerers, nur Texte von Autoren aufzunehmen, die zugleich als Lyriker hervorgetreten sind, Texte also, die aus dem "Zusammenhang von Produktion und Reflexion" entstanden. So wird der Autor des erfolgreichen wissenschaftlichen Buches "Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart" (1956), der Romanist Hugo Friedrich, nicht einmal mit Namen genannt, und so bleibt auch Theodor W. Adornos fast schon legendäre "Rede über Lyrik und Gesellschaft" unberücksichtigt. Unverändert wieder abgedruckt ist das Nachwort von Walter Höllerer, ein bemerkenswerter Sonderfall seines Genres.
Höllerer stellt hier nicht die Autoren noch einmal vor, versucht sich auch nicht an einer großräumigen historischen Einordnung der theoretischen Ansätze, sondern ermittelt etwas wie eine "Struktur" der modernen Lyriktheorie, und zwar mit Hilfe einer antithetischen, manchmal auch dialektischen Beweisführung. Stichworte solcher Strukturanalyse sind beispielsweise Lyrik als mathematische Musik oder als kinetische Bildkunst, das Maschinengedicht, Laut- und Geräuschnachahmung, Inspiration und Sehertum, das Widerspiel von Beschwörung und Ironie, Mischung von Groteske und Tragik, Schönheit noch in der Deformation zum Bizarren, die Erhebung der Darstellungsmittel zur Substanz des Gedichts. Strikt wendet sich Höllerer gegen eine "Ideologie" des Schweigens, des Verstummens (polemisiert also indirekt auch gegen Paul Celan) und setzt dagegen seine eigenen "Thesen zum langen Gedicht". Sein Einwand gegen Theorie und Kritik überhaupt, daß die entscheidenden Erneuerer des Gedichts die "gegenwärtigen Beurteilungsmöglichkeiten" immer hinter sich lassen, steht auch im Hintergrund eines seiner Kernsätze: "Der kritische Geist der modernen Lyrik, der sich in der Kritik und im Gedicht selbst rein manifestieren kann, stellt die Theorien immer auch in Frage."
Eine systematische Theorie der modernen Lyrik liefern die beiden Bände nicht. Was den Leser erwartet, sind deren Facetten in der Selbstinterpretation der Lyriker. Manchmal verfestigen sich die Selbstkommentare zu den Formeln von Programmen. Manchmal konnte die Auskunftswilligkeit der Autoren erst in Gesprächen oder Interviews flottgemacht werden. Gelegentlich scheint die Bedeutung des Lyrikers, nicht die seiner theoretischen Verlautbarung Kriterium der Aufnahme gewesen zu sein. Nobelpreisträger unter den Lyrikern besitzen ohnehin ein Privileg (T. S. Eliot, Eugenio Montale, Pablo Neruda, Czeslaw Milosz, Octavio Paz, Seamus Heaney, Derek Walcott, Günter Grass). Krasse Fälle einer bloßen Verlegenheitswahl aber sind nicht zu verzeichnen.
In Zweifel gerät man mitunter über die Auslegung des Begriffs "moderne Lyrik". Meint er die Lyrik seit jener ästhetischen Wende, als deren Angelpunkt nach wie vor Baudelaire gilt, oder einfach die Lyrik der neueren Zeit? Natürlich ist die Aufnahme von Léopold Sédar Senghors Anmerkungen zur "Negro-afrikanischen Sprache und Dichtung" vollauf gerechtfertigt, aber diese noch psalmodierende Dichtung hat mit unserer modernen Lyrik wenig zu tun, um so mehr mit der Sprache und Gesang verbindenden antik-mythischen Dichtung.
Zum Problem wird die Datierung des Anfangs "moderner Lyrik". Höllerer stellt an den Beginn Coleridge (1772 bis 1834), weil er als erster Lyriker den Einfluß von Drogen auf die Einbildungskraft beschreibe und damit eine Reihe eröffne, die über Baudelaire bis zu Michaux führe. Miller nimmt in seine Neufassung auch Percy Bysshe Shelley und John Keats mit auf. Beide werden der englischen Romantik zugerechnet. So deutet sich eine Überlagerung der Epochen an. Und fast ohne Grenze ist das Feld der Vorwegnahmen. Bei Baudelaire lesen wir: "Das Concetto ist ein Meisterwerk." Dieses höchst artifizielle Sprachspiel hat aber seine Blüte im Spanien des "goldenen Zeitalters". Und es ist der moderne Lyriker Federico García Lorca, der einen Artisten des Concetto, seinen Landsmann aus dem siebzehnten Jahrhundert Luis de Góngora, rühmt und sich auf seine "lyrische Revolution", seine Methode, "Bilder zu erjagen", beruft.
Wer beherrscht die Schaltstellen in der Theorie der modernen Lyrik? Die Väter des Symbolismus und des absoluten Gedichts Baudelaire und Mallarmé, Filippo Tommaso Marinetti mit seinem "Technischen Manifest der Futuristischen Literatur", Wladimir W. Majakowski mit Anmerkungen zum "technischen Aspekt der poetischen Arbeit", Tristan Tzara mit seinem Vortrag auf dem Dadakongreß, André Breton mit seinen Manifesten des Surrealismus (an die in Argentinien Jorge Luis Borges' "Ultraismus" anknüpft). Gottfried Benn mit seiner These von der Lyrik als dem "Laboratorium für Worte", Eugen Gomringer mit seiner Theorie der Konkreten Poesie und Jacques Roubaud mit seinem Beitrag aus der Werkstatt für potentielle Literatur, "Der oulipotische Autor". Die Selbstkommentare des überwiegenden Teils der Autoren bewegen sich zwischen den Festungswällen der Programme. Zum Grenzfall der Theorie überhaupt wird Paul Celans Poetik des Gedichts, das "sich am Rande seiner selbst" behauptet.
Man kann diese Sammlung auch gegen den Strich lesen und die Texte nicht nur an ihrem theoretischen Gewicht, sondern auch an ihrer sprachlichen Eleganz, an einem poetischen Sonderwert der theoretischen Formulierung messen. So bleiben Sätze haften, mit denen Karl Mickel vom Gedicht auf niederer das Gedicht auf "hoher" Ebene unterscheidet: "Hier ist der erste Satz so wichtig wie die Startbahn für das Flugzeug: es erhebt sich dort. Dann aber hat es den Boden verlassen."
Oder Bemerkungen von Lars Gustafsson zu seinem Gedicht: "Die Maschinen": Der symbolische Wert von Maschinen liegt darin, uns an die Möglichkeit zu erinnern, "daß unser eigenes Leben in ähnlichem Sinne etwas Simuliertes sein könne wie das ihrige". Oder Durs Grünbeins Differenzbestimmung: "Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, läßt sich Baudelaires Formel vom Babylonischen Herzen variieren: der neue Schauplatz, leidenschaftsloser und in der kälteren Lust, ist das Babylonische Hirn." Dagegen hat manche schmissige Attacke, wie Rolf Dieter Brinkmanns Polemik gegen "die ausgebufften Kerle", die "sich Lyriker nennen lassen", ihren Biß verloren, seit ihre provokatorische Stoßkraft erschöpft ist.
Die beiden Bände stellen etwa hundertvierzig Autoren vor, und den Herausgebern ist kein Eurozentrismus vorzuwerfen. Nicht nur bis zur Gegenwart ist die Sammlung vervollständigt worden; die Herausgeber haben auch Höllerers Auswahl noch einmal überprüft. So wird Rudolf Borchardt zu Recht "rehabilitiert". Nicht von gleichem Kaliber ist der exilierte, verhältnismäßig spät zur Lyrik gekommene Ludwig Greve, dessen Wendung zur Tradition hinter die Moderne zurückgreift und der dennoch einen Platz in dieser Anthologie verdient. Wenn er, warum aber dann nicht Hilde Domin, deren Leben im Zeichen einer Lebensodyssee steht? Sie hat sich in mehreren Essays auf die Frage "Wozu Lyrik heute?" eingelassen.
Zu allen in diesen beiden Bänden vertretenen Autoren haben die Herausgeber Einleitungstexte geschrieben, die in knapper Diktion über die wichtigsten biographischen Daten und über die Bedeutung der Autoren in der Geschichte der Lyrik und ihrer Theorie informieren. Diese präzisen Texte ergeben, herausgenommen, ein veritables Kleines Lexikon moderner Lyrik. Sie runden eine Anthologie ab, die nun ebenso unentbehrlich sein wird wie der alte "Höllerer".
WALTER HINCK
Walter Höllerer: "Theorie der modernen Lyrik". Neu herausgegeben von Norbert Miller und Harald Hartung. Band I: "Dokumente zur Poetik I". Hrsg. von Norbert Miller in Verbindung mit Thomas Markwart. Band II: "Dokumente zur Poetik II". Hrsg. von Harald Hartung in Verbindung mit Alexander Gumz. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003. Zus. 993 S., geb., 54,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Genau zwanzig Jahre nach Ende des Krieges erschien bei Rowohlt im Jahr 1965 erstmals Walter Höllerers "Theorie der modernen Lyrik", nach Ralf Berhorst der Versuch wieder Anschluss an den poetologischen Diskurs der Moderne zu finden. Das Besondere an dieser Anthologie war, so Berhorst, dass sie nicht erst bei Baudelaire sondern mit den amerikanischen Dichtern wie Poe und Whitman einsetzte und dass sie ihr theoretisches Gerüst ausschließlich aus Reflexionen und Selbstzeugnissen der Dichter selbst bezog. Sechzig Dichter porträtierte der Band von damals, der mittlerweile ein wissenschaftshistorisches Dokument geworden ist und nun neu aufgelegt wird. Die beiden Herausgeber Norbert Miller und Harald Hartung haben die Ausgabe von 1965 überarbeitet und dankenswerterweise fortgeführt, schreibt Berhorst: 80 neue Einträge beinhalte der zweite Band, der bis in die Gegenwart reiche. Auch Höllerer selbst, im vergangenen Jahr verstorben, hat darin Aufnahme gefunden, stellt der Rezensent befriedigt fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine Anthologie, die nun ebenso unentbehrlich sein wird wie der alte"Höllerer"." Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.03 "Walter Höllerers berühmte "Theorie der modernen Lyrik" setzt immer noch Maßstäbe...Die beiden schweren Bände bieten den besten Weg, der sich denken lässt, sich dem Wesen der Poesie zu nähern." Helmut Böttiger, Die Zeit. 11.12.03